Star Chirurg James White Orbit Hospital #2 ORBIT HOSPITAL ist ein Klinikum im All, das allen raumfahrenden Lebensformen der Galaxis medizinische Hilfe leistet. Es nimmt alle Geschöpfe auf, ob sie ein Dutzend Gliedmaßen haben oder gar keine, ob sie sich von Radioaktivität ernähren oder Wasser atmen — von anderen exotischen Gewohnheiten und Bedürfnissen ganz zu schweigen. Es ist ein ökologisches Tollhaus und ein organisatorischer Irrwitz, aber es ist für alle da und es funktioniert. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes — lebensnotwendig. James White Star Chirurg Orbit Hospital 02 Übersetzung: Wilhelm Heyne HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY. Band 06/4975 Titel der englischen Originalausgabe STAR SURGEON 1993 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München. Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!! 1. Kapitel Weit draußen am Rande der Galaxis, wo es kaum noch Sternsysteme gibt und wo fast absolute Dunkelheit herrscht, befand sich im galaktischen Sektor zwölf das Orbit Hospital. Auf den dreihundertvierundachtzig Ebenen dieser einmaligen Einrichtung konnten die Umweltbedingungen sämtlicher der galaktischen Föderation bekannten Spezies reproduziert werden — ein biologisches Spektrum, das bei den unter extremen Kältebedingungen lebenden Methanarten begann und über die eher normalen Sauerstoff- und Chloratmer bis hin zu den Exoten reichte, die von der direkten Umwandlung harter Strahlung lebten. Die meisten der zigtausend Fenster waren fast durchgehend hell erleuchtet — wobei die Beleuchtung in den verrücktesten Farbkombinationen und unterschiedlichsten Stärken ausfiel, um den jeweiligen Ansprüchen der Sehorgane der extraterrestrischen Patienten und Mitarbeiter gerecht zu werden —, so daß sich den Besatzungen der sich nähernden Raumschiffe von weitem das Bild eines riesigen, zylindrischen Weihnachtsbaums bot. Hinsichtlich seiner technischen Leistungsfähigkeit wie auch seiner psychologischen Betreuung stellte das Orbit Hospital gleich ein doppeltes Wunder dar. Für den Nachschub und die Wartung war in erster Linie das Monitorkorps verantwortlich, das auch administrative und polizeiliche Aufgaben wahrnahm und dem Gesetz der Föderation Geltung verschaffte. Die sonst üblichen Reibereien zwischen militärischen und zivilen Mitarbeitern traten hier allerdings so gut wie nie auf. Genauso selten waren ernsthafte Meinungsverschiedenheiten unter den ungefähr zehntausend Mitarbeitern des medizinischen Personals, das sich aus mehr als sechzig verschiedenen Lebensformen mit ebenso vielen unterschiedlichen Verhaltensweisen, Körpergerüchen und Lebensanschauungen zusammensetzte. Ihr vielleicht einziger gemeinsamer Nenner war das Anliegen aller Ärzte — unabhängig ihrer Größe, Gestalt oder Anzahl der Beine —, nämlich Kranke zu heilen. Das Personal des Orbit Hospitals bestand aus Mitarbeitern, die ihre Arbeit mit viel Engagement erledigten, ohne dabei allerdings von übertriebenem Ehrgeiz besessen zu sein, und die in jeder Hinsicht tolerant gegenüber ihren Mitwesen waren — hätten sie diese Grundvoraussetzungen nicht erfüllt, wären sie erst gar nicht dort gewesen. Sie konnten sich rühmen, daß für sie kein Fall zu groß, zu klein oder zu hoffnungslos war, und ihr Rat und ihre tatkräftige Unterstützung stand bei den medizinischen Kapazitäten der gesamten Galaxis hoch im Kurs. Obwohl sie allesamt Pazifisten waren, führten sie doch einen ständigen und unbarmherzigen Krieg — einen Krieg gegen Krankheit und Leid, egal, wer davon betroffen war, sei es nun ein einzelnes Wesen oder die gesamte Bevölkerung eines Planeten. Es gab aber immer wieder Zeiten, in denen die Diagnose und Behandlung einer erkrankten interstellaren Zivilisation — einschließlich der unnachgiebigen Bekämpfung tiefverwurzelter Vorurteile und schädlicher moralischer Wertvorstellungen — ohne die Zusammenarbeit oder die Einwilligung der Patienten zu einem wirklichen Krieg führen konnte, und das trotz der pazifistischen Grundhaltung der betroffenen Ärzte. * * * Bei dem Patienten, der gerade in den Beobachtungsraum gebracht wurde, handelte es sich um ein ausgesprochen korpulentes Exemplar — etwa ein halbe Tonne Körpergewicht, schätzte Conway —, der einer riesigen, aufrecht stehenden Birne ähnelte. Fünf dicke, tentakelartige Gliedmaßen wuchsen aus dem schmalen Kopfabschnitt heraus, und der stark muskulöse untere Teil wies auf eine schlangenähnliche, wenn auch nicht unbedingt langsame Fortbewegungsmethode hin. Die gesamte Hautoberfläche sah rauh und zerschunden aus, als ob jemand versucht hätte, sie mit einer Drahtbürste abzuschürfen. Conway empfand weder die körperliche Beschaffenheit noch den gesundheitlichen Zustand des Patienten als etwas Besonderes — in den sechs Jahren seiner Tätigkeit im Orbit Hospital hatte er sich an weit merkwürdigere Anblicke gewöhnt —, und so machte er sich ohne großes Aufheben an die Voruntersuchung. Der Lieutenant des Monitorkorps, der den Transport des Patienten bis hierher in den Behandlungsraum begleitet hatte, trat plötzlich ein Stück näher heran. Conway spürte zwar seinen heißen Atem im Nacken, ließ sich dadurch aber nicht ablenken und sah sich den Patienten unbeirrt genauer an. Direkt unter den fünf Tentakelansätzen befand sich jeweils eine große Mundöffnung, vier davon waren üppig mit Zähnen ausgerüstet, und in einer saß der Sprechapparat. Die Tentakel selbst wiesen an ihren Enden auf einen hohen Spezialisierungsgrad hin; drei von ihnen dienten eindeutig als Greifarme, einer enthielt die Sehorgane des Patienten, und der letzte war mit einer harten, knochigen Spitze besetzt, die einer Keule glich. Der Kopf war lediglich eine knöcherne Kuppe ohne besondere Merkmale, in der sich das Gehirn des Wesens befand. Da durch eine erste oberflächliche Untersuchung nicht viel mehr festzustellen war, wollte Conway einige Sonden holen. Er drehte sich um und trat dabei dem Monitor auf den Fuß, der sich vor Schmerzen krümmte. „Haben Sie eigentlich mal darüber nachgedacht, gegenüber der Medizin eine etwas ernsthaftere Haltung einzunehmen, Lieutenant?“ fragte er ihn gereizt. Der Monitor lief puterrot an, wobei sich seine momentane Gesichtsfarbe mit dem Dunkelgrün des Uniformkragens entsetzlich biß. „Dieser Patient ist ein Krimineller, Doktor“, reagierte er etwas unbeholfen. „Alle äußeren Umstände, unter denen er gefunden wurde, deuten darauf hin, daß er die anderen Mitglieder seiner Schiffsbesatzung getötet und gefressen hat. Auf der Reise hierher war er zwar die ganze Zeit bewußtlos, aber mir wurde befohlen, ihn für alle Fälle lieber zu bewachen. Ich werde mir jedoch von nun an alle Mühe geben, Ihnen nicht mehr im Weg zu stehen, Doktor.“ Conway schluckte, und sein Blick richtete sich auf die blutrünstig aussehende, knöcherne Keule, mit der sich nach Conways Überzeugung die Spezies dieses Patienten bis auf den Wipfel ihres evolutionären Stammbaums hochgeprügelt haben mußte. „O je, wenn das so ist, geben Sie sich bloß nicht allzu große Mühe, mir nicht mehr im Weg zu stehen Lieutenant“, merkte er trocken an. Mit Hilfe eines tragbaren Röntgenscanners untersuchte Conway seinen Patienten gewissenhaft von innen wie von außen. Er nahm verschiedene Proben, auch von einigen Stellen der befallenen Haut, und ließ sie zusammen mit drei engbeschriebenen Seiten erläuternder Notizen zur Pathologie bringen. Schließlich betrachtete er den Patienten aus der Ferne und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Als warmblütigen Sauerstoffatmer und in Anbetracht der Tatsache, daß er trotz seines beträchtlichen Körperumfangs ziemlich normale Gravitationsund Druckverhältnisse benötigte, mußte man den Patienten als EPLH einstufen. Er schien an Hautgeschwulsten aus Epithelzellen im fortgeschritten Stadium zu leiden, die sich bereits über den ganzen Körper verbreitet hatten. Die Symptome lagen so offen auf der Hand, daß Conway eigentlich mit der Behandlung hätte beginnen können, ohne auf den Bericht der Pathologie zu warten, doch wurde ein krebsartiger Hautzustand normalerweise nicht von einer tiefen Ohnmacht begleitet. Wie er wußte, konnte dies ein Indiz für psychologische Komplikationen sein, und in diesem Fall würde er einen Spezialisten hinzuziehen müssen. Einer seiner telepathischen Kollegen schien dafür am ehesten in Frage zu kommen, doch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, konnten diese fast nur die Gedanken der Angehörigen ihrer eigenen Spezies lesen. Außer in sehr seltenen Ausnahmefällen hatte sich die Telepathie als ein nur sehr begrenzt einzusetzendes Kommunikationsmittel herausgestellt. Blieb noch sein GLNO-Freund, der Empath Dr. Prilicla… Der Lieutenant räusperte sich dezent hinter Conways Rücken und sagte: „Sobald Sie mit der Untersuchung fertig sind, Doktor, möchte O’Mara Sie sprechen.“ Conway nickte. „Ich werde eine Schwester kommen lassen, die ein Auge auf den Patienten wirft“, entgegnete er und fügte grinsend hinzu: „Und beschützen Sie die betreffende Person bitte genauso aufmerksam wie mich.“ Als er durch die Station ging, wies er diese Aufgabe einer außerordentlich hübschen terrestrischen Schwester zu. Er hätte auch eine der tralthanischen FGLI-Krankenpflegerinnen ins Beobachtungszimmer schicken können, die einer sechsbeinigen Spezies angehörten und so gebaut waren, daß ein irdischer Elefant daneben wie eine grazile Nymphe gewirkt hätte, aber er meinte, dem Lieutenant noch einen Gefallen zu schulden, weil er ihn zuvor ein wenig grob behandelt hatte. Zwanzig Minuten später, nachdem er dreimal den Schutzanzug gewechselt hatte, wobei er erst die Chlorabteilung, dann einen wassergefülten Korridor, der zum Abschnitt der wasseratmenden AUGLs gehörte, und schließlich die extrem kalte Station der Methanatmer durchquert hatte, betrat er das Büro von Major O’Mara. Als Chefpsychologe des Orbit Hospitals, das so viele Spezies beherbergte und einsam und verlassen in der unwirtlichen Dunkelheit am Rande der Galaxis schwebte, war er für das seelische Wohlergehen der mehr als zehntausend Mitarbeiter verantwortlich, die sich aus mehr als sechzig verschiedenen Spezies zusammensetzten. O’Mara war also ein sehr wichtiger Mann. Nach seiner eigenen Auffassung war er der zugänglichste Mensch im Orbit Hospital, der stets ein Ohr für die Sorgen und Nöte der Mitarbeiter hatte. Er behauptete gern von sich, daß es ihm egal sei, wer ihn wann und wo um seinen Rat bat. Wenn jemand allerdings keinen triftigen Grund habe, ihn mit seinen wahrscheinlich sowieso nur lächerlichen Problemen zu belästigen, dann solle derjenige nicht erwarten, ungeschoren davonzukommen. Für O’Mara waren die Mitarbeiter des Hospitals die eigentlichen Patienten, und es herrschte die allgemeine Ansicht, daß das hohe Niveau der psychischen Stabilität innerhalb des bunten Haufens hochsensibler Extraterrestrier allein darauf zurückzuführen war, daß sie schlichtweg zuviel Angst vor O’Mara hatten, um durchzudrehen. Aber heute war der Chefpsychologe in einer geradezu redseligen Stimmung. „Was wir zu besprechen haben, wird länger als fünf Minuten dauern. Deshalb sollten Sie sich lieber setzen, Doktor“, sagte er verdrossen, als Conway vor seinem Schreibtisch stehenblieb. „Ich nehme an, Sie haben sich unseren Kannibalen bereits etwas näher angesehen, stimmt’s?“ Conway nickte. Nachdem er sich gesetzt hatte, umriß er kurz, was er bei dem EPLH-Patienten bislang festgestellt hatte, und erwähnte auch, daß er zusätzliche Komplikationen psychologischer Natur vermutete. „Haben Sie noch mehr Hintergrundinformationen über den Patienten, außer daß er möglicherweise zum Kannibalismus neigt?“ fragte er abschließend den Chefpsychologen. „Viel weiß ich auch nicht“, entgegnete O’Mara. „Er wurde von einer Raumpatrouille des Monitorkorps in einem Schiff gefunden, das, obwohl es unbeschädigt war, Notsignale ausgesandt hatte. Augenscheinlich war der Patient zu krank, um das Schiff bedienen zu können. Zwar gab es auf den ersten Blick keinen weiteren Passagier an Bord, aber da es sich bei dem EPLH um eine neue Spezies handelt, durchkämmte die Rettungsmannschaft das Schiff von oben bis unten. Dabei wurde festgestellt, daß sich wenigstens noch eine zweite Person an Bord hätte befinden müssen. Die Crew kam durch eine Art Logbuch darauf, das von dem EPLH wie ein persönliches Tagebuch auf Band aufgezeichnet worden war. Außerdem gab es in der Luftschleuse und in anderen Schutzeinrichtungen eindeutige Hinweise auf ein zweites Wesen, die uns im Augenblick aber nicht weiterhelfen. Alle Fakten sprechen jedenfalls dafür, daß zwei Wesen an Bord waren, und das Logband weist ziemlich eindeutig darauf hin, daß der andere EPLH in den Armen, oder besser, zwischen den Zähnen Ihres Patienten ein blutiges Ende gefunden hat.“ O’Mara hielt inne und warf Conway einen dünnen Plastikordner in den Schoß. Conway sah, daß es sich dabei um die Abschrift der relevanten Passagen des Logbands handelte, konnte aber nur noch lesen, daß das Opfer ein EPLH-Arzt gewesen sein mußte, da O’Mara mit seinen Erläuterungen bereits fortfuhr. „Über seinen Heimatplaneten wissen wir so gut wie nichts“, sagte er mürrisch, „nur, daß er wahrscheinlich irgendwo in der Großen Magellanschen Wolke liegt. Bedenkt man, daß wir erst ein Viertel unserer eigenen Galaxis erforscht haben, sind unsere Chancen, diesen Planeten ausfindig zu machen, nur sehr gering.“ „Was ist mit den Ianern?“ warf Conway ein. „Vielleicht könnten die uns weiterhelfen.“ Die Ianer gehörten einer Kultur dieser Galaxis an und hatten in der Milchstraße, genauer gesagt im galaktischen Sektor zwölf, in dem sich auch das Orbit Hospital befand, eine Kolonie errichtet. Sie waren ungewöhnliche Wesen — Klassifikation GKNM —, die sich als Jugendliche in ein Larvenstadium begaben und sich in einer wundersamen Metamorphose von einer zehnbeinigen Raupenart zu einer bizarren, geflügelten Lebensform entwickelten. Conway hatte erst vor drei Monaten einen von ihnen als Patienten gehabt. Zwar war der Alien schon lange entlassen worden, aber die beiden GKNM-Ärzte, die Conway eigentlich bei der Behandlung des Patienten hatten behilflich sein wollen, waren im Orbit Hospital geblieben, um hier noch eine Weile zu lernen und zu lehren. „Eine Galaxis ist ein großes Gebilde“, sinnierte O’Mara, wobei ihm offensichtlich jede Begeisterung abhanden gekommen war, „aber Sie können es ja mit den Ianern versuchen. Doch um wieder auf Ihren Patienten zu sprechen zu kommen: Das größte Problem wird erst auf uns zukommen, nachdem Sie ihn geheilt haben. Hören Sie, Doktor“, fuhr er fort, „sämtliche Begleitumstände, unter denen diese seltsame Kreatur aufgefunden wurde, lassen mit ziemlicher Sicherheit darauf schließen, daß dieser Alien eine Tat begangen hat, die von allen uns bekannten intelligenten Lebensformen für ein Verbrechen gehalten wird. Da das Monitorkorps von der Föderation unter anderem auch mit polizeilichen Aufgaben betraut wurde, muß es gewisse Maßnahmen gegen solche Kriminelle einleiten. Man erwartet, daß ein solches Wesen zunächst angeklagt und dann entweder freigesprochen oder angemessen bestraft wird. Aber wie können wir einem Kriminellen einen fairen Prozeß garantieren, wenn wir dessen Vorgeschichte nicht einmal kennen? Eine Vorgeschichte, die zum Beispiel die Möglichkeit mildernder Umstände zur Folge haben könnte. Andererseits ist es uns aber auch nicht möglich, ihn einfach wieder auf freien Fuß setzen.“ „Und warum nicht?“ fragte Conway. „Warum schicken wir ihn nicht einfach dahin zurück, wo er hergekommen ist, und verhängen als symbolische Strafe nur so etwas wie einen Tritt in den Hintern?“ „Und warum lassen wir ihn nicht einfach sterben und ersparen uns so sämtliche Probleme?“ entgegnete O’Mara lächelnd. Conway schwieg. O’Mara hatte einen unfairen Vergleich angestellt, und beide wußten das. Aber sie wußten auch, daß niemand die Vollzugsorgane des Monitorkorps davon würde überzeugen können, der Heilung eines Kranken auf der einen und der Bestrafung eines Übeltäters auf der anderen Seite generell unterschiedliche Bedeutung beizumessen. „Von Ihnen will ich, daß Sie soviel wie möglich über die Verhaltens- und Denkweisen des Patienten herausfinden, die er während der Behandlung an den Tag legt. Da ich Ihre Weichherzigkeit kenne, Conway, nehme ich an, daß Sie sich im Laufe der Behandlung auf die Seite des Patienten schlagen und die Rolle seines inoffiziellen Verteidigers spielen werden. Nun, an sich hab ich nichts dagegen, solange Sie uns dadurch die Informationen liefern, die wir benötigen, um geeignete Geschworene zu finden, die mit ihm möglichst artverwandt sind. Verstanden?“ Conway nickte. O’Mara zählte in Gedanken bis drei, dann sagte er: „Gut, wenn Sie also nichts Besseres vorhaben, als sich hier nur faul in diesem Sessel herumzuflegeln, dann.“ Gleich nachdem er O’Maras Büro verlassen hatte, setzte sich Conway mit der Pathologie in Verbindung und bat darum, ihm den Laborbericht noch vor der Mittagspause zukommen zu lassen. Dann verabredete er sich mit den beiden ianischen GKNMs zum gemeinsamen Mittagessen und arrangierte für den Nachmittag eine Unterredung über den Zustand des Patienten mit Dr. Prilicla. Nachdem er all das erledigt hatte, fühlte er sich freier, seinen Rundgang über die ihm zugeteilten Stationen zu machen. Während der folgenden zwei Stunden blieb ihm keine Zeit, sich über seinen neuen Patienten Gedanken zu machen, denn gegenwärtig hatte er fünfunddreißig Patienten zu betreuen. Sechs unterschiedlich qualifizierte Assistenzärzte und ein gutes Dutzend Schwestern und Pfleger standen ihm dabei zur Seite, wobei sich Patienten und medizinisches Personal aus elf verschiedenen Spezies rekrutierten. Für die Untersuchung der extraterrestrischen Patienten gab es nicht nur Spezialinstrumente und — geräte, es mußten auch besondere Vorkehrungen getroffen werden. Wurde er von einem Alien-Assistenzarzt begleitet, dessen Druck- und Schwerkrafterfordernisse sich sowohl von denen des Patienten als auch von seinen eigenen unterschieden, dann konnte aus einer „routinemäßigen“ Visite eine äußerst komplizierte Angelegenheit werden. Aber Conway sah sich alle seine Patienten persönlich an, selbst die, deren Gesundheitszustand sich merklich gebessert hatte oder die von einem seiner Untergebenen hätten weiterbehandelt werden können. Ihm war völlig klar, daß dieses Vorgehen ziemlich albern war und er sich so nur völlig unnötig Mehrarbeit aufhalste, aber in Wahrheit steckte ihm seine erst kürzlich erfolgte Berufung zum Chefarzt noch zu sehr in den Knochen, um sich bereits daran gewöhnt zu haben, Aufgaben auch im großen Maßstab zu delegieren. Und wie ein unbelehrbarer Idiot hielt er stur daran fest, weiterhin alles selbst zu machen. Nach seinem Rundgang mußte er DBLF-Lernschwestern einen Einführungskurs in Geburtshilfe geben. Die DBLFs waren pelzige, vielbeinige Wesen, die vom Planeten Kelgia stammten und von der äußeren Erscheinung her Raupen ähnelten. Sie atmeten dasselbe atmosphärische Gemisch wie Menschen, also brauchte er sich keinen Schutzanzug anzulegen. Zu dieser rein körperlichen Erleichterung kam die Tatsache, daß er sich auf seinen Vortrag nicht extra vorbereiten mußte. Schließlich ging es nur um die Vermittlung von so elementarem Grundwissen, daß Kelgianerinnen nur einmal im Leben gebaren, und zwar immer Vierlinge, von denen stets zwei männlichen und zwei weiblichen Geschlechts waren. Folglich mußte er sich nicht sonderlich konzentrieren, und in Gedanken war er schon wieder im Beobachtungszimmer bei seinem mutmaßlichen Kannibalen. 2. Kapitel Eine halbe Stunde später saß er mit den beiden ianischen Ärzten im großen Speisesaal der Hauptkantine zusammen, die Tralthanern, Kelgianern, Terrestriern und anderen warmblütigen Sauerstoffatmern vorbehalten war, und aß den obligatorischen Salat. Das allein störte ihn nicht sonderlich, denn Kopfsalat war verglichen mit dem, was er sonst manchmal essen mußte, wenn er gegenüber ET-Kollegen den Gastgeber spielte, regelrecht appetitanregend, aber er glaubte nicht, sich jemals an den sprichwörtlichen Wirbel gewöhnen zu können, den diese GKNMs dabei verursachten. Diese Aliens waren empfindliche, geflügelte Wesen die ein wenig wie Riesenlibellen aussahen. Sie hatten einen langen, stabähnlichen, jedoch flexiblen Körper, der mit jeweils vier insektenartigen Beinen und Greilzangen, den üblichen Sinnesorganen und drei enorm großen Flügelpaaren ausgestattet war. Ihre Tischmanieren waren nicht einmal die schlechtesten — störend war nur, daß sie während des Essens nicht saßen, sondern in der Luft schwebten. Im Flug zu essen schien höchstwahrscheinlich nicht nur ein bedingter Reflex zu sein, sondern sich auch offensichtlich positiv auf ihre Verdauung auszuwirken. Conway legte den Pathologiebericht auf den Tisch und beschwerte ihn mit einem Zuckertopf, damit die Zettel nicht durch den Raum geblasen wurden. „Nach allem, was ich Ihnen vorgelesen hab, scheint es sich um einen einfachen Fall zu handeln. Trotzdem halte ich ihn für ungewöhnlich, da der Körper des Patienten auffällig frei von schädlichen Bakterien ist. Alle Symptome deuten darauf hin, daß einzig und allein eine Epitheliomie für seine Bewußtlosigkeit verantwortlich ist. Aber möglicherweise könnten uns Informationen über seine planetarischen Umweltbedingungen und seine Schlafgewohnheiten und so weiter behilflich sein, und deshalb wollte ich mich mit Ihnen unterhalten. Wir wissen, daß der Patient aus Ihrer Galaxie stammt. Können Sie mir vielleicht irgend etwas über seine Herkunft verraten?“ Der GKNM zu Conways Rechten schwebte ein Stück vom Tisch zurück und sagte über den Translator: „Leider hab ich noch nicht sämtliche Feinheiten Ihres physiologischen Klassifikationssystems begriffen, Doktor. Wie sieht der Patient eigentlich aus?“ „Ach, entschuldigen Sie bitte, das hab ich nicht bedacht“, entgegnete Conway. Er wollte gerade schildern, was ein EPLH war, dann besann er sich eines Besseren und begann damit, auf der Rückseite des Laborberichts eine Zeichnung zu machen. Kurz darauf hielt er das Resultat hoch und sagte: „Ein EPLH sieht ungefähr so aus.“ Beide Ianer sackten daraufhin im freien Fall wie benommen zu Boden. „Also kennen Sie diese Spezies?“ fragte Conway, wobei er seine Verblüffung über die unvermutete Reaktion der beiden GKNMs kaum verbergen konnte, da er zuvor noch nie mitbekommen hatte, daß sie während einer Mahlzeit zu essen oder gar zu fliegen aufgehört hatten. Der GKNM zu seiner Rechten gab zunächst Laute von sich, die Conways Translator als eine Serie von Bellgeräuschen wiedergab, der ianischen Entsprechung eines Stotteranfalls. Schließlich sagte der Alien: „Wir kennen diese Wesen zwar, aber wir haben noch nie eins von ihnen gesehen. Wir wissen auch nicht, von welchem Planeten sie stammen. Und bis zu diesem Augenblick waren wir uns nicht einmal sicher, ob sie auch wirklich physisch existieren. Diese Wesen, diese Wesen sind nämlich Götter, Doktor.“ Schon wieder so ein VIP-Gast! dachte Conway, wobei seine Laune augenblicklich auf den Nullpunkt sank. Nach seiner Erfahrung verliefen Fälle mit solch außergewöhnlichen Patienten nie problemlos. Selbst wenn der Zustand eines solchen Patienten nicht sonderlich ernst zu sein schien, war unweigerlich mit Komplikationen zu rechnen, die allerdings mit dem eigentlichen medizinischen Problem nie etwas zu tun hatten. „Mein Kollege geht da ein wenig zu emotional ran“, meldete sich der andere GKNM zu Wort. Conway hatte zwischen den beiden Ianern bislang keinerlei unterschiedliche äußerliche Merkmale feststellen können, doch diese Libelle schien mit einem gewissen Zynismus ausgestattet zu sein. „Vielleicht sollte ich Ihnen lieber die wenigen Tatsachen, die uns über diese Wesen bekannt sind, berichten, anstatt Ihnen all die Dinge aufzuzählen, die nur auf Mutmaßungen beruhen.“ Wie der ianische Arzt erzählte, war die Spezies, der der Patient angehörte, außerordentlich selten, aber ihr Einflußbereich innerhalb ihrer Galaxis um so beträchtlicher. Auf geistes- und naturwissenschaftlichem Gebiet waren diese Wesen sehr weit fortgeschritten, und jedes von ihnen verfügte über eine ungeheure Intelligenz. Aus Gründen, die sie nur selbst kannten, suchten sie die Gesellschaft von Artgenossen nur höchst selten. So hatte man immer nur davon gehört, daß stets nur eins dieser Wesen auf irgendeinem Planeten für längere Zeit angetroffen worden war. Auf den Planeten, die sie eroberten, übernahmen sie stets die Führungsrolle. Mal gingen sie dabei wohltätig, ein anderes Mal brutal vor, wobei sich diese vermeintliche Brutalität im Laufe der Jahrzehnte oder Jahrhunderte jedoch gewöhnlich als eine getarnte Wohltätigkeit entpuppte. Sie benutzten Individuen, ganze planetarische Bevölkerungen und sogar interplanetarische Kulturen lediglich als Mittel zur Lösung der Probleme, die diese sich selbst geschaffen hatten. Und sobald diese Schwierigkeiten gelöst waren, verschwanden sie wieder. Jedenfalls sei dies der Eindruck von nicht ganz unvoreingenommenen Beobachtern. Der Ianer fuhr mit ausdrucksloser Translatorstimme fort: „Es gibt übereinstimmende Berichte, nach denen immer nur einer von ihnen mit seinem Schiff und mit einem Begleiter, der stets einer anderen Spezies angehört, auf einem Planeten landet. Durch eine Kombination aus Verteidigungstechnik, Psychologie und reinem Geschäftssinn überwinden sie die dort herrschenden Vorurteile und häufen Macht und Reichtum an. Dabei erfolgt der Übergang von einem lokal begrenzten Machteinfluß bis zur absoluten Herrschaft über den gesamten Planeten nur allmählich. Aber schließlich haben diese Wesen ja Zeit, denn sie sind unsterblich.“ Wie durch einen Schleier hörte Conway seine Gabel zu Boden fallen, und es dauerte ein paar Minuten, bis er sich körperlich wie seelisch wieder gefangen hatte. Zwar gab es in der galaktischen Föderation einige Spezies — zu denen auch die Menschen gehörten —, deren fortgeschrittene medizinische Wissenschaft zu einer beträchtlich höheren Lebenserwartung geführt hatte, und das in erster Linie durch die Anwendung von Verjüngungskuren, von Unsterblichkeit aber hatte man noch nie etwas gehört. Jedenfalls nicht bis zu diesem Zeitpunkt. Doch jetzt hatte Conway einen unsterblichen Patienten in seiner Obhut, den er heilen und vor allem untersuchen mußte, es sei denn. Aber der GKNM war ein Arzt, und ein Arzt würde niemals von Unsterblichkeit reden, wenn er lediglich eine hohe Lebenserwartung meinte. „Sind Sie sich auch wirklich ganz sicher?“ hakte Conway schließlich mit fast krächzender Stimme nach. Die Antwort des Ianers erforderte einige Zeit, denn sie enthielt etliche bis ins letzte Detail gehende Tatsachen, aber auch Theorien und Legenden, die sich nun einmal um solche Wesen rankten, wenn sie als Individuen angeblich einen ganzen Planeten zu beherrschen vermochten. Zum Schluß war Conway noch immer nicht gänzlich davon überzeugt, daß sein Patient unsterblich war, doch schien nun alles, was er gehört hatte, darauf hinzuweisen. Nur zögernd sagte er: „Nach allem, was ich eben gehört hab, sollte ich die Frage vielleicht lieber nicht stellen. Aber sind diese Wesen Ihrer Meinung nach in der Lage, einen Mord oder vielleicht gar Kannibalismus zu begehen?“ „Nein!“ wandte einer der Ianer ein. „Niemals!“ bekräftigte der andere. Natürlich klangen die Antworten über den Translator ausdruckslos, aber allein die Lautstärke, mit der sie übertragen wurden, ließ alle anderen in der Kantine erschrocken aufblicken. Einige Minuten später war Conway wieder allein. Die Ianer hatten um Erlaubnis gebeten, sich den legendären EPLH einmal ansehen zu dürfen, und waren gleich darauf voller Ehrfurcht, angsterfüllt und neugierig zugleich davongeschwirrt. Conway empfand Ianer als angenehme Wesen, obgleich er der festen Überzeugung war, daß Salat nur etwas für Kaninchen war. Mit einer übertriebenen Gebärde schob er seinen kaum angerührten Rohkostteller angeekelt beiseite und bestellte sich ein großes Steak mit doppelter Beilage. Allem Anschein nach sollte dies ein langer und harter Arbeitstag werden. Die beiden Ianer waren bereits wieder verschwunden, als er ins Beobachtungszimmer zurückkehrte, und der Zustand des Patienten hatte sich nicht verändert. Der Lieutenant beschützte noch immer die diensthabende Schwester — wobei er ihr anscheinend keinen Zentimeter von der Seite gewichen war —, und aus irgendeinem Grund errötete er. Conway nickte mit nachdenklicher Miene und entließ die Krankenschwester. Als er gerade den Bericht der Pathologie ein zweites Mal durchlas, kam Dr. Prilicla herein. Prilicla war ein spinnenartiges, unglaublich zerbrechlich wirkendes Wesen. Die Gravitation auf seinem Heimatplaneten Cinruss betrug nicht einmal ein Zwölftel der Erdanziehungskraft, und um die überschüssige Anziehungskraft zu neutralisieren, hatte der GLNO einen Gravitationsgürtel angelegt, weil er sonst am Boden regelrecht zermalmt worden wäre. Neben der Tatsache, ein sehr fähiger Arzt zu sein, war er die beliebteste Persönlichkeit im Hospital, zumal seine empathischen Fähigkeiten es dem kleinen Wesen fast unmöglich machten, irgend jemandem böse zu sein. Prilicla besaß ein Paar großer, nicht ganz verkümmerter Flügel, und obwohl er mit deren Hilfe während der Mahlzeiten zwar ähnlich wie die Ianer über dem Teller zu schweben pflegte, mochte Conway dieses obskure Wesen doch sehr, zumal er seine Spaghetti immerhin mit einer Gabel aß. Er beschrieb Prilicla in kurzen Worten den gegenwärtigen Zustand des EPLH und was ihm sonst noch über ihn bekannt war und schloß: „… ich weiß zwar, daß Sie von einem bewußtlosen Patienten nicht viel herausbekommen können, aber schon die geringsten Informationen könnten mir sehr dienlich sein.“ „Es scheint sich hierbei um ein Mißverständnis zu handeln, Doktor“, unterbrach ihn Prilicla, wobei seine sorgsame Wortwahl darauf schließen ließ, daß er Conway eigentlich sagen wollte, er irre sich gewaltig. „Der Patient ist nämlich bei Bewußtsein.“ „Um Himmels willen! Dann gehen Sie sofort zurück!“ Sowohl durch Conways emotionale Ausstrahlung als auch durch dessen eindringliche Warnung alarmiert, wich Prilicla augenblicklich außer Reichweite zurück; die knöcherne Keule des Patienten hätte seinen empfindlichen Körper mit einem einzigen Hieb schlichtweg zertrümmern können. Der Lieutenant hingegen trat einen Schritt vor, sein Blick haftete auf dem noch immer regungslosen Tentakel, der wie ein gewaltiger Schlagstock aussah. Einen Augenblick lang herrschte Totenstille, und niemand rührte sich vom Fleck; alle starrten nur wie gebannt auf den nach außen hin bewußtlos wirkenden Patienten. Schließlich blickte Conway Prilicla fragend an; er mußte ihm erst gar nichts sagen. „Ich nehme emotionale Ausstrahlungen wahr, die nur von einem Verstand herrühren können, der sich seiner selbst bewußt ist. Die Gehirnströme selbst sind relativ träge und in Anbetracht der körperlichen Größe des Patienten recht schwach. Im einzelnen strahlt er Gefühle der Angst, Hilflosigkeit und Verwirrung aus; trotzdem gibt es auch Hinweise auf eine gewisse Entschlußkraft.“ Conway seufzte. „Also simuliert er nur“, murmelte der Lieutenant grimmig vor sich hin. Der Umstand, daß der Patient die Bewußtlosigkeit nur vortäuschte, scherte Conway weniger als den Monitor. Trotz der vielen ihm zur Verfügung stehenden Diagnosegeräte war er der festen Überzeugung, daß bei der Bekämpfung einer Krankheit und für eine erfolgreiche Behandlung ein gesprächsbereiter und mitarbeitender Patient die beste Hilfe für einen Arzt war. Aber wie sollte man ein Gespräch mit einem Wesen beginnen, das fast eine Gottheit war.? „Wir. wir wollen Ihnen helfen“, stammelte er verlegen. „Verstehen Sie, was ich sage?“ Wie zuvor blieb der Patient vollkommen regungslos. „Es gibt keinerlei Anzeichen, daß er Sie hören kann“, bemerkte Prilicla. „Aber wenn er bei Bewußtsein ist, dann.“, begann Conway, unterbrach den Satz aber mit einem hilflosen Achselzucken. Er bereitete wieder seine Instrumente vor. Diesmal untersuchte er den EPLH aber mit Priliclas Unterstützung, wobei seine besondere Aufmerksamkeit den Seh- und Hörorganen galt. Während der Untersuchung gab es jedoch trotz des grellen Lichts und des häufigen Einsatzes verschiedenster Sonden keinerlei physische oder emotionale Reaktionen seitens des Patienten. Bei keinem der Sinnesorgane konnte Conway irgendwelche Fehlfunktionen feststellen, und dennoch schien der EPLH auf sämtliche äußere Reize in keiner Weise zu reagieren. Körperlich schien er bewußtlos zu sein und nichts von dem mitzubekommen, was um ihn herum geschah — Prilicla aber behauptete das Gegenteil. Was für ein verrückter Halbgott! Ein total verdrehter Typ! fluchte Conway in Gedanken. Es war typisch O’Mara, stets ihm die schrägsten Vögel im Hospital anzuvertrauen. Laut sagte er: „Die einzige Erklärung, die ich für diese merkwürdige Geschichte hab, ist die, daß die von Ihnen empfangenen geistigen Strahlungen von einem Gehirn stammen, dessen Kontakt zu sämtlichen sensorischen Organen abgeschnitten oder blockiert ist. Ursache dafür ist aber nicht der körperliche Zustand des Patienten, folglich muß es sich um ein psychologisches Problem handeln. Ich würde meinen, das Wesen bedarf dringend psychiatrischen Beistands. Trotzdem sollten wir uns zunächst darauf konzentrieren, die erkrankten Hautstellen zu behandeln“, fuhr er nach einer kurzen Denkpause fort, „zumal unsere Seelenklempner mit einem körperlich gesunden Patienten sehr viel mehr anfangen können als mit einem erkrankten.“ Im Orbit Hospital war längst ein Mittel gegen die Form von Epitheliomie entwickelt worden, an der der Patient erkrankt war, und die Pathologie hatte bereits verlauten lassen, es sei auch für den Metabolismus des EPLH geeignet und habe bei vorschriftsmäßiger Anwendung keine schädlichen Nebenwirkungen. Conway brauchte nur wenige Minuten, um eine erste Testdosis abzumessen und subkutan zu injizieren. Prilicla begab sich rasch an seine Seite, um den Patienten besser sehen zu können. Wie beide wußten, handelte es sich hierbei um eines der seltenen „Wundermittel“, dessen Wirkung innerhalb weniger Sekunden eintrat. Aber nach zehn Minuten war noch immer nichts zu sehen. „Ganz schön zäher Bursche“, murmelte Conway und injizierte daraufhin die maximal zulässige Dosis. Fast im selben Augenblick nahm die betroffene Hautstelle eine dunkle Färbung an und verlor ihr trockenes, brüchiges Aussehen. Die dunkle Stelle breitete sich zusehends aus, und einer der Tentakel zuckte leicht. „Was sagt sein Verstand?“ fragte Conway. „Fast genau dasselbe wie vorher“, antwortete Prilicla, „allerdings kann ich seit der letzten Injektion zunehmende Besorgnis bei dem Patienten feststellen, und er strahlt Gefühle aus, als fasse er irgendeinen Entschluß. irgendeinen Entschluß.“ Prilicla begann heftig zu zittern; ein eindeutiges Indiz dafür, daß die emotionale Ausstrahlung des Patienten stärker geworden war. Conway setzte gerade zu einer Frage an, als ein scharfes, reißendes Geräusch seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf den Patienten lenkte. Der EPLH zerrte und riß an den Gurten, mit denen seine Tentakel an den OP-Tisch gefesselt worden waren. Zwei Riemen waren bereits aus ihren Verankerungen gerissen worden, und der EPLH hatte jetzt einen Tentakel völlig frei — und zwar ausgerechnet den mit der Keule. Conway konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, denn die Keule — das „Nonplusultra“ aller stumpfen Waffen — hätte ihm fast den Kopf abgeschlagen, verfehlte ihn aber um Haaresbreite. Der Lieutenant hatte allerdings weniger Glück: Der knöcherne Streitkolben krachte am Ende der ausholenden Bewegung mit aller Gewalt gegen seine Schulter und schleuderte ihn mit solcher Wucht quer durch den Raum, daß er von der gegenüberliegenden Wand fast wieder ins Zimmer zurückprallte. Prilicla, dessen angeborene Feigheit lebensnotwendig war, haftete bereits dank seiner mit Saugnäpfen versehenen Füße an der Decke, dem einzig sicheren Zufluchtsort im ganzen Raum. Conway lag flach auf dem Boden und hörte nur, wie weitere Riemen zerrissen wurden. Dann sah er, daß ein zweiter und ein dritter Tentakel umherzutasten begannen. Er wußte, daß sich der Patient binnen weniger Minuten völlig befreit haben würde und sich dann nach Belieben im Raum bewegen könnte. Sofort robbte er ein Stück näher an den OP-Tisch heran, ging in die Hocke und sprang mit einem gewaltigen Satz auf den mittlerweile wild um sich schlagenden EPLH zu. Es gelang ihm, den Körper des Patienten direkt unterhalb der Tentakel fest zu umfassen, wobei er von den bellenden Geräuschen des EPLH fast taub wurde, denn sein Kopf lag direkt neben dessen Sprechöffnung. Das Bellen wurde als „Helft mir! Helft mir!“ übersetzt. Gleichzeitig sah Conway die Tentakelkeule krachend nach unten fahren — dort, wo er nur wenige Sekunden zuvor noch gelegen hatte, hinterließ der mächtige Schlag ein etwa fünf Zentimeter tiefes Loch im Boden. Den Patienten auf diese Weise anzugreifen mochte auf den ersten Blick tollkühn erscheinen, aber Conway hatte seine Entscheidung durchaus überlegt getroffen, denn nur indem er sich unterhalb der wild um sich schlagenden Tentakel festklammerte, befand er sich außerhalb deren Reichweite, und somit war dieser unwirtliche Platz für ihn die sicherste Stelle im Raum. Dann sah der den Lieutenant. Halb liegend, halb sitzend kauerte der Lieutenant mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden. Sein linker Arm baumelte kraftlos herab. In der rechten Hand hielt er eine Pistole, die er zwischen den Knien stabilisierte. Während er am Lauf entlang mit dem einen Auge das Ziel ins Visier nahm, war das andere heimtückisch zusammengepreßt. Conway forderte den Monitor verzweifelt auf, noch nicht zu schießen, aber sein lautes Flehen ging in dem vom Patienten verursachten Lärm völlig unter. Jeden Augenblick erwartete er das Knallen der Schüsse und das Einschlagen der Kugeln. Er war vor Angst wie gelähmt und konnte sich nicht einmal loslassen. Dann war plötzlich alles vorbei. Der Patient fiel auf die Seite, zuckte zusammen und blieb regungslos liegen. Der Lieutenant steckte seine unbenutzte Pistole wieder ins Halfter und rappelte sich hoch. Conway befreite sich von dem Patienten, und Prilicla krabbelte wieder von der Decke herunter. „Mhm, ich nehme an, Sie wollten nicht schießen, solange ich noch an dem Patienten hing, stimmt’s, Lieutenant?“ Der Monitor schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin eigentlich ein guter Schütze, Doktor, und hätte ihn auch treffen können, ohne Sie zu gefährden. Aber er schrie die ganze Zeit „Helft mir! Helft mir“, und so etwas geht einem ganz schön unter die Haut.“ 3. Kapitel Der Lieutenant war zur umgehenden Behandlung seines gebrochenen Oberarmknochens fortgeschickt worden, und etwa zwanzig Minuten später, als Conway und Prilicla den EPLH-Patienten mit weit stärkeren Riemen als zuvor am OP-Tisch festbanden, bemerkten die beiden, daß die dunkle, scheinbar geheilte Hautpartie wieder genauso spröde und brüchig war wie vor der Behandlung. Offensichtlich hatte die Spritze, die Conway dem Patienten verabreicht hatte, trotz der starken Dosis nur eine vorübergehende Wirkung gehabt, was äußerst ungewöhnlich, ja eigentlich unmöglich war. Seit Prilicla hinzugezogen worden war und sich der Fall dank seiner empathischen Fähigkeit nun in einem völlig neuen Licht darstellte, war Conway der festen Überzeugung, daß die Ursache der Krankheit ein psychologisches Problem sein mußte. Außerdem wußte er, daß ein stark verwirrter Geisteszustand einem Körper enormen Schaden zufügen konnte. Aber dieser Schaden hier war rein physischer Natur, und daß die Behandlungsmethode — deren nachhaltige Wirksamkeit von der Pathologie immer wieder nachgewiesen worden war — normalerweise anschlug, war eine ebenso unumstößliche Tatsache. Und unabhängig von der Schwere einer Krankheit dürfte sich kein Wesen einer physikalischen Realität entziehen können, denn letztendlich unterlag im Universum alles gewissen unveränderlichen Naturgesetzen. Soweit Conway die Lage einschätzen konnte, gab es dafür nur zwei Erklärungen: Entweder wurden diese Naturgesetze von dem Patienten bewußt ignoriert — weil es sich wirklich um ein göttliches Wesen handelte, das diese Gesetze selbst geschaffen hatte und somit auch unterlaufen konnte —, oder jemand — oder irgendeine merkwürdige Kombination aus Zufällen und Fehlinformationen — spielte ihnen einen Streich. Conway zog die zweite Möglichkeit der ersten bei weitem vor, da ihm die erste zu abstrus erschien, um sie ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Innerlich weigerte er sich einfach, in dem Patienten etwas anderes als einen normalen, wenn auch etwas exotischen Extraterrestrier zu sehen. Nichtsdestoweniger suchte Conway gleich darauf das Büro von Captain Bryson auf, dem Kaplan des Monitorkorps, und fragte den Geistlichen eine ganze Weile nach vornehmlich praktischen Erfahrungen in bezug auf Gotteserscheinungen aus — Conway war nun mal ein Mensch, der sich möglichst stets nach allen Seiten absichern wollte. Sein nächster Besuch galt Colonel Skempton, dem Leiter der Ingenieursdivision, die in erster Linie für das Nachschub- und Nachrichtenwesen und die Wartung des Orbit Hospitals verantwortlich war. Dort forderte er, zusammen mit sämtlichen zur Verfügung stehenden Hintergrundinformationen, eine vollständige Abschrift des Bordbuchs an, das der Patient geführt hatte — also nicht nur die für den Mord relevanten Passagen. Dann begab er sich in den AUGL-OP, wo er vor Medizinstudenten verschiedene Operationstechniken an unter Wasser lebenden ETs demonstrierte. Vor dem Mittagessen konnte er schließlich noch zwei Stunden in der Pathologie verbringen, während der er einiges über die Unsterblichkeit seines Patienten herausfand. Als er in sein Zimmer zurückkehrte, lag ein dicker Papierstapel auf seinem Schreibtisch. Mit Entsetzen dachte er daran, wie er seine sechsstündige Freizeit würde verbringen müssen, zumal er etwas ganz anderes geplant hatte. Vor ihm tauchte das deutliche Bild der sehr tüchtigen und außergewöhnlich hübschen Schwester Murchison auf, mit der er sich in letzter Zeit regelmäßig traf. Aber die Schwester war derzeit in der FGLI-Entbindungsstation stark eingespannt, und sie würden erst wieder in zwei Wochen eine Freizeit miteinander verbringen können. Unter den gegenwärtigen Umständen war das vielleicht sogar ganz in Ordnung so, dachte Conway, und er begann, sich in die Unterlagen einzuarbeiten, die ihm von Skempton geschickt worden waren. Den Monitoren, die das Schiff des Patienten untersucht hatten, war es zwar nicht gelungen, die EPLH-Zeiteinheiten exakt in terrestrische Werte umzurechnen, aber mit ziemlicher Bestimmtheit hatten sie feststellen können, daß viele der auf Band aufgenommenen Logbuchaufzeichnungen etliche Jahrhunderte alt sein mußten und einige sogar schon zweitausend Jahre und mehr. Conway begann mit der ältesten Aufzeichnung und arbeitete sich sorgfältig bis zur jüngsten vor. Von Anfang an hatte er feststellen können, daß es sich dabei weniger um ein Tagebuch mit persönlichen Eintragungen handelte, da subjektive Anmerkungen relativ selten vorkamen, als vielmehr um eine Art Ansammlung von Notizen, von denen viele schwer verständliche technische Angaben enthielten. Die für den Mord relevanten Aufzeichnungen, die er als letztes unter die Lupe nahm, waren da schon sehr viel aufschlußreicher. mein Arzt macht mich krank, er tötet mich regelrecht, lautete der letzte Eintrag. Ich muß etwas dagegen unternehmen. Wenn er zuläßt, daß ich krank werde, ist er ein schlechter Arzt. Ich muß ihn irgendwie loswerden… Mit einem Seufzen legte Conway das letzte Blatt auf den Stapel zurück und nahm eine bequemere Position ein, um besser nachdenken zu können. Dazu legte er die Füße auf den Schreibtisch, kippte seinen Sessel ein ganzes Stück zurück und rutschte so weit nach unten, bis er praktisch auf seinem Nacken saß. Was für ein unglaubliches Durcheinander! fluchte er im stillen. Die Einzelteile des Puzzles hatte er jetzt allerdings beisammen — jedenfalls die meisten —, und sie mußten nur noch richtig zusammengesetzt werden. Da war zunächst der Krankheitszustand des Patienten, für das Hospital ein Routinefall, aber eindeutig lebensbedrohlich, wenn keine Behandlung eingeleitet wurde. Dann gab es die Angaben der beiden Ianer, die sich auf diese gottähnlichen und machthungrigen, aber in erster Linie wohltätigen Wesen bezogen und auch auf deren Begleiter, die ausnahmslos einer anderen Spezies angehörten und stets mit ihnen gemeinsam reisten und lebten. Diese Weggefährten mußten allerdings immer wieder ersetzt werden, da sie im Gegensatz zu den EPLHs alterten und starben. Außerdem gab es noch die beiden Berichte aus der Pathologie — nämlich zum einen die Abschrift, die er noch vor dem Mittagessen erhalten hatte, und zum anderen den mündlichen Bericht, den ihm Thornnastor, der FGLI–Chefdiagnostiker der Pathologie, während eines zweistündigen Gesprächs erstattet hatte. Thornnastor war der festen Überzeugung, der EPLH sei nicht wirklich unsterblich — und wenn ein Diagnostiker erst einmal von etwas fest überzeugt war, kam das in der Realität einer felsenfesten Gewißheit sehr nahe. Während eine Unsterblichkeit aus verschiedenen physiologischen Gründen heraus ausgeschlossen werden konnte, hatten die Testergebnisse allerdings immerhin bewiesen, daß der Patient über ein sehr langes Leben verfügen mußte oder sich hin und wieder Verjüngungskuren unterzogen hatte. Schließlich gab es noch Priliclas Aussagen über den emotionalen Zustand des Patienten, und zwar vor und während der Behandlungsversuche der erkrankten Hautpartien. Laut Prilicla hatte der Patient dabei die ganze Zeit Gefühle der Verwirrung, Angst und Hilflosigkeit ausgestrahlt. Nach Erhalt der zweiten Injektion hatte der EPLH jedoch wild um sich geschlagen, und nach Priliclas eigenen Worten hätte er aufgrund des vehementen Gefühlsausbruchs des Patienten fast selbst einen Gehirnschlag erlitten. Jedenfalls war es ihm unmöglich gewesen, einen solch gewaltigen Gefühlsausbruch zu analysieren, zumal er sich innerlich auf die zuvor ruhigere emotionale Ausstrahlung des Patienten eingestellt hatte. Doch immerhin stimmte er mit Conways Meinung überein, daß die Umstände auf ein höchst schizoides Verhalten des EPLH schließen ließen. Conway sank noch tiefer in seinen Sessel zurück, schloß die Augen und ließ die Einzelteile des Puzzles in Gedanken langsam zusammenwachsen. Alles hatte seinen Anfang auf dem Planeten genommen, auf dem sich der EPLH zur dominanten Lebensform entwickelt hatte. Im Laufe der Zeit waren diese Wesen zu einer Zivilisation herangereift, die es bis zu interstellaren Raumflügen und zu einer hochentwickelten medizinischen Wissenschaft gebracht hatte. Ihre von Natur aus hohe Lebenserwartung war zudem künstlich verlängert worden, so daß man es einer relativ kurzlebigen Spezies wie den Ianern nicht verübeln konnte, die EPLHs für unsterblich zu halten. Für ihre hohe Lebenserwartung hatten diese Wesen allerdings einen ebenso hohen Preis zahlen müssen: Die Erhaltung der eigenen Art — das natürliche Streben nach Unsterblichkeit aller sterblichen Wesen also — war als erstes eingestellt worden. Dann hatte sich ihre Gesellschaft — fast gezwungenermaßen — in eine Unzahl raumreisender Einzelwesen aufgelöst, was schließlich zu einem seelischen Verfall führte, zumal das Risiko des rein körperlichen Verfalls praktisch nicht mehr existierte. Was für bedauernswerte Halbgötter, dachte Conway. Sie vermieden die Gesellschaft ihrer Artgenossen aus dem einfachen Grund, weil sie sich gegenseitig satt hatten — jahrhundertelang das Gehabe der anderen, deren Sprache und Meinungen und zudem fortwährend deren Anblick ertragen zu müssen, schien unendlich langweilig zu sein. Weil sie fortwährend gegen diese Langweile anzukämpfen hatten, und weil sie über ein enormes Wissen und unendlich viel Zeit verfügten, hatten sie sich die Lösung schwerwiegender gesellschaftlicher Probleme anderer Spezies zur Aufgabe gemacht. Dabei kümmerten sie sich als grundsätzlich friedfertige Wesen in erster Linie um rückständige oder auf Abwege geratene planetarische Zivilisationen, bis diese aus eigener Kraft in der Lage waren, eine ähnlich hochstehende Kultur wie die ihre zu erreichen. Da ihre enorm hohe Lebenserwartung ihnen zudem eine immer größer werdende Furcht vor dem Tode einflößen mußte, wurden sie stets von einem Leibarzt begleitet, der ihren zweifellos sehr hohen medizinischen Ansprüchen genügen mußte. Nur ein Teil des Puzzles schien nicht passen zu wollen — nämlich die merkwürdige Art, in der sich der EPLH gegen die Behandlungsversuche gewehrt hatte. Doch war Conway davon überzeugt, es müsse sich hierbei um ein rein psychologisches Problem handeln, das sich auch bald klären ließe. Entscheidend war nur, daß er jetzt wußte, wie er von nun an vorzugehen hatte. Entgegen Thornnastors Behauptungen sprach eben doch nicht jeder Patient auf eine medikamentöse Behandlung an, und Conway hätte sofort einen operativen Eingriff durchgeführt, wenn die ganze Geschichte nicht zu so abwegigen Überlegungen geführt hätte, wer oder was der Patient eigentlich war und welche Tat man ihm überhaupt vorwarf. Der Umstand, daß der EPLH ein Halbgott und ein Mörder sein sollte oder ganz generell jemand, mit dem es nicht zu spaßen galt, waren unwichtige Begleitumstände, die ihn eigentlich nichts angingen. Seufzend schwang er die Beine vom Schreibtisch; er hatte sich in dieser bequemen Lage allmählich zu wohl gefühlt und beschloß, lieber ins Bett zu gehen, denn fast wäre er im Sessel eingeschlafen. Am nächsten Morgen bereitete Conway gleich nach dem Frühstück alles für die Operation des EPLH vor. Dazu forderte er die notwendigen Instrumente und Geräte an und erteilte die strikte Anweisung, daß der Beobachtungsraum völlig steril gehalten werden müsse — immerhin wurde dem Patienten unterstellt, bereits einen Arzt wegen mangelnder Sorgfaltspflicht getötet zu haben, und der EPLH würde bestimmt alles andere als begeistert sein, wenn er sich durch nachlässige Hygienemaßnahmen eines anderen Arztes eine Infektion zugezogen hätte. Zudem bat Conway einen tralthanischen Arzt, ihm bei den mikrochirurgischen Feinarbeiten zu assistieren, und suchte schließlich eine halbe Stunde vor Beginn der Operation O’Mara auf. Der Chefpsychologe hörte sich zunächst kommentarlos an, was Conway zu berichten hatte, und auch das, was dieser zu planen gedachte. „Wissen Sie eigentlich, was es für unser Hospital heißen kann, wenn dieser Kannibale hier frei herumläuft, Conway?“ fragte er schließlich besorgt. „Und das meine ich nicht nur im rein physischen Sinn. Nach Ihrer Darstellung ist der Patient psychisch stark gestört, wenn nicht sogar regelrecht psychotisch. Im Augenblick ist er bewußtlos, aber Ihren Worten nach müßte er über ein solch enormes psychologisches Wissen verfügen, daß er uns dazu bringen könnte, ihm aus der Hand, oder besser, aus den Tentakeln zu fressen. Am meisten beschäftigt mich die Frage, was passiert, sobald er aufwacht.“ Es war das erstemal, daß O’Mara vor Conway zugab, besorgt zu sein. Allerdings soll er vor einigen Jahren, als ein außer Kontrolle geratenes Raumschiff mit dem Hospital kollidiert war, wobei es sechzehn Stockwerke in Mitleidenschaft gezogen hatte, vor anderen Mitarbeitern des Orbit Hospitals eine ähnliche Besorgnis ausgedrückt haben. „Darüber denke ich lieber erst gar nicht nach. Das lenkt vom aktuellen Problem nur noch mehr ab“, bemerkte Conway etwas kleinlaut. O’Mara atmete tief ein und schnaubte die angestaute Luft langsam durch die Nase wieder aus — eine Marotte von ihm, mit der er seinem Gegenüber mehr klarmachen konnte, als mit jeder noch so vernichtenden verbalen Standpauke. „Irgend jemand sollte sich aber darüber Gedanken machen, Doktor. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden, wenn ich bei der bevorstehenden Operation zuschaue, oder?“ Auf diesen in höfliche Worte gefaßten Befehl blieb Conway nichts anderes übrig, als ebenso höflich zu antworten: „Es wäre mir sogar eine große Ehre, Sir.“ Als sie im Beobachtungsraum eintrafen, war das „Bett“ des Patienten, den man mit dicken Riemen überall fest angeschnallt hatte, bereits auf eine bequeme Operationshöhe eingestellt worden. Der Tralthaner hatte seinen Platz neben den Überwachungs- und Anästhesiegeräten eingenommen und beobachtete mit einem Auge den Patienten und mit einem anderen die Anzeigeinstrumente. Die beiden restlichen Augen waren auf Prilicla gerichtet, mit dem er sich genüßlich über die schlüpfrigen Einzelheiten eines besonders gepfefferten Skandals unterhielt, der erst tags zuvor ans Licht gekommen war. Da es sich bei den beiden Betroffenen um PVSJ-Chloratmer handelte, hätte diese Affäre für sie eigentlich nur von rein akademischem Interesse sein können, aber offensichtlich war dieses akademische Interesse sehr ausgeprägt. Beim Anblick von O’Mara stellten sie ihren Klatsch allerdings umgehend ein, und Conway gab das Zeichen, mit der Narkose zu beginnen. Die Pathologie hatte das Anästhetikum als unbedenklich für die EPLH-Spezies bezeichnet, und während es verabreicht wurde, beschäftigten sich Conways Gedanken kurz mit seinem tralthanischen Assistenten. Ein tralthanischer Chirurg setzte sich in Wirklichkeit aus zwei Wesen zusammen, nämlich aus einem FGLI und einem OTSB. Auf dem lederartigen Rücken des elefantenähnlichen Tralthaners haftete ein winziges und mit nur geringer Intelligenz ausgestattetes Wesen, das mit dem FGLI in Symbiose lebte. Auf den ersten Blick wirkte der OTSB wie ein kleiner Pelzball, aus dem so etwas wie ein relativ langer Pferdeschwanz hervorragte. Bei genauerem Hinsehen konnte man aber erkennen, daß sich der vermeintliche Pferdeschwanz aus dünnen, drahtähnlichen Tentakeln zusammensetzte, von denen die meisten mit winzigen Augen und Saugnäpfen besetzt waren. Da Wirt und Parasit stets miteinander in Verbindung standen, waren die FGLIs in der Kombination mit diesen kleinen OTSBs die besten Chirurgen der Galaxis. Zwar gingen nicht alle Tralthaner eine solche Symbiose ein, aber die Ärzte unter ihnen trugen ihre OTSBs auf dem Rücken mit sichtlichem Stolz wie ein hohes Rangabzeichen. Plötzlich huschte der kleine OTSB über den Rücken seines Wirts und verharrte direkt zwischen den vier Stielaugen des kuppelförmigen Kopfs des FGLI. Der Tralthaner war also bereit. „Wie man noch sehen wird, ist nur die Oberflächenhaut von der Krankheit betroffen“, sagte Conway, um seiner Protokollpflicht genüge zu tun, da die gesamte Operation von automatischen Kameras aufgezeichnet wurde. „Die gesamte Haut sieht spröde und ausgetrocknet aus und blättert an einigen Stellen bereits ab. Bei der Entnahme der ersten Hautproben traten keine Schwierigkeiten auf, aber bei späteren Entnahmen bin ich bis zu einem gewissen Grad auf Widerstand gestoßen, was an winzigen Wurzelfasern von wenigen Millimetern Länge lag, die, jedenfalls was meine Sehfähigkeiten anbelangt, mit bloßem Auge kaum zu erkennen waren. Es liegt also auf der Hand, daß die Krankheit in eine neue Phase eintritt. Sie dringt allmählich von der Oberhaut tiefer nach innen, und je eher wir etwas dagegen unternehmen, desto besser.“ Conway gab das gemeinsame Aktenzeichen des Pathologieberichts und der von ihm selbst erstellten Voruntersuchungsergebnisse an und fuhr dann fort: „Da der Patient aus für uns bis jetzt noch unerfindlichen Gründen auf eine medikamentöse Behandlung nicht anspricht, werde ich jetzt die befallenen Hautpartien operativ entfernen und dann die betroffenen Stellen ausspülen und reinigen und durch künstliche Haut ersetzen. Zudem wird ein von einem Tralthaner angeleiteter OTSB eingesetzt, um sicherzustellen, daß auch wirklich sämtliche Wurzelfasern herausgeschnitten werden. Da fast die gesamte Hautoberfläche betroffen ist, wird es sich zwar um einen recht langen Eingriff handeln, die Operation selbst dürfte aber relativ unkompliziert verlaufen.“ „Entschuldigung, Doktor“, unterbrach ihn Prilicla, „aber der Patient ist noch immer bei Bewußtsein.“ Im Nu brach zwischen dem Tralthaner und dem Empathen ein heftiger Streit aus, der von Priliclas Seite her allerdings in einem höflichen Ton ausgetragen wurde. Prilicla hielt daran fest, daß der EPLH nach wie vor geistig rege sei und entsprechende Gefühle ausstrahle, während sein Gegenpart darauf beharrte, der Patient habe so viel Anästhetikum im Blutkreislauf, daß er wenigstens die nächsten sechs Stunden gegenüber sämtlichen äußeren Einwirkungen völlig unempfindlich sein müsse. Kurz bevor der Streit auf eine persönliche Ebene abzurutschen drohte, fuhr Conway dazwischen. „Nun, dieses Problem kennen wir ja bereits“, stellte er etwas gereizt fest. „Mit Ausnahme der wenigen Minuten von gestern ist der Patient seit seiner Einlieferung physisch nicht bei Bewußtsein, und dennoch hat Doktor Prilicla immer wieder rationale Gedankengänge des EPLH wahrgenommen. Dasselbe Phänomen tritt nun auch wieder auf, obwohl der Patient unter Narkose steht. Ich selbst hab dafür keine Erklärung, und wahrscheinlich wäre dafür eine chirurgische Untersuchung des Gehirns notwendig. Dazu haben wir jetzt aber keine Zeit. Im Augenblick ist nur wichtig, daß der Patient körperlich zu schwach ist, um sich zu bewegen oder Schmerzen zu empfinden. Können wir jetzt anfangen?“ An Prilicla gewandt fügte er hinzu: „Achten Sie bitte weiterhin auf sämtliche Ausstrahlungen des Patienten während der Operation, Doktor. Nur für alle Fälle.“ 4. Kapitel Etwa zwanzig Minuten lang wurde schweigend gearbeitet, obwohl die Operation selbst eigentlich keine sonderlich hohe Konzentration erforderte. Es war fast so, als würde man in einem Garten Unkraut jäten, nur daß alles, was wuchs, Unkraut war und Pflanze für Pflanze samt Wurzel herausgerissen werden mußte. Conway schälte die befallenen Hautpartien ab, und unter Anleitung des Tralthaners untersuchte der OTSB mit seinen haardünnen Tentakeln die Stellen noch einmal genauer und entfernte dann eventuell noch vorhandene Wurzelfasern, während Conway schon woanders weitermachte. Innerlich hatte sich Conway bereits auf die zugleich langwierigste und langweiligste Operation seiner Karriere eingestellt. „Ich empfinde zunehmende Angstgefühle, verbunden mit gesteigerter Entschlußkraft“, bemerkte Prilicla plötzlich. „Die Angst wird immer stärker.“ Als einziger Kommentar dazu fiel Conway nur ein kopfschüttelndes Grunzen ein. Fünf Minuten später meldete sich der Tralthaner zu Wort: „Wir müssen langsamer vorgehen, Doktor. Wir sind jetzt an einer Stelle, wo die Wurzelfasern sehr viel tiefer gehen.“ „Oje, ich kann die Wurzeln schon mit meinen eigenen Augen sehen!“ sagte Conway etwas später. „Wie tief sitzen sie jetzt?“ „Etwa zehn Zentimeter“, antwortete der Tralthaner. „Und noch etwas Doktor, während wir arbeiten, graben sie sich vor unseren Augen immer tiefer ein.“ „Aber das ist doch unmöglich!“ fluchte Conway. „Wir sollten uns sofort eine andere Stelle ansehen.“ Er spürte, wie ihm Schweißperlen auf die Stirn traten und Priliclas schlaksiger und feingliedriger Körper direkt neben ihm leicht zu zittern begann. Das lag aber nicht an den emotionalen Ausstrahlungen des Patienten, sondern allein an Conways Unbehaglichkeitsgefühl, das ebenso auf den Empathen zusehends stärker übertragen wurde — die neue und zwei andere, zufällig ausgesuchte Hautstellen wiesen dasselbe Phänomen auf: Die Wurzelfasern der sich abschälenden Hautpartien gruben sich zusehends immer tiefer ein. „Sofort aufhören!“ befahl Conway entsetzt. Eine ganze Weile sagte niemand etwas. Prilicla zitterte, als würde ein Orkan durch den Raum fegen. Der Tralthaner hantierte verlegen an den Kontrollgeräten herum, wobei er seine vier Augen auf einen völlig unwichtigen Regler gerichtet hatte. O’Mara beobachte Conway genau, und sein abwägender Blick schien sogar ein wenig von Mitleid geprägt zu sein. Mitleid empfand er, weil er erkennen konnte, wann jemand ernsthaft in der Klemme saß, und abwägend schaute er, weil er herausfinden wollte, ob das aktuelle Problem auf Conways Kappe ging oder nicht. „Was ist passiert, Doktor?“ fragte er schließlich mit ruhiger Stimme. Conway schüttelte wütend den Kopf. „Das weiß ich auch nicht. Gestern hat der Patient nicht auf die medikamentöse Behandlung angesprochen, und heute widersetzt er sich der Operation. Auf alles, was wir mit ihm anzustellen versuchen, reagiert er völlig abwegig. Das ist doch verrückt! Unser Versuch, seine erkrankten Hautpartien durch einen operativen Eingriff zu entfernen, hat bei ihm irgendeine Reaktion ausgelöst, wodurch die Wurzeln mittlerweile so tief nach innen wachsen, daß sie lebenswichtige Organe durchdringen werden, jedenfalls dann, wenn sich ihr gegenwärtiges Wachstumsverhalten nicht innerhalb der nächsten Minuten entscheidend verändert. Und was das heißt, können Sie sich ja vorstellen.“ „Das Angstempfinden des Patienten läßt allmählich nach“, warf Prilicla ein. „Seine Entschlußkraft hingegen ist nach wie vor stark ausgeprägt.“ Jetzt schaltete sich auch der Tralthaner ein. „Mir ist an diesen rankenähnlichen Wurzelfasern, durch die die Haut mit dem Körper verbunden ist, etwas aufgefallen. Wie Sie wissen, hat mein OTSB extrem empfindliche Sehorgane, und er hat mir gerade zu verstehen gegeben, daß diese Ranken an beiden Enden verwurzelt zu sein scheinen. Deshalb ist es unmöglich zu sagen, ob das Wachstum den Körper angreift oder der Körper dieses Wachstum absichtlich beibehält.“ Conway schüttelte gereizt den Kopf. Dieser Fall war voll von widersinnigen Widersprüchen und völlig unerklärlichen Ungereimtheiten. Erstens hätte kein Patient in der Lage sein dürfen — ganz unabhängig vom Grad seiner geistigen Verwirrung —, sich binnen weniger Minuten gegen die Wirkung eines Medikaments zu wehren, das normalerweise stark genug gewesen wäre, die Krankheit innerhalb einer halben Stunde völlig zu heilen. Zweitens wäre es normal gewesen, wenn der EPLH, wie jedes andere Wesen auch, seine erkrankten Hautpartien abgestoßen hätte, die dann vom Körper auf natürlichem Wege durch neues Gewebe ersetzt worden wären, anstatt sie unter allen Umständen behalten zu wollen. Der ganze Fall schien nicht nur rätselhaft, sondern schier hoffnungslos zu sein. Dabei hatte es bei Einlieferung des Patienten nach einem ganz normalen Routinefall ausgesehen. Conway hatte sich weit mehr Sorgen um die Vorgeschichte des Patienten gemacht als um dessen Krankheit, deren erfolgreiche Behandlung ihm damals noch selbstverständlich erschienen war. Aber seither mußte er irgend etwas übersehen haben, dessen war er sich jetzt sicher, und wegen dieser Unterlassungssünde würde der Patient wahrscheinlich innerhalb der nächsten Stunden sterben. Vielleicht war er zu überzeugt von sich gewesen und hatte eine voreilige Diagnose gestellt, was bedeuten würde, daß er seine Sorgfaltspflicht auf fast kriminelle Weise vernachlässigt hätte. Es war immer furchtbar, einem Patienten nicht mehr helfen zu können, und im Orbit Hospital war der Verlust eines Patienten etwas höchst Seltenes. Aber jemanden zu verlieren, dessen Krankheitszustand in der gesamten zivilisierten Galaxis von niemandem als ernst erachtet worden wäre. Conway fluchte laut, verstummte dann aber, weil ihm schlichtweg die Worte fehlten, die seinem derzeitigen Gemütszustand gerecht geworden wären. „Ruhig Blut, mein Junge“, tröstete ihn O’Mara mit väterlicher Stimme und drückte Conway am Arm. Normalerweise war O’Mara ein griesgrämiger, laut polternder und unnahbarer Tyrann, der, wenn man ihn um Hilfe bat, sich erst einmal hinsetzte und lediglich abfällige Bemerkungen vom Stapel ließ, während sich die betroffene Person, vor Scham errötet, verlegen hin und her wand, bis sie es schließlich vorzuziehen pflegte, das betreffende Problem lieber selbst zu lösen. Dieses gegenwärtige untypische Verhalten des Chefpsychologen war nur der Beweis für das, was Conway zu seiner eigenen Enttäuschung eh vermutete — es bewies, daß er, Conway, vor einem Problem stand, das er allein nicht lösen konnte. Aber O’Maras Gesichtsausdruck verriet mehr als nur Sorge um ihn — wahrscheinlich war er insgeheim sogar ein wenig froh darüber, daß sich die Dinge so entwickelt hatten, was nach Conways Dafürhalten allerdings überhaupt nichts über den Charakter O’Maras aussagte. Denn er wußte, daß der Major, wäre er in seiner Lage gewesen, auch alles getan hätte, den Patienten zu heilen, und sich über das fruchtlose Ergebnis genauso geärgert hätte. Vielmehr schien sich der Chefpsychologe voller Verzweiflung zu fragen, welche Gefahren dem Orbit Hospital drohen könnten, wenn das geistig verwirrte Wesen, das offenbar große und bislang unbekannte Kräfte besaß, sich befreien würde. Außerdem stellte sich O’Mara möglicherweise die Frage, ob er neben einem gesunden EPLH mit klarem Verstand nicht sogar wie ein dummer kleiner Junge aussehen könnte. „Wir sollten versuchen, noch einmal alles ganz von vorne zu überdenken“, unterbrach O’Mara Conways Gedankengang. „Sind Sie beim Studium der Vorgeschichte des Patienten auf irgend etwas gestoßen, das darauf hinweisen könnte, warum er sich praktisch selbst vernichten möchte?“ „Nein!“ antwortete Conway mit Nachdruck. „Ganz im Gegenteil! Er hängt verzweifelt am Leben und hat sich völlig wahllos mehrerer Verjüngungskuren unterzogen. Und das heißt, daß sämtliche Körperzellen regelmäßig durch neue ersetzt wurden, und da nun einmal sämtliches Wissen in den Gehirnzellen gespeichert wird, wurde es durch jede dieser Kuren jedesmal komplett gelöscht.“ „Ach, deshalb haben diese Logbuchaufzeichnungen fast nur technische Angaben enthalten — sie sollten ihm nach einer solchen Kur zur eigenen Orientierung dienen“, warf O’Mara ein. „Dennoch ziehe ich unsere Verjüngungsmethoden vor, wobei nur unheilbar erkrankte Organe regeneriert werden und das Gehirn unberührt bleibt, auch wenn wir nicht so lange leben werden.“ „Ich weiß, ich weiß“, unterbrach ihn Conway ungeduldig, und er fragte sich, warum der sonst so wortkarge O’Mara plötzlich so gesprächig geworden war. Wollte er das Problem vereinfachen und ihn dazu bringen, ärztliche Fachausdrücke zu vermeiden? „Wie Sie selbst wissen, rufen solche wiederholt angewandten Verjüngungskuren bei der betreffenden Person eine verstärkte Angst vor dem Tod hervor. Unabhängig von der Einsamkeit, der Langeweile und seiner generell unnatürlichen Existenz nimmt diese Angst im Laufe der Zeit immer mehr zu. Deshalb ist unser Patient auch stets in Begleitung eines Leibarztes gereist. Er hat schreckliche Angst, zwischen solchen Kuren von Krankheiten oder Unfällen heimgesucht zu werden. Darum kann ich auch in einem gewissen Maß seine Gefühle nachempfinden, die er hatte, als der Arzt, der sich um seine Gesundheit zu kümmern hatte, zuließ, daß er krank wurde. Ihn deshalb allerdings gleich auf die Speisekarte zu setzen.“ „Aha, also stehen Sie bereits auf seiner Seite, nicht wahr?“ fragte O’Mara argwöhnisch. „Nun, er könnte sicherlich auf Notwehr plädieren“, antwortete Conway. „Aber ich hab ja bereits gesagt, daß er furchtbare Angst vor dem Tod hatte, so daß er ständig auf der Suche nach einem besseren und tüchtigeren Arzt für sich war. Ach, du meine Güte!“ „Was heißt hier: Ach, du meine Güte?“, frage O’Mara nervös. Dr. Prilicla, dieser hypersensible Empath, antwortete für Conway. „Der Doktor hat gerade eine Idee gehabt.“ „Und was für eine, Sie kleiner Pfiffikus? Sie brauchen gar nicht so geheimnisvoll zu tun, Conway.!“ O’Maras Stimme hatte jetzt den gütigen väterlichen Tonfall verloren, und der Blick des Chefpsychologen verriet, daß er heilfroh war, nicht mehr länger rücksichtsvoll sein zu müssen. „Also raus mit der Sprache, was ist nun mit dem Patienten?“ Obwohl er sich seiner Sache nicht völlig sicher war, empfand Conway doch aufgeregte Freude und ein wenig Erleichterung. Ohne ein Wort zu sagen, begab er sich an den Kommunikator auf der anderen Seite des Raums, um einige höchst ungewöhnliche Geräte anzufordern. Dann vergewisserte er sich, daß der Patient auch wirklich fest angeschnallt war und praktisch keinen Muskel bewegen konnte. „Ich vermute, daß der Patient vollkommen gesund ist, und meiner Meinung nach sind wir durch unsere eigenen psychologischen Mutmaßungen auf eine falsche Fährte geraten. Er muß irgend etwas gegessen haben, das diese Probleme bei ihm hervorruft.“ „Oje, ich hab doch die ganze Zeit gewußt, daß Sie irgendwann etwas in dieser Richtung behaupten würden!“ bemerkte O’Mara mit säuerlicher Miene. Die Geräte wurden gebracht — ein langer, spitz zulaufender Holzstab und eine mechanische Vorrichtung, die den Stab in jedem gewünschten Winkel und mit regulierbarer Geschwindigkeit nach unten treiben konnte. Mit Hilfe des Tralthaners baute Conway das Gerät zusammen und stellte es in die richtige Position. Er hatte sich eine Stelle ausgesucht, wo sich einige lebenswichtige Organe des Patienten befanden, die jedoch von einer fast fünfzehn Zentimeter dicken Schicht aus Muskel- und Fettgewebe geschützt wurden. Schließlich setzte er den Mechanismus in Bewegung. Dabei berührte der spitze Holzstab bereits ganz knapp die Haut und wurde mit einer Geschwindigkeit von etwa fünf Zentimetern pro Stunde vorangetrieben. „Was, zum Teufel, soll das?“ polterte O’Mara los. „Halten sie den Patienten etwa für einen Vampir?“ „Natürlich nicht“, antwortete Conway unbeeindruckt. „Ich verwende einen Holzstab, damit sich der Patient besser wehren kann. Oder glauben Sie etwa, gegen einen Stab aus Stahl hätte er mehr Chancen?“ Er nickte dem Tralthaner zu, und sie beobachteten gemeinsam die Stelle, an der der Stab in den Körper des EPLH eindrang. Prilicla berichtete fortwährend über die emotionale Ausstrahlung des Patienten, während O’Mara die ganze Zeit im Raum hin und her lief und dabei leise Verwünschungen vor sich hin grummelte. Als die Stabspitze bereits einige Millimeter in das Gewebe eingedrungen war, bemerkte Conway die ersten Verhärtungen und das Zusammenziehen der oberen Hautschicht. Das Ganze spielte sich in einem Radius von etwa zehn Zentimetern um die von dem Holzstab herbeigeführte Wunde ab. Der Scanner zeigte, daß sich unter der Haut eine schwammartige, faserige Gewebeschicht von zunächst gut einem Zentimeter Tiefe bildete, die aber zusehends dicker und für den Scanner immer undurchsichtiger wurde. Innerhalb weniger Minuten war daraus eine harte Knochenplatte geworden. Der Stab begann sich stark zu biegen und war kurz davor, abzubrechen. „Ich würde sagen, sämtliche Abwehrkräfte konzentrieren sich jetzt auf diesen einen Punkt“, stellte Conway mit Genugtuung fest, wobei er den triumphalen Unterton in seiner Stimme kaum verbergen konnte. „Also sollten wir den Stab lieber wieder herausziehen und die Hornplatte entfernen.“ Sofort schnitten Conway und der Tralthaner die neugebildete Knochenplatte heraus, die gleich darauf in einen steril versiegelten Behälter gelegt wurde. Danach präparierte Conway rasch eine Spritze mit demselben Mittel, das er dem Patienten bereits tags zuvor verabreicht hatte, und injizierte sie dem EPLH. Schließlich half er dem Tralthaner beim Schließen der Wunde; eine reine Routinearbeit, die kaum eine Viertelstunde beanspruchte. Als sie auch damit fertig waren, konnte kein Zweifel mehr bestehen, daß der Patient auf die Behandlung jetzt positiv ansprach. Über die Gratulationen des Tralthaners und die bösen Beschimpfungen O’Maras hinweg — der Chefpsychologe wollte umgehend einige Fragen beantwortet haben —, sagte Prilicla: „Sie haben zwar eine Heilung bewirkt, Doktor, aber die Angst des Patienten hat sich inzwischen bedrohlich verstärkt, sie grenzt geradezu an Panik.“ Conway schüttelte grinsend den Kopf. „Der Patient steht noch immer unter starker Narkose und spürt überhaupt nichts. Ich gebe Ihnen allerdings insofern recht, daß sich sein Leibarzt.“ — er nickte zu dem sterilen Behälter hinüber — „. in diesem Augenblick ziemlich mies fühlen muß.“ In dem Behälter war die entnommene Knochenplatte allmählich wieder aufgeweicht und sonderte eine blaßrote Flüssigkeit ab, die auf den Boden des Gefäßes tröpfelte und dabei merkwürdige Muster bildete, als hätte sie einen eigenen Verstand. Was auch tatsächlich der Fall war. Conway befand sich in O’Maras Büro und beendete seinen Bericht über den EPLH. Der Major verhielt sich währenddessen ausgesprochen wohlwollend, wobei er allerdings manchmal eine Wortwahl anwandte, die eine Unterscheidung zwischen Lob und Tadel kaum zuließ. Aber das war nun einmal O’Maras Art, wie Conway allmählich wußte — der Chefpsychologe benahm sich eigentlich nur dann taktvoll und empfand Verständnis für einen Fall, wenn er selbst beruflich darin verwickelt war. Er stellte noch immer Fragen, und auf die letzte antwortete Conway: „.eine intelligente amöboide Lebensform, eine organisierte Anhäufung submikroskopischer, virusähnlicher Zellen, dürfte der wirkungsvollste Arzt sein, den man sich überhaupt vorstellen kann. Er lebt im Körper des Patienten und kann, sobald er die notwendigen Informationen dazu hat, jede Krankheit oder organische Fehlfunktion von innen her untersuchen und behandeln. Für ein Wesen, das eine krankhafte Angst vor dem Tod hat, scheint das die ideale Lösung zu sein. Und so war es auch, denn die eigentlichen Probleme verursachte nicht der Leibarzt des Patienten, sondern sie entwickelten sich dadurch, daß der EPLH seinem eigenen physiologischen Werdegang keine Beachtung geschenkt hatte. Meiner Ansicht nach hat sich der Patient in bezug auf seine eigentliche biologische Lebenserwartung bereits sehr früh solcher Verjüngungskuren unterzogen. Ich meine damit, daß er mit der Zellenerneuerung nicht abgewartet hat, bis er ein mittleres oder höheres Alters erreicht hatte. Bei der letzten Gelegenheit aber alterte er und zog sich diesen Zustand der Haut zu, weil er irgend etwas vergessen hatte, nachlässig gewesen war oder sich mit einem Problem beschäftigt hatte, dessen Lösung mehr Zeit als sonst erforderte. Laut Pathologiebericht handelt es sich dabei wahrscheinlich um eine für diese Spezies ganz normale Erkrankung, während deren Verlauf der EPLH ganz bewußt die befallenen Hautpartien einfach abstößt, um danach völlig beschwerdefrei weiterzuleben. Da die letzte Verjüngungskur bei unserem Patienten aber das Gedächtnis ausgelöscht hat, wußte er nichts mehr davon und sein Leibarzt natürlich auch nicht. Dieser. ehm, nennen wir es einmal. ehm. Hausarzt wußte nur sehr wenig über die medizinische Vorgeschichte seines Patienten, aber sein Motto mußte lauten, den Status Quo unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Als einige Hautpartien des Patienten abzubröckeln drohten, mußte er das verhindern, weil ihm nicht klar war, daß es sich dabei um einen ganz natürlichen Vorgang handelte wie etwa ein normaler Haarverlust oder die periodische Häutung einiger Reptilien. Vor allem wird der EPLH darauf bestanden haben, daß es sich um krankhafte Veränderungen handelte. Zwischen den vermeintlichen körperlichen Zerfallsprozessen des Patienten und den Gegenmaßnahmen des Arztes muß es zu einem regelrechten Wettstreit gekommen sein, wobei der Verstand des EPLH zudem andauernd dazwischengefunkt hat. Deshalb hielt der Arzt seinen Patienten schließlich lieber bewußtlos, um in Ruhe das tun zu können, was er für richtig hielt. Als wir das Mittel zum erstenmal getestet hatten, hat der Arzt es sofort neutralisiert. Für ihn handelte es sich um eine fremde Substanz, die in den Körper des Patienten eingeführt worden war. Und was passiert ist, als wir die Hautpartien operativ entfernen wollten, wissen Sie ja selbst. Erst als wir tiefliegende, lebenswichtige Organe mit dem Holzstab bedroht haben, wurde der Arzt gezwungen, seinen Patienten an dieser einen Stelle voll und ganz zu verteidigen.“ „Als Sie nach einem Holzstab verlangt haben, wollte ich Sie schon in eine Zwangsjacke stecken lassen“, bemerkte O’Mara kopfschüttelnd. Conway lächelte und fuhr fort: „Ich möchte, daß der EPLH seinen Arzt zurückbekommt. Da ihm die Pathologie mittlerweile ein größeres Verständnis der medizinischen und physiologischen Vorgeschichte seines Patienten beigebracht hat, müßte er jetzt der ideale Leibarzt sein, und der EPLH ist sicherlich klug genug, das einzusehen.“ „Und ich hatte mir schon Sorgen gemacht, was er alles anstellen könnte, sobald er das Bewußtsein wiedererlangt hat. Nun, er hat sich ja als ein ausgesprochen freundlicher und sympathischer Zeitgenosse erwiesen. Ich finde ihn sogar regelrecht charmant.“ Conway stand auf und ging zur Tür. Bevor er den Raum verließ, sagte er über die Schulter hinweg: „Wahrscheinlich ist er auch deshalb ein so guter und erfolgreicher Psychologe. Er ist nämlich stets zu allen Leuten freundlich.“ Conway schaffte es noch gerade, die Tür hinter sich zu schließen, bevor O’Mara explodieren konnte. 5. Kapitel Schon bald konnte der Patient, dessen Name Lonvellin lautete, entlassen werden, und die unaufhörliche Behandlung erkrankter ETs ließ die Erinnerung an den EPLH bei Conway allmählich verblassen. Er war einfach zu abgelenkt, um sich darüber Gedanken zu machen, ob Lonvellin in seine Heimatgalaxis zurückgekehrt war oder noch immer rastlos durch das All umherstreifte, um gute Taten zu vollbringen. Aber Conway war mit dem EPLH noch nicht am Ende, oder, besser gesagt, Lonvellin war mit Conway noch nicht ganz am Ende. „Wie würde es Ihnen eigentlich gefallen, wenn Sie das Hospital mal für ein paar Monate verlassen könnten, Doktor?“ fragte O’Mara, als sich Conway aufgrund einer Dringlichkeitsdurchsage umgehend im Büro des Chefpsychologen eingefunden hatte. „Es handelt sich dabei eher um eine Art Urlaub.“ Conway spürte, wie sich sein anfängliches Unwohlsein augenblicklich zu fast panischem Unbehagen steigerte; schließlich gab es dringende persönliche Gründe, weshalb er das Orbit Hospital in den nächsten Monaten nicht verlassen wollte, und als Antwort brummelte er nur etwas Unverständliches vor sich hin. O’Mara hob den Kopf und musterte Conway mit seinen stahlgrauen Augen, die in Verbindung mit seinem scharfen, analytischen Verstand so viel sahen, daß sie dem Chefpsychologen fast telepathische Fähigkeiten verliehen. „Bei mir brauchen Sie sich dafür nicht zu bedanken, schließlich ist es Ihr eigener Fehler, wenn Sie solche mächtigen und einflußreichen Patienten heilen“, merkte O’Mara trocken an und fuhr dann hastig fort: „Es handelt sich hierbei um eine bedeutende Aufgabe, Doktor, die allerdings zu einem nicht unerheblichen Teil aus wissenschaftlicher Arbeit bestehen wird. Normalerweise wäre der Auftrag an einen Diagnostiker vergeben worden, aber dieser EPLH, dieser Lonvellin, macht sich gerade auf einem Planeten zu schaffen, auf dem seiner Meinung nach dringend medizinische Hilfe erforderlich ist. Lonvellin hat diesbezüglich auch die Unterstützung des Monitorkorps angefordert und ausdrücklich darum gebeten, daß Sie für die medizinische Seite verantwortlich sind. Anscheinend erfordert diese Aufgabe doch eher praktische als hochgeistige Fähigkeiten, also wäre das genau der richtige Job für Sie.“ „Sie sind wirklich zu freundlich, Sir“, merkte Conway mit leicht säuerlicher Miene an. Grinsend führ O’Mara fort: „Ich hab Ihnen schon des öfteren gesagt, daß ich hier bin, um die Leute auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen und nicht, um sie abheben zu lassen. Nun gut, hier ist jedenfalls der aktuelle Lagebericht.“ Er schob Conway die Akte herüber, die er zuvor selbst durchgelesen hatte, und stand auf. „Sobald Sie an Bord sind, können Sie sich die Unterlagen ja in Ruhe durchsehen. Seien Sie um 21:30 Uhr an der Schleuse sechzehn, und begeben Sie sich an Bord der Vespasian. In nehme an, Sie haben in der Zwischenzeit noch einige private wie berufliche Dinge unter Dach und Fach zu bringen. Und noch etwas, Conway. schauen Sie gefälligst nicht so drein, als sei Ihre gesamte Verwandtschaft abgekratzt. Höchstwahrscheinlich wird die Dame Ihres Herzens auf Sie warten. Und wenn nicht, gibt es im Orbit Hospital schließlich noch zweihundertundsiebzehn andere weibliche DBDGs, denen Sie hier nachstellen können. Auf Wiedersehen und viel Glück, Doktor.“ Kaum hatte er O’Maras Büro verlassen, überlegte Conway, wie er die bis zum Abflug verbleibenden sechs Stunden am besten nutzen konnte, um noch alles „unter Dach und Fach zu bringen“, wie O’Mara es genannt hatte. Bereits in zehn Minuten mußte er einen Einführungskurs für Assistenzärzte leiten, und es war schon zu spät, diese Aufgabe jemand anderem zu übertragen. Allein das würde bereits drei der sechs Stunden in Anspruch nehmen — wenn er Pech hatte sogar vier, und wie ein Pechvogel kam er sich heute allemal vor. Danach mußte er noch vor dem Abendessen Instruktionen betreffs der Weiterbehandlung seiner ernsthafter erkrankten Patienten erteilen. Mit Glück würde er alles rechtzeitig erledigen können, und er beeilte sich, zur Schleuse sieben im hundertachten Stockwerk zu gelangen. Er erreichte den Vorraum der Schleuse im selben Augenblick, als gerade die Innenluke geöffnet wurde. Während er noch verschnaufte, betrachtete er die Assistenzärzte, die hinter ihm hereinströmten. Dabei handelte es sich um zwei kelgianische DBLFs — die sich wie riesige Raupen mit einem silbrig schimmernden Pelz an ihm vorbeischlängelten —, einen illensanischen PVSJ — dessen spinnenartige Gestalt mit ihren stacheligen, membranartigen Gliedmaßen durch den fast undurchsichtigen chlorgeffülten Schutzanzug etwas weicher wirkte — und einen wasseratmenden creppelianischen Oktopoden, Klassifikation AMSL, dessen Anzug laute Blubbergeräusche von sich gab. Auf diese folgten fünf AACPs, eine Spezies, deren Urahnen einer beweglichen Pflanzenart angehört hatten. Sie bewegten sich sehr langsam, aber als Schutz schienen sie lediglich mit CO2 gefüllte Flaschen zu benötigen. Zu guter Letzt kroch noch ein Kelgianer herein. Als sich alle im Innern der Schleuse befanden und sich die Luke hinter ihnen schloß, ergriff Conway das Wort. Um das Eis zu brechen, stellte er die mehr als unnötige Frage, ob alle anwesend seien. Zwangsläufig antworteten alle im Chor, und Conways überlasteter Translator gab nur noch ein pfeifendes Rückkopplungsgeräusch von sich. Wie üblich stellte er sich zunächst selbst vor und hieß seine zukünftigen Kollegen willkommen. Erst am Ende dieser Höflichkeitsfloskeln schob er eine freundliche Zwischenbemerkung ein, mit der er die Neuankömmlinge an die Funktionsweise der Translatoren erinnerte und auch daran, daß möglichst immer nur einer zur gleichen Zeit sprechen sollte, um die Geräte nicht zu überlasten. Auf ihren Heimatplaneten waren diese Wesen zwar allesamt anerkannte medizinische Kapazitäten, im Orbit Hospital aber galten sie als blutige Anfänger. Dieser Übergang vom geachteten Spezialisten zum Praktikanten fiel einigen bestimmt nicht leicht, so daß man sie zu diesem Zeitpunkt noch mit Glacehandschuhen anfassen mußte. Sobald sie sich allerdings an ihre neue Situation gewöhnt hatten, war ihre Schonfrist vorbei, und sie konnten für ihre Fehler wie jeder andere zur Rechenschaft gezogen werden. „Ich schlage vor, wir beginnen unseren Rundgang auf der Aufnahmestation“, fuhr Conway fort. „Dort werden die mit der Unterkunft der Patienten zusammenhängenden Probleme geklärt und erste Voruntersuchungen vorgenommen. Falls es die äußeren Umstände zulassen und sich der betreffende Patient in keinem kritischen Zustand befindet, werden wir einige angrenzende Abteilungen aufsuchen, um uns mit den Untersuchungsmethoden an neu eingelieferten Patienten etwas genauer vertraut zu machen. Natürlich steht es Ihnen jederzeit frei, Fragen zu stellen. Auf dem Weg zur Aufnahme werden wir Korridore und Gänge benutzen, die ziemlich überfüllt sein könnten. Im Orbit Hospital herrscht eine komplizierte Rangordnung, die von den medizinischen Hilfskräften bis zu den Chefärzten reicht und mit der geregelt wird, wer vor wem den Vortritt hat. Mit der Zeit werden Sie begreifen, wie dieses System funktioniert, aber gegenwärtig müssen Sie sich nur an eine Grundregel halten: Falls das Ihnen entgegenkommende Wesen größer ist als Sie, müssen Sie ihm Platz machen.“ Er war kurz davor hinzuzufügen, daß kein Arzt im Orbit Hospital einen Kollegen mutwillig zu Tode trampeln würde, besann sich aber eines Besseren — sehr viele Extraterrestrier besaßen keinerlei Sinn für Humor, und ein solch harmloser Scherz, falls er von jemandem wörtlich genommen wurde, konnte durchaus zu endlosen Debatten führen. Also forderte Conway sie lediglich auf, ihm zu folgen. Er sorgte dafür, daß die fünf AACPs als die Langsamsten der Gruppe direkt hinter ihm gingen, um somit das Tempo für die anderen zu bestimmen. Ihnen folgten die beiden Kelgianer, deren schlängelnde Fortbewegungsform nur unwesentlich schneller als die der vor ihnen einhertrottenden pflanzlichen Wesen war. Als nächstes kam der Chloratmer, und das Schlußlicht bildete der creppelianische Oktopode, wobei die Blubbergeräusche seines Schutzanzugs Conway laut vernehmbar verrieten, daß die fast fünfzig Meter lange Prozession noch immer nicht auseinandergebrochen war. Da sie jetzt im Gänsemarsch gingen, war es sinnlos, weitere Anweisungen zu geben, und sie legten die erste Teilstrecke von etwa zweihundert Metern schweigend zurück, wobei sie der Weg über drei ansteigende Rampen und durch gerade wie verwinkelte Gänge führte. Das einzige Wesen, das aus entgegengesetzter Richtung auf sie zukam, war ein Nidianer, dessen Armbinde verriet, daß er ein Medizinalassistent im zweiten Ausbildungsjahr war. Erwachsene Nidianer wurden nur etwa ein Meter zwanzig groß, so daß für niemanden die Gefahr bestand, zu Tode getrampelt zu werden. Schließlich erreichten sie die innere Schleuse, die zur Station der Wasseratmer führte. In dem direkt anschließenden Umkleideraum überwachte Conway die beiden Kelgianer beim Anlegen der Schutzanzüge, dann zog er sich selbst einen leichten Taucheranzug an. Die AACPs wiesen darauf hin, daß sie sich dank ihres pflanzlichen Metabolismus eine ganze Weile unter Wasser aufhalten könnten, ohne irgendwelche Schutzmaßnahmen treffen zu müssen. Der Illensaner trug bereits einen luftdichten Anzug, so daß er sich gegen das Wasser, das für ihn genauso giftig war wie Sauerstoff, nicht mehr extra abzusichern brauchte. Der Creppelianer hingegen war ein Wasseratmer und wollte seinen Schutzanzug ablegen — schließlich habe er acht Beine, die er dringend einmal ausstrecken müsse, wie er meinte. Conway war jedoch dagegen, da sie sich höchstens eine Viertelstunde im Wasser aufhalten würden. Die Schleuse zur AUGL-Station öffnete sich — ein riesiger, düsterer Tank, der mit grünlichem, lauwarmem Wasser gefüllt war und eine Tiefe von fast siebzig Metern und einen Durchmesser von mehr als hundertfünfzig Metern besaß. Conway mußte bald feststellen, daß das Unterfangen, die Neuankömmlinge von der Schleuse zum Korridoreingang auf der anderen Seite zu bringen, einem dreidimensionalen Herdentrieb durch grünen Klebstoff gleichkam. Mit Ausnahme des Creppelianers verloren alle anderen binnen weniger Minuten ihren Orientierungssinn. Wild gestikulierend und laut die Richtung angebend, mußte Conway wie ein Wahnsinniger um sie herumschwimmen, und trotz der chemischen Kühl- und Trockenmittel fühlte er sich in seinem Taucheranzug allmählich wie in einer überhitzten Sauna. Etliche Male geriet er derart in Wut, daß er seine Schützlinge vor Aufregung in die falsche Richtung dirigierte. Und ausgerechnet in einem ganz besonders chaotischen Augenblick schwamm einer der AUGL-Patienten — ein etwa zwölf Meter langes, krokodilähnliches Wesen vom Planeten Chalderescol II — schwerfällig auf sie zu. Etwa fünf Meter vor ihnen hielt der Chalder inne, wobei er unter den AACPs beinahe eine Panik ausgelöst hätte, sagte nur abfällig „Studenten!“ und machte sich wieder davon. Chalder waren besonders während der Genesungsphase alles andere als freundlich, aber auch dieser Zwischenfall konnte nicht dazu beitragen, Conways Wut über das in seinen Augen undisziplinierte Verhalten seiner Schützlinge zu zähmen. Als er schließlich alle im Korridor auf der anderen Seite des Tanks beisammen hatte, schien weit mehr als nur eine Viertelstunde vergangen zu sein. „Etwa dreihundert Meter weiter befindet sich in diesem Korridor die Verbindungsschleuse zur Sauerstoffabteilung der Aufnahmestation. Dort läßt sich das, was in der Aufnahme vor sich geht, am besten beurteilen“, sagte Conway. „Diejenigen von Ihnen, die sich nur gegen das Wasser schützen mußten, werden dort ihre Anzüge ablegen, alle anderen begeben sich direkt hindurch. und wenn das nicht reibungslos klappt, mache ich Ihnen die Hölle heiß!“ Während er mit den anderen auf die Schleuse zuschwamm, sagte der Creppelianer zu einem der AACPs: „Nach unserer Vorstellung ist die Hölle mit kochendheißem Dampf gefüllt, aber man muß schon ganz schön böse gewesen sein, um dort hinzukommen.“ Daraufhin antwortete der AACP: „Unsere Hölle ist zwar auch heiß, aber dort herrscht leider absolute Trockenheit, und man verkommt sozusagen zu Dörrgemüse.“ Conway wollte sich schon dafür entschuldigen, daß er gerade die Geduld verloren hatte, weil er fürchtete, die Gefühle des einen oder anderen Extraterrestriers verletzt zu haben, aber offenbar hatten sie das, was er zuvor gesagt hatte, nicht sonderlich ernst genommen. 6. Kapitel Durch eine transparente Wand hindurch konnte man in einen großen, dunklen Raum sehen, in dem drei große Kontrollpulte standen, von denen aber zur Zeit nur eins besetzt war. Davor saß ein Nidianer, ein kleiner Humanoid mit siebenfngrigen Händen, dessen Körper mit einem lockigen, roten Pelz überzogen war. An einer Reihe blinkender Kontrolleuchten konnte man erkennen, daß er gerade zu einem Schiff Kontakt aufgenommen hatte, das sich dem Hospital näherte. „Hören Sie einfach mal zu.“, sagte Conway zu seinen Schützlingen. „Identifizieren Sie sich bitte“, forderte der rote Teddybär das Schiff auf. Seine abgehackte, bellende Sprache klang durch den Translator, der sämtliche stimmlichen Eigenarten „herausfilterte“, für Conway genauso ausdruckslos wie für die anderen, die die Übersetzung in gleichsam emotionslosem Kelgianisch, Illensanisch oder in jeder x-beliebigen anderen Sprache mithören konnten. „Patient, Besucher oder Mitarbeiter? Und welche Spezies?“ „Pilot, mit einem Patienten an Bord“, kam die Antwort vom Schiff. „Beide menschlich.“ Nach kurzem Zögern sagte der nidianische „Teddybär“: „Bitte nennen Sie mir Ihre physiologische Klassifikation, oder schalten Sie auf vollständigen Sichtkontakt um“, wobei er zu den neugierigen Zuschauern hinter der Glasscheibe hinüberzwinkerte. „Alle intelligenten Lebensformen bezeichnen ihre eigene Spezies im übertragenen Sinne Ihrer Muttersprache als menschlich und halten alle anderen für nichtmenschlich, also ist es völlig belanglos, wie Sie sich selbst nennen, insbesondere was die Unterbringung des Patienten angeht.“ Conway stellte den Lautsprecher, der das Gespräch zwischen dem Schiff und der Aufnahme in den Korridor übertragen hatte, leiser und sagte: „Das scheint mir der richtige Zeitpunkt zu sein, Ihnen unser physiologisches Klassifikationssystem zu erklären. Allerdings will ich nur kurz darauf eingehen, da Sie später über dieses Thema ausführlich unterrichtet werden.“ Er räusperte sich und fuhr fort: „In dem aus vier Buchstaben bestehenden Klassifikationssystem zeigt der erste Buchstabe den Stand der physikalischen Evolution an, der zweite die Art und Verteilung der Gliedmaßen und Sinnesorgane und der dritte und vierte den Metabolismus sowie die erforderlichen Druck- und Schwerkraftverhältnisse, was zugleich ein Hinweis auf die physische Masse und auf die Beschaffenheit der Außenhaut eines Wesens ist. Bevor jemand von Ihnen bezüglich der für ihn zutreffenden Klassifikation irgendwelche Minderwertigkeitskomplexe bekommt, muß ich an dieser Stelle hervorheben, daß der Stand der physikalischen Evolution keinerlei Rückschlüsse auf den Grad der Intelligenz zuläßt.“ Weiterhin erklärte er, daß alle Wesen mit A, B oder C als erstem Buchstaben Wasseratmer seien. Auf den meisten Planeten war das Leben im Wasser entstanden, und diese Wesen hatten eine hohe Intelligenz entwickelt, ohne das nasse Element verlassen zu müssen. D bis F waren warmblütige Sauerstoffatmer — unter diese Klassifikation fielen die meisten intelligenten Wesen der Galaxis. G bis K waren auch Sauerstoffatmer, aber insektenartige Wesen von Planeten mit geringer Schwerkraft, ebenso wie die vogelartigen Wesen der Kategorie L und M. Die Chloratmer waren in die Gruppen O und P eingeteilt, darauf folgten die eher exotischen, physikalisch hochentwickelten und völlig absonderlich anmutenden Spezies — Strahlungsverwerter; starrblütige oder kristalline Wesen; Kreaturen, die ihre physische Gestalt beliebig verändern konnten. Diejenigen, die verschiedene Arten übersinnlicher Kräfte besaßen und bereits so weit entwickelt waren, daß sie nicht einmal mehr Fortbewegungs- oder Greiforgane benötigten, hatten unabhängig ihrer Form oder Größe als ersten Buchstaben ein V. Conway räumte ein, daß das System nicht ganz fehlerfrei sei, aber Schuld daran sei einfach die mangelnde Vorstellungskraft der Urheber gewesen, und man habe es deshalb auch hin und wieder ändern müssen. So seien die anwesenden AACPs — eine Spezies mit vegetarischem Metabolismus — ein typisches Beispiel dafür. Normalerweise wies das A als deren erster Buchstabe auf Wasseratmer hin. Da das System mit seiner Klassifikation jedoch erst bei den fischähnlichen Lebensformen begann und die AACPs als pflanzliche Wesen noch vor den Fischen hätten eingestuft werden müssen, hatte man sie einfach dieser Gruppe zugeordnet. „. allerhöchster Wert wird auf die umgehende und genaue Klassifikation eingelieferter Patienten gelegt, die häufig selbst nicht in der Lage sind, diese grundlegend wichtigen Informationen zu geben“, fuhr Conway fort. „Der Idealfall wäre, mit der Zeit eine solche Fertigkeit darin zu entwickeln, daß Sie allein aufgrund der Betrachtung eines Fußes oder einer Hautpartie eines Wesens innerhalb weniger Sekunden eine Klassifikation vornehmen können. Aber sehen Sie selbst“, sagte er, wobei er in den Aufnahmeraum deutete. Über dem Kontrollpult, hinter dem der Nidianer saß, leuchteten drei Monitore auf, und direkt angrenzende Anzeigegeräte lieferten zu dem, was auf den Bildschirmen zu sehen war, noch zusätzliche Informationen. Der erste Monitor zeigte das Innere der Einlaßschleuse drei, in der gerade zwei terrestrische Sanitäter und eine lange Tragbahre zu sehen waren. Die beiden Krankenpfleger trugen schwere Schutzanzüge und auf Abstoßung eingestellte G-Gürtel, was Conway überhaupt nicht verwunderte, da in Schleuse drei und in den mit ihr verbundenen Ebenen fünf Ge und entsprechend hohe Druckverhältnisse herrschten. Auf dem zweiten Bildschirm sah man die Schleuse von außen mit ihrem Servomechanismus zum automatischen Andocken und das Schiff, das kurz vorm Anlegen war. Der dritte und letzte Monitor übertrug Bilder aus dem Schiffsinnern und zeigte den neuen Patienten. „Wie Sie sehen können, handelt es sich hier um ein etwas schwerfällig wirkendes, untersetztes Wesen mit sechs kurzen, dicken Gliedmaßen, die gleichermaßen als Arme und Beine dienen. Die Hautoberfläche ist dick, fast stahlhart, sehr widerstandsfähig und überall eingekerbt. Außerdem ist sie an einigen Stellen mit einer spröden, bräunlichen Substanz überzogen, die bei Bewegungen des Patienten hin und wieder von selbst abblättert. Achten Sie besonders auf diese braune Substanz und auf Körpermerkmale, die dem Wesen zu fehlen scheinen. Auf der Anzeige steht, daß es sich um einen warmblütigen Sauerstoffatmer handelt, der von einer Vier-Ge-Welt stammt. Wäre einer von Ihnen bereit, ihn für mich zu klassifizieren?“ Eine ganze Weile herrschte Schweigen, dann zuckte der creppelianische AMSL nervös mit einem Tentakel und sagte: „FROL, Sir.“ „Sehr gut, aber knapp daneben“, bemerkte Conway anerkennend. „Zufällig weiß ich, daß die Atmosphäre auf dem Heimatplaneten dieses Wesens eine sehr dichte, fast undurchdringliche Suppe ist. Der Vergleich mit der Suppe wird dadurch verstärkt, daß in der untersten Atmosphäreschicht Mikroorganismen herumschweben, von denen sich diese Wesen ernähren. Ihnen ist offensichtlich entgangen, daß der Patient keine Eßorgane besitzt, sondern die Nahrung direkt durch die Vertiefungen in der Panzerhaut absorbiert. Wenn er aber auf Reisen ist, muß er mit einem konzentrierten Nahrungspräparat besprüht werden, und deshalb auch diese bräunliche Kruste.“ „FROB!“ korrigierte sich der Creppelianer schnell. „Richtig.“ Conway fragte sich, ob dieser AMSL nun ein wenig gescheiter oder einfach nur etwas unbefangener als die anderen war. Jedenfalls nahm er sich vor, ihn ganz besonders im Auge zu behalten, denn einen guten Assistenten konnte er auf seiner Station immer gebrauchen. Nachdem sich Conway von dem Nidianer mit einer kurzen Handbewegung verabschiedet hatte, versammelte er wieder seine Schäfchen um sich und dirigierte sie zur fünf Ebenen tiefer gelegenen FGLI-Aufnahmestation. Anschließend suchten sie weitere Stationen auf, bis Conway entschied, seine Schützlinge mit den komplexen und weit auseinandergelegenen speziellen Einrichtungen und Apparaturen des Orbit Hospitals etwas vertrauter zu machen, ohne deren kontinuierlichen und effizienten Einsatz eine solch gewaltige Einrichtung wie dieses Weltraumkrankenhaus nicht hätte funktionieren und die Patienten und das technische wie medizinische Personal nicht hätten leben können. Conway bekam allmählich Hunger, und es war an der Zeit, den Neulingen ihre entsprechenden Kantinen und Speisesäle zu zeigen. AACPs nahmen ihre Nahrung nicht auf herkömmliche Weise zu sich, sondern legten sich dazu während ihrer Schlafphasen auf speziell zubereiteten Humus, um sich so die notwendigen Nährstoffe zuzuführen. Nachdem er sie entsprechend untergebracht hatte, zeigte er dem PVSJ den riesigen, dämmrigen Speisesaal, in dem die Chloratmer aßen, so daß am Schluß nur noch er, die beiden DBLF-Raupen und der AMSL übrigblieben. Die größte Kantine im Orbit Hospital, die den Sauerstoffatmern vorbehalten war, lag gleich um die Ecke. Deshalb zeigte er sie den beiden Kelgianern, die sich sofort zu einer Gruppe ihrer eigenen Spezies gesellten. Von Hunger getrieben, warf er noch kurz einen sehnsüchtigen Blick zu dem für Chefärzte reservierten Bereich hinüber, bevor er wieder hinauseilte, weil er sich zu seinem Leidwesen auch noch um die Unterbringung des Creppelianers zu kümmern hatte. Um die für die Wasseratmer zuständige Verpflegungsstelle zu erreichen, war ein etwa fünfzehnminütiger Weg durch einige der am stärksten frequentierten Flure und Gänge des Hospitals zu bewältigen. Wesen aller nur denkbaren Formen und Größen flatterten, krochen oder gingen an ihnen vorbei. Conway hatte sich daran gewöhnt, von einem elefantenartigen Tralthaner beiseite gedrängt zu werden oder um einen der empfindlichen, kleinen LSVOs vorsichtig herumzugehen. Der Creppelianer jedoch führte sich wie ein gepanzerter Tintenfisch auf, der manchmal vor lauter Angst wie auf Eiern ging, und auch die Blubbergeräusche in seinem Anzug waren merklich stärker geworden. Conway versuchte den AMSL zu beruhigen, indem er den Oktopoden bat, ihm etwas über seine bisherigen Krankenhauserfahrungen zu berichten, hatte damit aber nur wenig Erfolg. Als sie um eine Ecke bogen, sah Conway plötzlich seinen alten Freund Dr. Prilicla aus einem Seitengang hervorhuschen. Der AMSL stieß einen gellenden Angstschrei aus, und seine acht Beine holten kurz aus und schlugen blitzschnell die entgegengesetzte Richtung ein. Von einem der Tentakel wurde Conway mit voller Wucht in die Kniekehlen getroffen. Er knickte unwillkürlich zusammen und fiel zu Boden, während der Oktopode wild schreiend durch den Korridor floh. „Verdammter Mist!“ fluchte er laut, was er im nachhinein als bemerkenswert zurückhaltend empfand. „Das ist allein meine Schuld, ich hab den Oktopoden erschreckt“, entschuldigte sich Prilicla und eilte Conway sofort zu Hilfe. „Haben Sie sich verletzt?“ „Ausgerechnet Sie wollen ihn erschreckt haben?“ Die liebenswürdige, spinnenartige Kreatur vom Planeten Cinruss fuhr fort: „Ich fürchte, ja. Das Überraschungsmoment, verknüpft mit einer anscheinend tiefverwurzelten Angstneurose in bezug auf fremdartige Lebensformen, hat bei dem Wesen diese Panikreaktion ausgelöst. Es hat jetzt zwar furchtbare Angst, hat seine Gefühle aber wenigstens noch einigermaßen unter Kontrolle. Sind Sie verletzt worden, Doktor?“ „Nein, nur meine Gefühle“, gammelte Conway. Er rappelte sich wieder hoch und nahm die Verfolgung des Creppelianers auf, der mittlerweile außer Sicht- und ziemlich sicher auch außer Hörweite war. In einer Mischung aus Kurzstreckensprint und langsamem Walzer kam Conway im Kielwasser des AMSL mit raschen Zickzackbewegungen relativ hurtig voran. Seinen Vorgesetzten rief er ein „Entschuldigen Sie bitte“ zu, Kollegen und Untergebene brüllte er einfach mit „Platz da!“ an. Schon bald begann er, den AMSL einzuholen — was wieder einmal bewies, daß man sich auf zwei Beinen weit schneller fortbewegen konnte als auf acht Gliedmaßen —, und er war mit dem Oktopoden bereits fast auf gleicher Höhe, als dieser auf einmal in einen Lagerraum für Wäsche verschwand und somit hübsch in der Falle saß. Conway blieb vor der noch geöffneten Tür stehen, ging durch sie hindurch und zog sie fest hinter sich zu. Noch völlig außer Atem fragte er so ruhig er konnte: „Warum sind Sie eigentlich weggerannt?“ Plötzlich sprudelten die Worte aus dem AMSL nur so heraus. Wie üblich filterte der Translator sämtliche Untertöne mit emotionalem Gehalt heraus, aber allein an der ungeheuren Geschwindigkeit seiner Worte erkannte Conway, daß der Creppelianer etwas Ähnliches wie einen hysterischen Anfall haben mußte. Während er dem AMSL zuhörte, wurde ihm klar, daß Prilicla die Empfindungen des Oktopoden richtig gedeutet hatte: Vor ihm stand ein xenophober Neurotiker, das stand nun einwandfrei fest! Wenn du nicht ganz gehörig aufpaßt, Freundchen, wird dich O’Mara furchtbar in die Mangel nehmen, fluchte er in Gedanken. Selbst wenn man äußerste Toleranz und gegenseitigen Respekt beim Personal voraussetzte, gab es im Orbit Hospital doch noch Anlässe genug zu Reibereien. Potentiell gefährliche Situationen entstanden in erster Linie durch Unwissenheit und Mißverständnisse, aber auch dann, wenn ein Wesen eine neurotische Xenophobie entwickelte, die seine geistige Stabilität oder Leistungsfähigkeit oder beides zusammen beeinträchtigte. Ein Arzt von der Erde zum Beispiel, der eine unbewußte Angst vor Spinnen hatte, würde einem cinrusskischen oder illensanischen Patienten niemals eine angemessene klinische Versorgung zuteil werden lassen können, die zu seiner Behandlung notwendig wäre. Und wenn umgekehrt ein Cinrussker wie Prilicla einen solchen terrestrischen Patienten behandeln würde, dann. Als Chefpsychologe war es O’Maras Aufgabe, solche Probleme rechtzeitig zu erkennen und möglichst noch im Keime zu ersticken oder — falls alles nichts nützte — das potentiell gefährlichere Individuum aus dem Orbit Hospital zu entfernen, bevor sich aus einer solchen Auseinandersetzung ein offener Konflikt entwickeln konnte. Conway vermochte sich nicht einmal vage vorstellen, wie O’Mara auf so einen gewaltigen AMSL-Riesen reagieren würde, der vor einer solch zerbrechlichen Kreatur wie Dr. Prilicla vor Angst geflohen war. Als der Wortschwall des Creppelianers allmählich abflaute, hob Conway beruhigend die Hand und sagte: „Soweit ich Sie bislang verstanden hab, hat Doktor Prilicla also eine gewisse äußere Ähnlichkeit mit einem kleinen amphibischen Raubtier auf Ihrem Heimatplaneten, und Sie haben in Ihrer Jugend ein äußerst grauenhaftes Erlebnis mit einem dieser Tiere gehabt. Aber Doktor Prilicla ist kein Tier, und die Ähnlichkeit ist rein äußerlich. Zudem dürfte er für Sie alles andere als eine Bedrohung darstellen, da Sie ihn mit einer einzigen unnachsichtigen Bewegung bereits töten könnten.“ Er hielt kurz inne und schloß mit ernstem Ton: „Würden Sie, nachdem Sie das jetzt wissen, bei einer erneuten Begegnung mit diesem Wesen wieder vor lauter Angst davonrennen?“ „Ich. ich weiß nicht. aber mag sein“, antwortete der AMSL nur zögernd. Conway seufzte. Er mußte sich unwillkürlich an seine eigenen ersten Wochen im Orbit Hospital erinnern und an die furchteinflößenden, alptraumhaften Kreaturen, die ihn noch im Schlaf verfolgt hatten. Was die Alpträume damals ganz besonders schrecklich gemacht hatte, war die Tatsache, daß es sich dabei nicht um Hirngespinste, sondern um faßbare Realitäten gehandelt hatte, die in vielen Fällen nur ein paar Kabinen neben seiner untergebracht waren. Aber nie war er vor einer dieser alptraumhaften Kreaturen geflüchtet, die später zu seinen Lehrern, Kollegen und schließlich sogar besten Freunden geworden waren. Wenn er sich selbst gegenüber allerdings ehrlich sein wollte, hatte dies weniger etwas mit vorsätzlicher Kühnheit zu tun gehabt als vielmehr mit der Tatsache, daß er bei extremer Angst eher dazu neigte, wie gelähmt stehenzubleiben, anstatt davonzulaufen. „Vielleicht brauchen Sie psychiatrische Hilfe, Doktor“, sagte er bewußt freundlich. „Und der Chefpsychologe des Hospitals wird Ihnen bestimmt helfen können. Ich rate Ihnen aber, ihn nicht sofort aufzusuchen. Verbringen Sie hier erst einmal etwa eine Woche und versuchen Sie, sich ein wenig an die Situation im Hospital zu gewöhnen, ehe Sie sich an ihn wenden. Sie werden feststellen, daß er dann mehr von Ihnen halten wird.“ … außerdem ist es dann weniger wahrscheinlich, fügte er in Gedanken hinzu, daß er Sie für untauglich hält, in diesem Hospital mit seiner multikulturellen Gesellschaftsform zu arbeiten, und Sie umgehend nach Hause schickt. Nachdem Conway dem Creppelianer wiederholt versichert hatte, daß Prilicla zur Zeit der einzige GLNO im Hospital sei und es ausgesprochen unwahrscheinlich sei, daß sich ihre Wege am selben Tag gleich zweimal kreuzen würden, folgte der AMSL Conway aus dem Wäscheraum, wobei der Oktopode allerdings nicht sonderlich überzeugt wirkte. Zehn Minuten später hatte er den AMSL endlich im Speisesaal für Wasseratmer — der eher als „Speiseaquarium“ zu bezeichnen war — untergebracht, und er begab sich auf dem kürzesten Weg zur Kantine für Sauerstoffatmer. 7. Kapitel In dem für Chefärzte reservierten Abschnitt der Kantine entdeckte Conway durch einen glücklichen Zufall Dr. Mannon, der an einem ansonsten freien Tisch saß. Mannon war ein Terrestrier, der früher einmal Conways Vorgesetzter gewesen war und mittlerweile auf dem besten Weg war, demnächst den Rang eines Diagnostikers zu bekleiden. Gegenwärtig durfte er höchstens drei Schulungsbänder gleichzeitig im Gehirn gespeichert haben — das eines tralthanischen Spezialisten für Mikrochirurgie, und zwei, die von Chirurgen der LSVO- und MSVK-Spezies hergestellt worden waren —, aber trotzdem fielen seine Reaktionen recht menschlich aus. Im Augenblick stocherte er lustlos in einem Salat herum, wobei sein Blick gegen die Decke gerichtet war, um nicht sehen zu müssen, was er gerade aß. Conway setzte sich ihm gegenüber und blickte ihn verständnisvoll und fragend zugleich an. „Ich mußte heute nachmittag zwei langwierige Eingriffe bei einem Tralthaner und einem LSVO vornehmen“, murmelte Mannon mürrisch. „Sie wissen ja, wie das ist — ich hab mich wieder mal zu sehr in deren Rolle versetzt. Wenn diese verdammten Tralthaner doch nur keine Vegetarier wären und sich diese LSVOs bloß nicht vor allem ekeln würden, was nicht gleich wie Vogelfutter aussieht. Sind Sie heute auch jemand anders?“ Conway schüttelte den Kopf. „Ich bin heute nur ich selbst. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir ein Steak bestelle?“ „Nein, aber bitte reden Sie einfach nicht mehr darüber.“ „Einverstanden.“ Conway wußte nur zu gut, welche Verwirrungen und seelische Störungen es bei einem auslösen konnte, wenn man in Gedanken doppelt zu sehen begann, besonders dann, wenn man sich ein Schulungsband und die damit zusammenhängende Persönlichkeit eines Extraterrestriers zu gewissenhaft ins Gehirn eingeprägt hatte. Erst vor drei Monaten hatte er sich hoffnungslos in eine Ärztin vom Planeten Melf IV verliebt, die zusammen mit anderen Spezialisten im Orbit Hospital zu Besuch gewesen war. Ein wahrhaft hoffnungsloser Fall also. Die Melfaner waren ELNTs — sechsbeinige, amphibische Wesen, die an Riesenkrabben erinnerten —, und während die eine Hälfte seines Verstands die ganze Geschichte für völlig lächerlich hielt, dachte die andere voller Verzückung an den hinreißend gemusterten Rückenpanzer, und er hätte am liebsten seine — nicht vorhandenen — Fühler nach dem Wesen ausgestreckt. Physiologiebänder waren für ihren Benutzer sicherlich ein zweifelhaftes Vergnügen, aber ihre Anwendung war unverzichtbar, weil man von keinem der Ärzte erwarten konnte, sich in einem Hospital, in dem Wesen der verschiedenartigsten Spezies behandelt wurden, alle notwendigen physiologischen Daten der Patienten zu merken. Diese fast unvorstellbare Datenmenge, die für eine angemessene Behandlung erforderlich war, wurde mittels Schulungsbändern weitergegeben, die nichts anderes waren als die Aufzeichnung der Gehirnströme von medizinischen Kapazitäten der jeweils betreffenden Spezies. Wenn zum Beispiel ein terrestrischer Arzt einen kelgianischen Patienten medizinisch zu versorgen hatte, speicherte er bis zum Abschluß der Behandlung eins der DBLF-Schulungsbänder im Gehirn und ließ es anschließend wieder löschen. Chefärzte, zu deren Aufgabe auch die Weiterbildung des medizinischen Personals gehörte, mußten diese Bänder häufig über einen längeren Zeitraum im Kopf behalten, was alles andere als ein Vergnügen für sie war. Sie konnten sich allenfalls damit trösten, daß es Diagnostikern noch schlechter erging als ihnen. Diagnostiker bildeten die geistige Elite des Orbit Hospitals. Ein Diagnostiker war eines jener seltenen Wesen, deren Psyche und Verstand als ausreichend stabil erachtet wurde, permanent bis zu zehn Bänder gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben. Ihren mit Daten vollgestopften Hirnen oblag in erster Linie die Aufgabe, medizinische Grundlagenforschung zu leisten und neue Krankheiten bislang unbekannter Lebensformen zu diagnostizieren und zu behandeln. Im Hospital gab es das geflügelte Wort — das angeblich vom Chefpsychologen selbst stammte —, daß jeder geistig Zurechnungsfähige, der freiwillig Diagnostiker werden wollte, schon von vornherein verrückt sei mußte. Mit einem Schulungsband wurden einem nämlich nicht nur die physiologischen Fakten einer Spezies ins Gehirn eingetrichtert, sondern auch die Persönlichkeit und das Gedächtnis des Wesens, das dieses Wissen besessen hatte. Praktisch setzten sich Diagnostiker freiwillig einer höchst drastischen Form multipler Schizophrenie aus, und da sämtliche Alienkomponenten, die in Ihren Hirnen herumgeisterten, in jeder Hinsicht unterschiedlich waren, wandten sie häufig nicht einmal dasselbe logische System an. Conway unterbrach seine Gedanken und kehrte wieder in die Gegenwart zurück, als sich Mannon erneut zu Wort meldete. „Das Komische an diesem faden Salatgeschmack ist, daß sich keins meiner beiden zweiten Ichs daran zu stören scheint. Ich meine, der Anblick des Salats macht dem einen schon ein wenig zu schaffen, aber nicht der Geschmack. Wohlgemerkt, dabei mag es dieses Zeug nicht einmal sonderlich gern, aber ihm wird eben nicht völlig schlecht davon. Gleichzeitig genießt mein anderes zweites Ich dieses Grünzeug mit geradezu glühender Leidenschaft. Ich würde so gern etwas anderes essen, aber mich selbst fragt ja keiner. Ach, wo wir gerade von glühender Leidenschaft reden, was ist eigentlich mit Ihnen und dieser Schwester Murchison?“ Mannon pflegte Gesprächsthemen mit einer solch atemberaubenden Geschwindigkeit zu wechseln, daß Conway manchmal glaubte, den Fahrtwind zu spüren. „Falls es mir die Zeit erlaubt, werde ich sie heute abend noch treffen“, entgegnete er zurückhaltend. „Aber zu Ihrer Information: Wir sind lediglich gute Freunde.“ „Hahaha…“, schnaubte Mannon abfällig. Conway unternahm nun seinerseits einen ähnlich abrupten Themawechsel, indem er Dr. Mannon von seiner bevorstehenden Aufgabe berichtete. Sein ehemaliger Vorgesetzter war zwar der netteste Mensch auf der Welt, aber er hatte die schreckliche Angewohnheit, Leute gerne aufzuziehen, und sei es zu den unmöglichsten Gelegenheiten. Jedenfalls gelang es Conway, daß der Name „Murchison“ bis zum Ende des Abendessens kein einziges Mal mehr erwähnt wurde. Nachdem er und Mannon sich voneinander getrennt hatten, begab sich Conway zum nächsten Kommunikator und sprach kurz mit einigen der terrestrischen wie extraterrestrischen Ärzte, die den Unterricht für die neu eingetroffenen Medizinalassistenten übernehmen sollten. Als er schließlich auf die Uhr schaute, stellte er fest, daß er noch fast eine Stunde Zeit hatte, bevor er an Bord der Vespasian gehen mußte, und beim Durchqueren der Korridore legte er ein Tempo vor, das sich für einen Chefarzt eigentlich nicht geziemte. Auf dem Schild über dem Eingang stand „Freizeitbereich der Spezies DBDG, DBLF, ELNT, GKNM & FGLI“. Conway ging hinein, tauschte rasch seinen weißen Arztkittel gegen eine Badehose und machte sich auf die Suche nach Schwester Murchison. Die täuschend echt wirkende künstliche Beleuchtung und die wirklich geniale Landschaftsgestaltung des Freizeitbereichs, der immerhin eine ganze Ebene des Orbit Hospitals einnahm, vermittelten einem die Illusion unendlicher Weite. Das Endprodukt war jedenfalls ein kleiner, von Felsen eingerahmter Meeresstrand, der zur See hin offen war. Das Wasser erstreckte sich scheinbar bis zum Horizont, der unmerklich in ein Hitzeflimmern überging. Der Himmel war blau und wolkenlos — realistische Wolkeneffekte waren nur schwer nachzuahmen, hatte einst ein Wartungsingenieur Conway verraten. Das Wasser in der Bucht schimmerte türkisblau und plätscherte in sanften Wellen gegen den leicht ansteigenden Strand, dessen weißer Sand für die Füße fast zu heiß war. Lediglich die künstliche Sonne, die nach Conways Geschmack ein wenig zu rötlich ausgefallen war, und die extraterrestrischen Grünpflanzen, die den Strand und die Felsen umsäumten, raubten einem die Illusion, man würde sich in irgendeiner Südseebucht auf der Erde befinden. Aber der Platz im Orbit Hospital war relativ knapp, und man konnte es nun einmal nicht jeder einzelnen Spezies gerecht machen. Außerdem erwartete man von Wesen, die zusammen arbeiten mußten, daß sie auch ohne Probleme ihre Freizeit gemeinsam verbringen konnten. Die bemerkenswerteste und dennoch völlig unsichtbare Besonderheit des Freizeitbereichs aber war, daß dort nur die halbe Erdanziehungskraft herrschte. Ein halbes Ge bedeutete, daß die Wesen, die eine höhere Gravitation gewöhnt waren und erschöpft hierherkamen, sich noch leichter erholen konnten, und diejenigen, die sich bereits frisch fühlten, hier geradezu quicklebendig wurden. Conway stand jetzt mit den Füßen im Wasser. Eine kleine, steile Welle näherte sich ihm im Zeitlupentempo und brach sich an seinen Knien. Die Wellenaktivität in der Bucht wurde nicht etwa künstlich erzeugt, sondern hing in ihrem Ausmaß von der körperlichen Größe, der Anzahl und der Betriebsamkeit der Badenden ab. Von einem der beiden Felsen ragten etliche Vorsprünge hervor, die durch verborgene Tunnel miteinander verbunden waren und den Gästen als Absprungschanze dienten. Conway kletterte auf den mit seinen mehr als fünfzehn Metern höchsten Felsvorsprung und hielt, von diesem Aussichtspunkt aus nach einem weiblichen DBDG-Wesen namens Murchison, bekleidet mit einem weißen Badeanzug, Ausschau. Schwester Murchison war allerdings weder im Restaurant auf dem gegenüberliegenden Felsen, noch im seichten Wasser am Strand oder in dem dunkelgrünen Wasser unterhalb der Felsvorsprünge zu sehen. Der Strand selbst war mit großen, kleinen, lederigen, schuppigen und pelzigen Gestalten übersät, die zumeist lang ausgestreckt im Sand lagen. Aber Conway hatte auch aus dieser Entfernung keine Mühe, die Menschen von den anderen Badegästen zu unterscheiden, da Terrestrier die einzige intelligente Spezies in der galaktischen Föderation mit einem Nacktheitstabu waren. Also konnte er jedes Wesen, das irgendein Kleidungsstück trug — und sei es noch so knapp bemessen —, als Angehörigen der Gattung Mensch betrachten. Plötzlich entdeckte er etwas Weißes, das teilweise von einem gelben und zwei grünen Stoffetzen verdeckt wurde. Das mußte Schwester Murchison sein, die wieder einmal von einigen Verehrern umgeben war. Er orientierte sich kurz und ging denselben Weg zurück, den er gerade gekommen war. Als er sich der Gruppe schließlich näherte, zogen sich die beiden Monitore, die um Schwester Murchison herumstanden, und ein Medizinalassistent, der von Ebene siebenundachtzig stammte, nur äußerst widerwillig zurück. „Hallo, tut mir leid, daß ich mich etwas verspätet hab“, sagte er mit einer Stimme, die zu seinem eigenen Entsetzen vor Aufregung viel zu hoch klang. Schwester Murchison beschattete ihre Augen mit der Hand und schaute zu ihm auf. „Ich bin auch gerade erst gekommen“, erwiderte sie lächelnd. „Warum legen Sie sich nicht einfach neben mich?“ Conway ließ sich in den Sand fallen, stützte sich aber auf einem Ellbogen ab, um Schwester Murchison sehen zu können. Die Krankenschwester besaß physiologische Merkmale, die es den männlichen Mitarbeitern des terrestrischen Personals anscheinend unmöglich machten, sie aus neutraler, — medizinischer Distanz zu betrachten. Zudem hatte die künstliche, aber mit UV-Strahlen angereicherte Sonne ihrem Körper eine betörende Bräune verliehen, die durch den aufregenden Kontrast zum weißen Badeanzug noch verstärkt wurde. Ihre dunkelbraunen Haare wehten störrisch in der künstlichen Brise, ihre Augen waren wieder geschlossen und ihre Lippen leicht geöffnet. Sie atmete tief und gleichmäßig, wie ein Mensch, der sich entspannte oder schlief, und was dabei mit ihrem Badeanzug angestellt wurde, verfehlte auch bei Conway nicht seine Wirkung. Hätte sie telepathische Fähigkeiten, schoß Conway plötzlich durch den Kopf, würde sie wahrscheinlich sofort aufspringen und um ihr Leben rennen. Sie öffnete nur ein Auge und sagte schnippisch: „Sie sehen gerade wie jemand aus, der am liebsten einen Urschrei von sich geben würde und sich mit beiden Fäusten auf seine frisch rasierte Männerbrust klopfen möchte.“ „Meine Brust ist nicht rasiert, sie ist von Natur aus unbehaart“, protestierte Conway lächelnd. „Aber ich möchte mich wenigstens einen Moment mal ernsthaft mit Ihnen unterhalten, und zwar möglichst allein. Ich meine.“ „Mir ist es egal, ob Ihre Brust behaart ist oder nicht“, besänftigte sie ihn. „Machen Sie sich deshalb also bloß keine Gedanken.“ „Das tue ich auch nicht“, antwortete er ungeduldig und fuhr beharrlich fort: „Hier geht es doch wirklich zu wie im Zirkus, könnten wir nicht. Oje! Vorsicht! Massenansturm!“ Er fuhr plötzlich mit der linken Hand zu ihr hinüber und hielt ihr die Augen damit zu, seine eigenen preßte er gleichzeitig fest zusammen. Nur wenige Meter entfernt stampften zwei Tralthaner mit ihren insgesamt zwölf elefantenartigen Beinen an ihnen vorbei und durchpflügten die seichten Stellen am Strand, wobei sie in einem Umkreis von fast fünfzig Metern die Umliegenden mit Sand und aufspritzendem Wasser besprühten. Da die Gravitation nur ein halbes Ge betrug, konnten die normalerweise langsamen und behäbigen FGLIs hier wie junge Lämmer herumhüpfen, und zudem blieben der aufgewirbelte Sand und das Wasser eine ganze Weile länger in der Luft. Erst als Conway sich völlig sicher war, daß kein Körnchen und kein Tröpfchen mehr in der Luft war, nahm er behutsam seine Hand von Schwester Murchisons Augen, allerdings nicht ganz. Nur zögernd und ein wenig unbeholfen strich er mit der Hand über ihre zarte Wange, bis ihr Kinn in seiner Handfläche lag. Dann fuhr er ihr sanft mit den Fingern durch das leicht gelockte Haar und streichelte sie hinter dem Ohr. Er spürte, wie sie sich zunächst etwas versteifte, sich dann aber wieder langsam entspannte. „Ehm. jetzt wissen Sie, was ich meine“, sagte er mit trockenem Mund. „Es sei denn, Sie haben Spaß daran, daß Ihnen weiterhin tonnenschwere Monster Sand und Wasser ins Gesicht sprühen.“ „Wir sind doch später noch allein, wenn Sie mich nach Hause bringen“, antwortete sie lachend. „Sicher, aber was passiert dann? Bestimmt dasselbe wie beim letztenmal!“ reagierte Conway sauer. „Wir schleichen uns auf Zehenspitzen an ihre Zimmertür heran, um bloß nicht Ihre Mitbewohnerin zu wecken, die wieder einmal Frühschicht hat, und dann dröhnt plötzlich diese verdammte Roboterstimme los.“ Conway begann mit Zornesröte im Gesicht eine automatische Stimme nachzuahmen und fuhr quäkend fort: „. soweit ich feststellen kann, sind Sie zwei Wesen der Klassifikation DBDG und verschiedenen Geschlechts. Weiterhin ist mir aufgefallen, daß Sie bereits seit zwei Minuten und achtundvierzig Sekunden eng nebeneinanderstehen. Unter diesen Umständen muß ich Sie bei allem Respekt auf den Paragraphen dreiundzwanzig, Absatz drei der Hausordnung für DBDG-Schwesternquartiere hinweisen, der sich auf die Beherbergung von männlichen Gästen bezieht und.“ Schwester Murchison erstickte fast vor unterdrücktem Lachen und stammelte: „Tut mir leid, das muß wirklich furchtbar frustrierend für Sie gewesen sein.“ Conway stellte verdrossen fest, daß ihr scheinbar bedauernder Gesichtsausdruck durch das vorangegangene unterdrückte Lachen leider verdorben wurde. Er rückte ein Stück näher zu ihr heran, umfaßte behutsam ihre Schulter und sagte: „Das war es wirklich und ist es auch immer noch. Ich will mit Ihnen reden, und ich werde leider keine Zeit haben, Sie heute abend zu Ihrer Unterkunft zu bringen. Aber ich möchte mich nicht hier mit Ihnen unterhalten, weil Sie immer ins Wasser verschwinden, sobald ich Sie in die Enge getrieben hab. Verstehen Sie mich bitte richtig, ich möchte Sie wirklich in die Enge treiben, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Ich muß Ihnen einfach einige ernste Fragen stellen. Unser rein freundschaftliches Verhältnis bringt mich nämlich allmählich um und.“ Die hübsche Schwester schüttelte nachdenklich den Kopf, nahm seine Hand von ihrer Schulter, drückte sie und sagte schließlich etwas verwirrt: „Kommen Sie, lassen Sie uns schwimmen gehen.“ Als Conway sie kurz darauf ins Wasser scheuchte, fragte er sich, ob sie vielleicht nicht doch ein wenig telepathisch veranlagt war; jedenfalls legte sie ein Tempo vor, als würde sie tatsächlich um ihr Leben rennen. Bei den hier herrschenden Gravitationsverhältnissen war das Baden ein fast berauschendes Erlebnis. Die Wellen waren hoch und steil, und der kleinste Wasserspritzer schien sekundenlang in der Luft zu schweben, wobei jeder einzelne Tropfen rot und gelb in der Sonne schillerte. So konnte der schlecht ausgeführte Hechtsprung eines Wesens, das einer besonders schwergewichtigen Spezies angehörte, wirklich atemberaubende Effekte erzielen — insbesondere FGLIs neigten mit ihren massiven Körpern immer wieder zu unglaublichen Bauchklatschern. Conway kraulte gerade wie aufgedreht am Rande eines gewaltigen Wellenbergs, der von einem Tralthaner verursacht worden war, hinter Schwester Murchison her, als ein knackendes Geräusch das Einschalten der Lautsprecher auf den Felsen signalisierte. „Doktor Conway, bitte melden Sie sich zur Einschiffung in Schleuse sechzehn. Doktor Conway, bitte.!“ dröhnte es über die Bucht hinweg. Als sie kurz darauf den Strand hinaufgingen, sagte Schwester Murchison in einem für sie ungewohnt ernsten Ton: „Ich hab gar nicht gewußt, daß Sie heute abreisen müssen. Ich ziehe mich rasch um und werde Sie zum Schiff begleiten.“ Im Vorraum der Schleuse sechzehn wurde Conway bereits von einem Mitglied des Monitorkorps erwartet. Als der Monitor sah, daß Conway in weiblicher Begleitung war, sagte er nur: „Wir legen in fünfzehn Minuten ab, Sir“ und zog sich dann diskret zurück. Conway und Schwester Murchison blieben neben dem Tunnelgang stehen, durch den der Weg zur Schleuse führte. Sie sah ihm in die Augen, aber ihr Gesicht verriet keine besondere Regung, es war einfach nur schön und sehr begehrenswert. Conway erzählte ihr noch immer von der Wichtigkeit der vor ihm liegenden Aufgabe, obwohl er eigentlich über etwas ganz anderes reden wollte. Zu allem Überfluß sprach er viel zu hastig und zerfahren. Als er jedoch den Monitor durch den Schleusentunnel zurückkommen hörte, zog er Schwester Murchison an sich heran und küßte sie stürmisch. Er vermochte nicht einmal zu sagen, ob sie seinen Kuß erwidert hatte, er war viel zu überstürzt und ungestüm vorgegangen. „Ich werde etwa drei Monate fort sein“, sagte er mit einem Unterton, der erklärend und entschuldigend zugleich klingen sollte. Dann schloß er mit gekünstelter Leichtigkeit: „Und spätestens ab morgen früh werde ich es kein bißchen bereuen, was ich eben getan hab.“ 8. Kapitel Einer der Monitore, der sich als Major Stillman vorstellte, begleitete Conway zu seiner Kabine. Der Äskulapstab über dem Rangabzeichen wies ihn zudem als Korpsarzt aus. Trotz der sehr zurückhaltenden und höflichen Ausdrucksweise des Majors gewann Conway den Eindruck, daß er nicht so leicht einzuschüchtern war. Wie ihm der Major abschließend sagte, würde der Captain ihn gern im Kontrollraum sehen, um ihn an Bord persönlich willkommen zu heißen, nachdem er sich in seiner Kabine eingerichtet habe. Kurz darauf stellte sich Conway bei Captain Colonel Williamson vor, der ihm gleich die Erlaubnis erteilte, sich auf dem Schiff nach Belieben zu bewegen. Diese Auszeichnung wurde einem auf einem Schiff der galaktischen Föderation nur äußerst selten zuteil, und Conway fühlte sich entsprechend geehrt. Allerdings mußte er bald feststellen, daß er im Kontrollraum zunächst allen nur im Weg stand, obwohl sich niemand bei ihm beschwerte. Beim darauffolgenden Versuch, das Schiffsinnere ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen, verirrte er sich gleich zweimal. Der schwere Monitorkreuzer Vespasian war weit größer, als Conway zunächst angenommen hatte. Nachdem er von einem freundlichen Monitor mit verständnisvoller Miene zurückgebracht worden war, beschloß er, die meiste Zeit der Reise in seiner Kabine zu verbringen, und sich dort mit seiner vor ihm liegenden Aufgabe vertrauter zu machen. Colonel Williamson hatte ihm zwar Unterlagen ausgehändigt, die bis ins letzte Detail gingen und auch dank der hervorragenden Informationsquellen des Monitorkorps auf dem aktuellsten Stand waren, aber zunächst wollte er die Akte studieren, die ihm O’Mara mitgegeben hatte. Als Lonvellin vor einiger Zeit ins Orbit Hospital eingeliefert worden war, war dieser EPLH eigentlich auf dem Weg zu einem Planeten gewesen, der in einer praktisch unerforschten Region der Kleinen Magellanschen Wolke lag und über den böse Gerüchte kursierten. Kurz nach seiner Entlassung hatte er die Reise fortgeführt und einige Wochen später Kontakt mit dem Monitorkorps aufgenommen. Die Verhältnisse, die er auf dem betreffenden Planeten laut eigener Aussage vorgefunden hatte, grenzten sowohl in soziologischer als auch in medizinischer Hinsicht an Barbarei. Was die medizinische Seite anging, brauchte er dringend Unterstützung, bevor er die vielen gesellschaftlichen Krankheiten wirkungsvoll bekämpfen konnte, von denen dieser wirklich kranke Planet befallen war. Außerdem bat er, ihm einige Angehörige der physiologischen Klassifikation DBDG zu schicken, da die Einheimischen derselben Gruppe angehörten und allen fremdartigen Lebensformen gegenüber entsetzlich feindlich gesinnt waren — ein Umstand, durch den Lonvellins Aktivitäten offenbar am meisten gehemmt wurden. In Anbetracht der enormen Intelligenz dieses Wesens und der Erfahrung seiner Spezies bei der Lösung komplizierter gesellschaftlicher Probleme, stellte die Tatsache, daß er überhaupt um irgendwelche Hilfe bat, schon an sich eine große Überraschung dar. Bei dieser Unternehmung hatten sich die Dinge für Lonvellin allerdings in eine völlig falsche, fast fatale Richtung entwickelt, und allein durch die notwendig gewordene massive Anwendung verschiedenster Verteidigungstechniken war er bereits so sehr in Anspruch genommen worden, als daß er irgend etwas anderes hätte unternehmen können. Lonvellins Bericht zufolge hatte er zunächst den Planeten während mehrerer Umkreisungen beobachtet, wobei er per Translator verschiedene Sender abgehört hatte. Besonders war ihm dabei der erstaunlich niedrige Stand der Industrialisierung aufgefallen, der in einem so merkwürdigen Kontrast zu dem einzigen Raumfughafen auf dem Planeten stand. Als er glaubte, die nach seinem Dafürhalten notwendigen Informationen beisammen und ausgewertet zu haben, suchte er sich den seiner Ansicht nach geeignetsten Landeplatz aus. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß dieser Planet, den die Bewohner Etla nannten, früher einmal eine wohlhabende Kolonie gewesen war, die sich aus wirtschaftlichen Gründen zurückentwickelt und heute nur noch wenige Verbindungen zur Außenwelt hatte; aber irgendwelche Kontakte schienen noch immer zu bestehen. Das wiederum hieß, daß ihm die erste und gewöhnlich schwierigste Aufgabe eigentlich hätte stark erleichtert werden müssen — denn normalerweise mußte man die Bewohner eines Planeten erst einmal dazu bringen, einem Alien zu vertrauen, der für sie buchstäblich vom Himmel gefallen war und dessen Anblick sie möglicherweise in Angst und Schrecken versetzt hatte. Die Etlaner aber hätten an die Existenz außerplanetarischer Wesen gewöhnt sein müssen. Deshalb wollte er die Rolle eines bemitleidenswerten, leicht verängstigten und etwas dummen Wesens aus einer anderen Welt spielen, das angeblich wegen dringend anstehender Reparaturarbeiten zu einer Notlandung gezwungen worden war. Für die Wiederinstandsetzung seines Raumschiffs wollte er die Etlaner um verschiedene völlig absonderliche und wertlose Reparaturhilfsmittel aus Metall- oder Gesteinsresten bitten und so tun, als würde es ihm ungeheuer schwerfallen, den Etlanern verständlich zu machen, was er genau benötigte. Für diesen Ramsch beabsichtigte er, ihnen dann im Austausch äußerst nützliche und wertvolle Gegenstände zu geben, mit denen die etwas findigeren Etlaner schon bald etwas würden anfangen können. Zwar erwartete Lonvellin, während dieser Phase schamlos ausgebeutet zu werden, das war ihm aber egal, denn seiner Überzeugung nach würde sich die Lage allmählich ändern — anstatt ihnen immer wertvollere Gegenstände zu geben, wollte er ihnen seine noch wertvolleren Dienste anbieten. Danach hatte er vor, sie wissen zu lassen, daß der Schaden an seinem Schiff irreparabel sei, und mit der Zeit würden sich die Einheimischen als Dauergast an ihn gewöhnt haben. Schließlich würde alles nur noch eine Frage der Zeit sein, und davon hatte Lonvellin ja bekanntlich genug. Um diesen Plan in die Tat umzusetzen, war er damals direkt neben einer Straße gelandet, die zwei kleine Städte miteinander verband, und schon kurz darauf hatte sich ihm die erste Gelegenheit geboten, sich einem Einheimischen zu erkennen zu geben. Aber obwohl er während dieser Kontaktaufnahme sehr behutsam vorging und den Etlaner immer wieder per Translator zu beruhigen versuchte, ergriff dieser sofort die Flucht. Einige Stunden später wurden vorsintflutliche kleine Granaten mit chemischen Sprengköpfen auf sein Schiff abgefeuert, und das gesamte Gebiet, das dicht bewaldet war, wurde mit flüchtigen Chemikalien überzogen und war binnen kurzem völlig entlaubt. Ohne zu wissen, warum diese raumfahrterfahrene Spezies außerplanetarischen Wesen gegenüber derart feindlich gesinnt war, war Lonvellin in dieser Situation ein weiteres Vorgehen unmöglich. Und da er zu diesem Zeitpunkt allein nicht mehr weiterwußte, bat er um terrestrische Hilfe. Kurz darauf traf ein Monitorkreuzer mit Spezialisten für den Erstkontakt mit Aliens ein. Nachdem sie ihrerseits die Lage eingeschätzt hatten, ohne aus ihrer Landung ein Geheimnis gemacht zu haben, entdeckten sie bald, daß die Etlaner Angst vor fremden Wesen hatten, weil sie glaubten, diese würden Krankheiten übertragen. Besonders bemerkenswert daran war, daß sie der Meinung waren, ihnen drohe von Weltraumreisenden der eigenen oder einer artverwandten Spezies keine Ansteckungsgefahr, obwohl diese sehr viel eher als Krankheitsüberträger in Frage kamen — es galt nämlich als eine medizinisch unumstößliche Tatsache, daß sich verschiedenartige Spezies mit ihren Krankheiten gegenseitig nicht anstecken konnten. Und wie Conway meinte, hätte jede raumfahrterfahrene Spezies dies wissen müssen, da es sich um eine der ersten Erfahrungen handelte, die eine weltraumreisende Zivilisation machte. Trotz seiner geistigen Müdigkeit versuchte er gerade, diesen merkwürdigen Widerspruch mit Hilfe eines dicken Nachschlagewerks über das Kolonisationsprogramm der Föderation zu klären, als ihm der Besuch Major Stillmans eine willkommene Unterbrechung bot. „Wir werden in drei Tagen unser Ziel erreichen, Doktor“, begann der Major, „und ich denke, es ist an der Zeit, Sie ein wenig in Tarnungs- und Spionagetechniken zu unterweisen. Damit meine ich in erster Linie, Sie mit der Kleidung der Etlaner vertraut zu machen. Es handelt sich dabei um ein wirklich reizendes Kostüm, obwohl ich selbst nicht die passenden Knie für einen Schottenrock hab.“ Wie Stillman weiter erläuterte, hatte das Monitorkorps bei der Kontaktaufnahme mit den Etlanern zwei verschiedene Methoden angewandt. Bei der einen Vorgehensweise waren die Monitore unbemerkt gelandet, wobei sie etlanisch gesprochen und sich die Kleidung der Planetenbewohner angezogen hatten, so daß aufgrund der täuschend echt wirkenden äußerlichen Ähnlichkeit keine andere Tarnung notwendig gewesen war. Auf diese Weise hatten sie in erster Linie die aus letzter Zeit herrührenden Informationen erhalten, und bislang war noch kein Agent enttarnt worden. Bei der anderen Methode hatten sie ihre außerplanetarische Herkunft nicht verleugnet und den Etlanern per Translator zu verstehen gegeben, sie hätten von deren mißlichen Lage gehört und seien gekommen, um ihnen medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Die Etlaner hatten sich mit dieser Erklärung abgefunden und ihrerseits den Monitoren offenbart, ihnen seien in der Vergangenheit bereits immer wieder ähnliche Angebote gemacht worden, und obwohl alle zehn Jahre ein, wie sie es nannten, „Schiff des Imperiums“ mit den neuesten Medikamenten kommen würde, habe sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung ständig verschlechtert. Also wurde das Vorhaben der Monitore, die gesundheitliche Situation auf dem Planeten zu verbessern, zwar begrüßt, aber die Etlaner weckten bei ihnen den Eindruck, als würden sie das Korps trotz aller unterstellten positiven Absichten lediglich für eine weitere Gruppe von Kurpfuschern halten. Sobald sich das Gespräch aus irgendeinem Anlaß um Lonvellins Landung drehte, gaben sich die Monitore selbstverständlich völlig ahnungslos und äußerten sich dazu stets nur in sehr zurückhaltendem und höchst gemäßigtem Ton. Wie Stillman weiter ausführte, handelte es sich um eine äußerst komplizierte Situation, die mit jedem neu eintreffenden Lagebericht der Agenten noch verworrener wurde. Lonvellin habe aber eine herrlich einfache Idee, um das ganze Problem mit einem Schlag zu lösen. Als Conway von Lonvellins Plan hörte, wünschte er plötzlich, er hätte den EPLH mit seinen Heilkünsten nicht so stark beeindruckt und wäre wieder in der wohlvertrauten Umgebung des Orbit Hospitals. Die Verantwortung für die Gesundheit der Gesamtbevölkerung eines Planeten übertragen bekommen zu haben, verursachte bei ihm ein höchst unbehagliches Gefühl in der Magengegend. Die Etlaner wurden nicht nur von vielen Krankheiten heimgesucht, sondern litten auch an Engstirnigkeit und Aberglauben — ihre Reaktion auf das Erscheinen Lonvellins war ein schockierendes Beispiel ihrer Intoleranz gegenüber außerplanetarischen Wesen, die ein für sie fremdartiges Aussehen hatten. Durch Krankheiten wurde dieser Fremdenhaß zusätzlich geschürt, der seinerseits die Leiden nur verschlimmerte. Lonvellin hoffte nun, diesen Teufelskreis durchbrechen zu können, indem er die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung so merklich verbesserte, daß dieser Fortschritt selbst dem dümmsten und engstirnigsten Etlaner nicht verborgen bleiben konnte. Danach sollten sich die Monitore öffentlich dazu bekennen, die ganze Zeit unter seiner Anleitung gehandelt zu haben. Er hoffte, dadurch die fremdenfeindlich gesinnten Etlaner so sehr in die Enge zu treiben, daß sie sich ihrer alten Ansichten nur noch schämen konnten. In dem darauf folgenden Klima wachsender Toleranz wollte Lonvellin das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen, um schließlich zu seinem eigentlichen Vorhaben zurückzukehren, nämlich die Etlaner zu gesunden und glücklichen Wesen mit einer blühenden Kultur zu machen. Conway sagte Stillman, er selbst sei zwar kein Fachmann auf diesem Gebiet, aber Lonvellins Plan klänge recht plausibel. „Diesbezüglich kann ich mich wohl als Experten bezeichnen“, entgegnete Stillman, „und der Plan ist wirklich gut — wenn er funktioniert.“ Einen Tag vor ihrer Ankunft, wurde Conway von Captain Williamson gebeten, für einige Minuten in den Kontrollraum zu kommen. Dort wurde gerade die Position des Schiffes berechnet, um die letzte Etappe der Reise vorzubereiten. Die Vespasian war dazu aus dem Hyperraum aufgetaucht und hatte sich relativ dicht einem Doppelsternsystem genähert, von dem ein Planet ein Wandelstern mit ständig wechselnder Helligkeit war. Voller Ehrfurcht empfand Conway diesen Anblick als eines jener seltener Naturschauspiele, bei dem sich Menschen nur noch klein und einsam vorkamen und das Verlangen verspürten, näher zusammenzurücken und miteinander zu reden, um inmitten all dieser Pracht und Größe nicht den Glauben an ihre eigene, verhältnismäßig lächerliche Existenz zu verlieren. In solchen Momenten gab es keine konventionellen Schranken mehr, und auf einmal redete Williamson in einem Ton, der dem zuhörenden Conway verriet, daß der Captain auch nur ein Mensch mit ganz normalen Empfindungen war, der ein wenig aus sich herauskommen wollte. „Ehm, Doktor Conway, ich möchte nicht, daß es sich so anhört, als wollte ich Lonvellin kritisieren“, begann er vorsichtig, und es klang wie eine Entschuldigung, „zumal er Ihr Patient war und Sie mit ihm vielleicht sogar befreundet sind. Ich möchte auch nicht, daß Sie denken, es würde mich ärgern, daß er einen Monitorkreuzer angefordert hat und ganze Kompanien für sich als Laufburschen einsetzt. Nein, so ist es wirklich nicht.“ Williamson nahm seine Schirmmütze ab und strich mit dem Daumen eine Falte am Stirnband glatt. Conway warf einen Blick auf das schüttere, graue Haar und die tiefen Sorgenfalten auf seiner Stirn, die zuvor vom Schirm verdeckt worden waren. Williamson setzte die Mütze wieder auf und verwandelte sich so wieder in den besonnenen und erfahrenen Captain zurück. „. um es frei heraus zu sagen, Doktor“, fuhr er fort, „ich würde Lonvellin als einen ausgesprochen begabten Amateur bezeichnen. Solche Leute scheinen nichts Besseres vorzuhaben, als uns Profis Scherereien zu bereiten, indem sie unsere sämtlichen Termine und Pläne und so weiter durcheinanderbringen. Aber selbst das stört mich nicht sonderlich, zumal die von Lonvellin aufgedeckte Situation auf Etla wirklich dringender Veränderung bedarf. Was ich eigentlich sagen will, ist, daß wir neben unseren Aufgaben als Raumvermesser, Kolonisten und Ordnungsmacht durchaus selbst Erfahrungen bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme haben, wie sie zum Beispiel auf Etla herrschen. Ich räume gerne ein, daß es im Monitorkorps weder Leute gibt, die mit Lonvellins Fähigkeiten auch nur ansatzweise mithalten können, noch sind wir derzeit selbst in der Lage, einen Plan vorzuschlagen, der besser als Lonvellins wäre.“ Conway fragte sich allmählich, ob der Captain langsam auf den Punkt kommen würde oder ob er bloß Dampf ablassen wollte. Allerdings schätzte er Williamson nicht als einen notorischen Nörgler ein. „Da Sie neben Lonvellin die meiste Verantwortung an diesem Projekt tragen“, fuhr der Captain hastig fort, „ist es nur fair, Sie zum einen wissen zu lassen, was wir von der ganzen Geschichte halten, und Sie zum anderen darüber zu informieren, was wir selbst zu tun gedenken. Derzeit arbeiten auf Etla doppelt soviel unserer Leute, als Lonvellin annimmt, und es sind noch mehr unterwegs. Persönlich hab ich vor unserem langlebigen Freund den allergrößten Respekt, aber ich werde einfach nicht das Gefühl los, daß die Situation auf Etla weit verworrener ist, als selbst Lonvellin klar ist.“ Conway dachte kurz nach, dann sagte er: „Ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, warum bei einem Projekt, bei dem es in erster Linie um die Erforschung der Hygiene- und Lebensgewohnheiten einer Spezies geht, ein Schiff wie die Vespasian eingesetzt wird. Glauben Sie, daß die Situation, die wir dort vorfinden werden. ehm. gefährlicher ist, als zunächst angenommen wurde?“ „Ja“, antwortete der Captain knapp. Im selben Augenblick verschwand das riesige Doppelsternsystem auf dem großen Monitor und wurde durch das Bild eines normalen Sterns des G-Typs ersetzt, auf dem auch der winzige, sichelförmige Umriß eines Planeten zu erkennen war, der sich in etwa fünfzehn Millionen Kilometern Entfernung zu seiner Sonne befand. Bevor Conway auch nur eine der vielen Fragen stellen konnte, die ihn plötzlich quälten, informierte ihn der Captain, daß die Vorbereitungen für die letzte Etappe der Reise nun abgeschlossen seien und er von nun an bis zur Landung alle Hände voll zu tun habe. Mit dem Ratschlag, er solle sich bis zur Ankunft auf Etla soviel Schlaf wie möglich gönnen, komplimentierte der Captain Conway aus dem Kontrollraum heraus. In seiner Kabine zog sich Conway gedankenverloren und, wie er zu seiner Zufriedenheit feststellte, fast automatisch aus. Sowohl Stillman als auch er selbst hatten nämlich während der vergangenen Tage ausschließlich etlanische Kleidung getragen — eine Bluse, einen Kilt, eine mit Taschen besetzte Bauchschärpe, eine Baskenmütze und einen theatralisch wirkenden Umhang, der bis zu den Waden reichte und eigentlich nur im Freien angelegt wurde. Mittlerweile fühlte er sich in dieser Verkleidung regelrecht wohl, und das selbst während der gemeinsamen Essenspausen mit den Offizieren der Vespasian. Dennoch hatten die abschließenden Bemerkungen des Captains bei ihm ein unbehagliches Gefühl hinterlassen. Williamson hielt die Situation auf Etla immerhin für so gefährlich, daß sie nach seinem Dafürhalten den Einsatz des größten Polizeischiffs rechtfertigte, das dem Monitorkorps derzeit zur Verfügung stand. Aber warum? Wo lag die Gefahr? Um eine militärische Bedrohung konnte es sich auf Etla nicht handeln. Das Schlimmste, was die Etlaner anrichten konnten, war das, was sie Lonvellins Schiff angetan hatten, und dabei hatten sie allenfalls die Gefühle des EPLH verletzt, sonst aber nichts erreicht. Folglich mußte die Gefahr irgendwoher von draußen kommen. Plötzlich glaubte Conway zu wissen, was dem Captain Kopfschmerzen bereitete. Das Imperium… In einigen der Berichte war das Imperium erwähnt worden. Bislang war es die große Unbekannte. Die Beobachtungsschiffe des Monitorkorps hatten mit dem Imperium noch keinen Kontakt aufgenommen, was allerdings nicht weiter verwunderlich war, da dieser Sektor erst in etwa fünfzig Jahren vermessen werden sollte — und wenn Lonvellin an seinem Vorhaben nicht vorzeitig gescheitert wäre, hätte man diese Gegend niemals aufgesucht. Man wußte nur, daß Etla ein Bestandteil dieses Imperiums war und der Planet von ihm in regelmäßigen, wenn auch nur relativ großen Abständen mit Medikamenten versorgt wurde. Nach Conways Auffassung sagten die Qualität dieser Arzneimittel und der lange Zeitraum zwischen den einzelnen Lieferungen eine Menge über die Wesen aus, die für diese Hilfssendungen verantwortlich waren. Auf medizinischem Gebiet konnten sie nicht sehr weit fortgeschritten sein, sonst hätten die Medikamente wenigstens einige der derzeit auf Etla grassierenden Epidemien eingedämmt, und sei es nur vorübergehend. Außerdem waren diese Wesen höchstwahrscheinlich arm, sonst wären die Schiffe sicherlich in kürzeren Zeitabständen gekommen. Conway würde sich nicht wundern, wenn sich dieses mysteriöse Imperium lediglich als ein Mutterplanet mit einigen daniederliegenden Kolonien entpuppen würde. Am wichtigsten für ihn aber war, daß ein Imperium — sei es nun groß oder klein —, das seine heruntergewirtschafteten Kolonien regelmäßig mit Medikamenten versorgte, alles andere als eine Gefahr oder Bedrohung darstellen konnte. Ganz im Gegenteil, denn nach den ihm zur Verfügung stehenden Informationen mußte er die Vorgehensweise dieses Imperiums sogar gutheißen. Während er sich ins Bett legte, sagte er sich, daß Captain Williamson offenbar dazu neigte, sich um alles zuviel Sorgen zu machen. 9. Kapitel Die Vespasian landete. Auf dem Hauptbildschirm im Kommunikationsraum erkannte Conway eine rissige, weiße Betonpiste, die sich bis zum einen Kilometer entfernten Rand des Flugfelds erstreckte. Dahinter gingen die feineren Einzelheiten der Vegetation und der Architektur, durch die die Landschaft ansonsten fremd gewirkt hätte, im Hitzefimmern unter. Der Beton war von Staub und vertrockneten Blättern übersät, und der sehr erdähnliche Himmel war stellenweise von bizarren, kleinen Wolkenhaufen verhangen. Das einzige weitere Schiff auf dem Flugfeld war ein Kurierschiff des Monitorkorps. Es befand sich in der Nähe des leerstehenden Verwaltungsgebäudes, das von den etlanischen Behörden den Besuchern zur Nutzung als Bodenstützpunkt zur Verfügung gestellt worden war. Der Captain, der hinter Conway stand, sagte: „Doktor, Sie verstehen bestimmt, daß Lonvellin sein Schiff unmöglich verlassen kann. Außerdem würden wir unsere momentan guten Beziehungen zu den Einheimischen aufs Spiel setzen, wenn wir uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit ihm treffen. Aber dafür haben wir ja hier diesen Großbildschirm. Entschuldigen Sie bitte.“ Es knackte, und plötzlich blickte Conway in den Kontrollraum von Lonvellins Schiff. Über den größten Teil des Schirms breitete sich eine lebensgroße Darstellung von Lonvellin selbst aus, der sich im Vordergrund des Raums befand. „Guten Tag, Freund Conway“, dröhnte die Stimme des EPLHs aus dem Lautsprecher. „Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits, Sir“, entgegnete Conway. „Ich hoffe, Sie befinden sich bei guter Gesundheit.“ Diese Nachfrage war keine bloße Höflichkeitsfloskel. Denn Conway wollte wissen, ob es zwischen Lonvellin und seinem Leibarzt — dieser intelligenten, virusähnlichen Zellkolonie, die im Wirtskörper ihres Patienten lebte — auf zellularer Ebene weitere „Mißverständnisse“ gegeben hatte. Schließlich hatte Lonvellins Arzt damals im Orbit Hospital ziemliches Aufsehen erregt, und dort stritt man sich immer noch darüber, ob man ihn als Arzt oder als Krankheit einstufen sollte. „Ich bin bei ausgezeichneter Gesundheit, Doktor“, antwortete Lonvellin und kam dann ohne Umschweife auf die bevorstehende Angelegenheit zu sprechen. Conway kehrte mit seinen Gedanken schnell in die Gegenwart zurück und konzentrierte sich auf das, was der EPLH zu sagen hatte. Die Instruktionen, die Conway von Lonvellin erhielt, waren allgemeiner Natur. Er sollte die Arbeit der medizinischen Offiziere des Korps auf Etla, nämlich das Sammeln von Daten, koordinieren. Darüber hinaus riet ihm Lonvellin, sich auch mit der weiteren Entwicklung außerhalb seines Spezialgebiets auf dem laufenden zu halten, weil die soziologischen und medizinischen Aspekte des Problems sehr eng miteinander verknüpft seien. Und die soziologischen Probleme schienen mit dem Eintreffen der letzten Berichte sogar noch verwirrender geworden zu sein. Lonvellin hoffte, daß ein für die Vielschichtigkeit eines multikulturellen Hospitals geschulter Verstand ein vernünftiges Schema in diese Flut sich widersprechender Tatsachen bringen könnte, und Conway würde sich ohne Zweifel über die Dringlichkeit dieser Angelegenheit im klaren sein und unverzüglich mit der Arbeit beginnen wollen. „. und ich hätte außerdem gerne ein paar Angaben und Daten über den Terrestrier Clarke, der in Abschnitt fünfunddreißig tätig ist“, fuhr Lonvellin ohne Pause fort, „damit ich die Berichte dieses Mannes richtig einschätzen kann.“ Als dann Captain Williamson die von Lonvellin gewünschten Informationen gab, tippte Stillman Conway auf den Arm und gab ihm durch ein Nicken zu verstehen, mit ihm von Bord zu gehen. Zwanzig Minuten später befanden sie sich auf der Ladefläche eines abgedeckten Lastwagens auf dem Weg zum Flugfeldrand. Zur Tarnung hatte man Conways Schädel und ein Ohr verbunden. Trotzdem war er ein wenig beunruhigt und kam sich mit dem Verband ein bißchen dumm vor. „Wir bleiben hier versteckt, bis wir das Raumhafengelände verlassen haben“, beruhigte ihn Stillman. „Erst dann setzen wir uns nach vorne zum Fahrer. Mittlerweile reisen zwar viele Etlaner mit unseren Leuten, aber es könnte uns möglicherweise doch verdächtig machen, wenn man uns vom Schiff kommen sieht. Wir werden auch nicht an der Bodenzentrale anhalten, sondern direkt in die Stadt fahren. Ich finde nämlich, Sie sollten einige Ihrer Patienten so bald wie möglich sehen.“ Conway erwiderte ernst: „Ich weiß zwar, daß die Symptome bei mir rein psychosomatisch sind — aber ich hab nicht nur kalte Füße bekommen, sondern sie scheinen sich sogar schon in einem fortgeschrittenen Stadium der Erfrierung zu befinden.“ Stillman lachte. „Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Doktor“, beruhigte er ihn. „Durch den Translator, der im Verband am Ohr steckt, bekommen Sie ja alles mit, was passiert. Außerdem müssen Sie sowieso überhaupt nicht sprechen, weil ich erklären werde, daß Ihre Kopfverletzung vorübergehend Ihr Sprachzentrum in Mitleidenschaft gezogen hat. Aber sobald Sie später ein bißchen von der Sprache aufgeschnappt haben, sollten Sie — nur als guter Tip von mir — anfangs nur stottern. So ein Sprachfehler verschleiert die Tatsache, daß der Sprecher nicht den ortsüblichen Dialekt oder Akzent spricht — so ein offensichtlicher Fehler verbirgt also alle kleineren Unzulänglichkeiten. Unsere Geheimagenten haben nämlich nicht alle eine umfassende Sprachausbildung genossen“, fügte er hinzu, „und deshalb sind solche Tricks leider notwendig. Sie dürfen nur auf keinen Fall vergessen, sich niemals länger an ein und demselben Ort aufzuhalten, als daß man die augenfälligeren Eigenarten Ihres Verhaltens bemerken könnte.“ An dieser Stelle bemerkte der Fahrer, daß sie gerade an einer Blondine vorbeigekommen seien, in deren Nähe er sein ganzes Leben wunschlos glücklich verbringen könnte. Stillman fuhr fort: „Trotz der unanständigen Andeutungen von Monitor Briggs hier liegt unser bester Schutz womöglich darin, mit welcher geistigen Einstellung wir an unsere Arbeit herangehen, und in der Tatsache, daß unsere Absichten gegenüber den Etlanern vollkommen ehrenhaft sind. Denn wären wir feindliche Agenten und fest entschlossen, Sabotage zu betreiben oder geheime Informationen für einen zukünftigen Krieg zu sammeln, würde man uns mit viel größerer Wahrscheinlichkeit schnappen. Dann wären wir verkrampfter, würden uns zu sehr bemühen, natürlich zu wirken, wären selbst viel zu mißtrauisch und deshalb auch für Fehler anfälliger.“ „Das klingt bei Ihnen alles so einfach“, entgegnete Conway zweifelnd, trotzdem fühlte er sich jetzt etwas beruhigter. Der Lastwagen setzte sie in der Stadtmitte ab, und sie sahen sich ein wenig zu Fuß um. Als erstes fiel Conway auf, daß es zwar nur sehr wenig große oder neu aussehende Gebäude gab, jedoch selbst die ältesten ausgesprochen gut erhalten waren. Außerdem hatten die Etlaner eine sehr ansprechende Art, die Fassaden ihrer Häuser mit Blumen zu schmücken. Er sah die Menschen; die Männer und Frauen, die arbeiteten oder einkauften oder Geschäften nachgingen, über deren Art er zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal die leisesten Vermutungen anstellen konnte. Er mußte sie einfach für Männer und Frauen halten, für männliche und weibliche Menschen, und nicht für eine Ansammlung von wildfremden geschlechtslosen Aliens. Er sah die verrenkten Glieder, die Krücken und die von Narben zerpflügten Gesichter. Sein analytischer Blick erkannte und bestimmte Krankheitsbilder, die bereits seit über einem Jahrhundert unter den Bürgern der Föderation ausgerottet waren. Und überall bot sich ihm ein Anblick, den jeder kennt, der schon einmal in einem Hospital gewesen ist oder dort gearbeitet hat — nämlich wie die weniger schwer erkrankten Patienten all denen großzügig und selbstlos jedwede Hilfe zukommen ließen, die in schlechterer Verfassung als sie selbst waren. Als Conway plötzlich bewußt wurde, daß er sich gar nicht auf der Station eines Hospitals befand, auf der solche Bilder erfreulich normal waren, sondern auf der Straße in einer Stadt, verschlug es ihm die Sprache, und er blieb unwillkürlich wie angewurzelt stehen. „Was mich wirklich trifft, ist, daß viele dieser Leiden heilbar sind“, sagte er, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. „Vielleicht sogar alle. Schließlich hatten wir seit einhundertundfünfzig Jahren keinen Fall von Epilepsie mehr und.“ „. und am liebsten würden Sie jetzt auf alle und jeden mit einer Spritze losgehen und ihnen die angezeigten Gegenmittel verabreichen“, warf Stillman mit grimmiger Miene ein. „Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß es auf dem gesamten Planeten so aussieht wie hier. Und schließlich würde es überhaupt nichts nützen, nur eine Handvoll Menschen zu heilen, Sie sind nämlich für eine sehr große Station verantwortlich, Doktor.“ „Ich hab die Berichte gelesen“, entgegnete Conway knapp. „Allerdings hat mich das darin enthaltene Zahlenmaterial nicht auf die reale Situation vorbereitet, die sich einem hier.“ Er ließ den Satz unvollendet. Sie hatten an einer belebten Kreuzung haltgemacht, und Conway bemerkte, daß sowohl der Fußgänger- als auch der Fahrzeugverkehr entweder langsamer geworden oder sogar ganz zum Stillstand gekommen war. Schließlich sah er auch den Grund dafür. Ein großer Wagen kam die Straße entlang. Er war vollständig rot lackiert und mit rotem Stoff behangen und besaß, anders als die übrigen Fahrzeuge in seiner Umgebung, keinen Eigenantrieb. An jeder Seite waren in gleichmäßigen Abständen kurze Griffe befestigt, und an jedem Griff ging, humpelte oder hinkte ein Etlaner und schob den Wagen voran. Conway wußte bereits, daß er hier Zeuge einer Beerdigung wurde, noch bevor Stillman seine Baskenmütze abnehmen und er dessen Beispiel folgen konnte. „Und jetzt werden wir das Hospital besuchen“, sagte Stillman, als die Prozession vorbeigezogen war. „Falls jemand Fragen stellt, lautet meine Geschichte, daß wir nach einem kranken Verwandten namens Mennomer suchen, der letzte Woche eingeliefert worden ist. Auf Etla ist das ein Name wie Schmidt. Aber es ist unwahrscheinlich, daß wir gefragt werden, weil praktisch jeder Bürger seinen Teil zur im Hospital zu leistenden Arbeit beiträgt, und das Personal dadurch an das ständige Kommen und Gehen solcher Teilzeithilfskräfte gewöhnt ist. Sollten wir zufällig einem medizinischen Offizier des Monitorkorps begegnen, was sehr gut möglich ist, dann nehmen Sie ihn einfach gar nicht zur Kenntnis. Und falls Sie sich wegen der Etlaner Sorgen machen sollten, die möglicherweise unter Ihren Verband schauen wollen“, fuhr Stillman fort, als wenn er praktisch Conways Gedanken lesen konnte, „dann können Sie ganz beruhigt sein — die sind viel zu beschäftigt, um auf Verletzungen neugierig zu sein, die schon längst behandelt worden sind.“ Sie verbrachten zwei Stunden im Hospital, ohne auch nur ein einziges Mal die Geschichte über den angeblich kranken Mennomer erzählen zu müssen. Von Anfang an war zu erkennen, daß sich Stillman im Hospital gut auskannte und sich hier offensichtlich schon des öfteren aufgehalten hatte. Doch waren stets irgendwelche Etlaner in der Nähe, so daß Conway ihn nicht fragen konnte, ob er sich hier zuvor als Beobachter des Monitorkorps oder als getarnter Teilzeit-Krankenpfleger eingefunden hatte. Einmal erhaschte er einen flüchtigen Blick auf einen Korpsarzt, der einem etlanischen Mediziner bei der Entfernung eines Empyems aus der Brusthöhle zusah, und dem Gesichtsausdruck des Korpsarztes war deutlich zu entnehmen, wie gerne er die dunkelgrünen Ärmel hochgekrempelt und die Operation selbst durchgeführt hätte. Die Chirurgen waren nicht in Weiß, sondern in leuchtendes Gelb gekleidet. Einige der Operationstechniken grenzten ans Barbarische. Und der Gedanke an Isolierstationen oder abgegrenzte Pflegebereiche war den Etlanern offensichtlich nie in den Sinn gekommen — oder vielleicht doch, räumte Conway in Gedanken fairerweise ein, aber diese Idee war wahrscheinlich durch die völlig unvorstellbare Überbelegung praktisch nicht zu verwirklichen gewesen. Bedachte man die dem Hospital zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und die gewaltigen Schwierigkeiten, denen es gegenüberstand, dann handelte es sich hier durchaus um ein sehr gutes Krankenhaus. Conway hielt viel von dieser Einrichtung und, nach dem zu urteilen, was er bislang von den Mitarbeitern gesehen hatte, auch vom Personal. „Das hier sind nette Leute“, drückte er es zu einem späteren Zeitpunkt ihres Krankenhausbesuchs ziemlich unangemessen aus. „Ich kann nicht verstehen, warum sie damals in dieser feindlichen Weise auf Lonvellin losgegangen sind. Irgendwie scheinen die Etlaner gar nicht der Typ dafür zu sein.“ „Aber sie haben es nun mal getan“, erwiderte Stillman grimmig. „Alle, die nicht zwei Augen, zwei Ohren, zwei Arme und zwei Beine haben, oder bei denen diese Dinge zufällig an den falschen Stellen sitzen, werden abgelehnt. Das ist eine Haltung, die den Etlanern schon in sehr jungem Alter eingetrichtert wird, praktisch mit dem Abc. Ich wünschte, wir wüßten den Grund dafür.“ Conway schwieg. Er dachte daran, daß man ihn hergeschickt hatte, um für diesen Planeten medizinische Hilfsmaßnahmen zu organisieren, und auf keinen Fall würde er das große Rätsel lösen, indem er verkleidet in einem kleinen Teil dieses Puzzles herumschlenderte. Es war an der Zeit, sich an die eigentliche Arbeit zu machen. Als ob er schon wieder Conways Gedanken lesen könnte, sagte Stillman: „Ich glaube, wir sollten jetzt zurückgehen. Würden Sie lieber im Verwaltungsgebäude oder auf dem Schiff arbeiten, Doktor?“ Conway sagte sich, daß er mit Stillman einen wirklich guten Berater an seiner Seite hatte, und antwortete laut: „Im Bürogebäude, bitte. Im Schiff verlaufe ich mich zu leicht.“ Und so erhielt Conway ein kleines Büro mit einem großen Schreibtisch, einer Gegensprechanlage, um mit Stillman in Verbindung treten zu können, und mit einigen weiteren, weniger lebenswichtigen Kommunikationsgeräten. Nach seinem ersten Mittagessen in der Offiziersmesse nahm er zukünftig alle Mahlzeiten mit Stillman im Büro ein. Manchmal schlief er sogar im Büro und hin und wieder überhaupt nicht. Die Tage verstrichen, und durch das Lesen von immer mehr Berichten, für deren unablässigen Nachschub Stillman sorgte, brannten ihm die Augen allmählich wie heiße, rauhe Murmeln. Er reorganisierte die medizinischen Nachforschungen, ließ einige der Korpsärzte zu Besprechungen kommen oder suchte diejenigen persönlich auf, die aus den verschiedensten Gründen nicht bei ihm vorsprechen konnten. Eine große Anzahl der Berichte lagen außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs und waren Kopien von Untersuchungen über rein soziologische Probleme, die Williamsons Männer durchgeführt hatten. Conway las sie in der unbestimmten Hoffnung, daß sie in irgendeinem Zusammenhang zu seinen eigenen Schwierigkeiten standen. Zwar war dies bei vielen auch der Fall, doch trug die Informationsflut häufig nur dazu bei, ihn noch mehr zu verwirren. Unmengen von Blut- und Gewebeproben und alle anderen Arten von Proben wurden genommen. Sie wurden unverzüglich auf eins der drei Kurierschiffe gebracht, die das Monitorkorps Conway inzwischen zur Verfügung gestellt hatte, und schnellstens zum leitenden Diagnostiker der Pathologie im Orbit Hospital geflogen. Die Ergebnisse wurden über SübraumfUnk an die Vespasian übermittelt, auf Band gespeichert und lagen wenige Tage später in Form von Tonbandspulen auf Conways Schreibtisch. Man stellte ihm auch den Hauptcomputer des Schiffs zur Verfügung, beziehungsweise den Teil, der nicht mit Übersetzungen ausgelastet war. Und nach und nach schien sich aus der Flut zusammenhängender und unzusammenhängender Fakten wenigstens die äußerst vage Andeutung eines Schemas herauszukristallisieren. Unglücklicherweise handelte es sich um ein Schema, das für niemanden einen Sinn ergab; am allerwenigsten für Conway selbst. Schon näherte sich das Ende seiner fünften Woche auf dem Planeten Etla, und noch immer konnte er Lonvellin nur von äußerst geringen Fortschritte berichten. Lonvellin drängte allerdings auch gar nicht auf faßbare Resultate. Er war ein sehr geduldiges Lebewesen, das alle Zeit der Welt besaß. Manchmal ertappte sich Conway bei der Frage, ob Schwester Murchison mit ihm wohl genausoviel Geduld haben würde wie Lonvellin. 10. Kapitel Conway drückte den Knopf der Gegensprechanlage, und gleich darauf kam Major Stillman mit geröteten Augen hereingestolpert und setzte sich. Seine normalerweise steife, glatte Uniform war auch jetzt nur leicht zerknittert. Die beiden gähnten sich gegenseitig an, und schließlich eröffnete Conway das Gespräch. „In ein paar Tagen werde ich die genauen Angaben über die Liefer- und Verteilungsmengen zusammenhaben, um in dieser Gegend mit der medizinischen Versorgung zu beginnen“, sagte er. „In der Liste ist jede ernsthafte Erkrankung zusammen mit Informationen über Alter, Geschlecht und Aufenthaltsort des Patienten sowie der berechneten Medikamentenmenge aufgeführt worden. Aber mir wäre viel leichter ums Herz, wenn wir erst einmal genaue Kenntnisse von dem ursprünglichen Zustandekommen dieser Verhältnisse hätten, bevor ich den Startschuß gebe, die ganze Gegend mit medizinischen Vorräten zu überschwemmen. Ehrlich gesagt, ich mach mir Sorgen“, fuhr er fort. „Ich fürchte fast, wir begehen möglicherweise den Fehler, das zerschlagene Geschirr schon zu ersetzen, bevor wir überhaupt den Elefanten aus dem Porzellanladen gescheucht haben.“ Stillman nickte, aber Conway konnte nicht sagen, ob das Nicken Zustimmung oder Müdigkeit ausdrückte. Warum waren auf einem Planeten, der einen ausgemachten Seuchenherd darstellte, die Säuglingssterblichkeit so gering und die wegen Komplikationen oder Infektionen während der Geburt auftretenden Todesfälle so selten? Weshalb zeigte sich auf der einen Seite bei den Kindern die deutliche Tendenz, gesund zu bleiben, und auf der anderen Seite bei den Erwachsenen die spürbare Neigung, chronisch zu erkranken? Zugegebenermaßen wurde zwar ein großer Teil der Säuglinge blind geboren oder war durch Erbkrankheiten körperlich beeinträchtigt, doch nur relativ wenige starben bereits in jungem Alter. Vielmehr überstanden sie ihre Mißbildungen und Entstellungen bis ans Ende des mittleren Alters, in dem dann — statistisch gesehen — die meisten ihrer Krankheit erlagen. Darüber hinaus bewies die Statistik, daß die Etlaner in bezug auf ihre Krankheiten einen krassen Exhibitionismus an den Tag legten, denn bei ihnen entwickelten sich im großen Umfang unerfreuliche Hautkrankheiten: Leiden, die zu einem allmählichen körperlichen Verfall oder zur Deformierung der Gliedmaßen und zu einigen ziemlich grauenerregenden Kombinationen aus beidem führten. Ihre Nationaltracht trug nichts dazu bei, die Gebrechen zu verbergen, ganz im Gegenteil, und Conway drängte sich manchmal der Vergleich zu kleinen Jungen auf, die vor ihren Freunden so gerne mit zerschundenen Knien prahlten. Als Stillman ihn unterbrach, bemerkte er plötzlich, daß er laut gedacht hatte. „Das stimmt nicht, Doktor“, sagte Stillman in einem für seine Verhältnisse scharfen Ton. „Diese Leute sind keine Masochisten. Was auch immer hier ursprünglich einmal schiefgegangen ist, sie haben versucht, es zu bekämpfen. Seit über einem Jahrhundert haben sie sich mit nur sehr wenig Unterstützung von außen diesen Krankheiten widersetzt und dauernd Niederlagen einstecken müssen. Es überrascht mich, daß sie überhaupt noch eine Zivilisation haben. Und die kurze Tracht tragen sie in dem Glauben, frische Luft und Sonnenlicht wären für ihre Gebrechen gut — und in den meisten Fällen haben sie sogar völlig recht damit. Dieser Glaube wird ihnen nämlich von Kindesalter an genauso eingeimpft wie ihr Haß auf alle fremdartig aussehenden Wesen und die Überzeugung, es sei unnötig, Infektionsherde oder an ansteckenden Krankheiten leidende Patienten zu isolieren“, fuhr Stillman fort, wobei sein Ton nach und nach seine Schärfe verlor. „Und das ist sogar gefährlich, weil sie glauben, die Erreger der einen Krankheit würden die Erreger der zweiten bekämpfen, so daß dann schließlich alle Bazillen geschwächt wären.“ Bei diesem Gedanken schauderte es Stillman, und er verfiel in Schweigen „Ich wollte unsere Patienten nicht persönlich angreifen, Major“, entgegnete Conway. „Ich hab ja auch keine vernünftigen Antworten auf dieses Problem, und deshalb fallen mir eben nur dumme ein. Aber Sie haben vorhin die mangelnde Unterstützung angesprochen, die die Etlaner von ihrem Imperium erhalten. Darüber hätte ich gerne mehr Einzelheiten gewußt, besonders darüber, wie diese minimalen Hilfsmittel überhaupt verteilt werden. Aber noch lieber würde ich mal den Vertreter des Imperiums auf Etla danach fragen. Konnten Sie den inzwischen ausfindig machen?“ Stillman schüttelte den Kopf und antwortete trocken: „Diese Hilfsmittel werden nicht wie eine Sendung von Lebensmittelpaketen geliefert. Natürlich sind Medikamente dabei, aber zum größten Teil handelt es sich um die neueste, auf die hiesigen Zustände bezogene medizinische Fachliteratur. Wie diese dann die Leute erreicht, das versuchen wir im Moment noch herauszufinden.“ Wie Stillman in seinen Erklärungen fortfuhr, landete alle zehn Jahre ein Schiff des Imperiums auf Etla, das der Vertreter des Imperiums am Landeplatz erwartete. Nachdem das Schiff die Ladung gelöscht und an den Vertreter etwas übergeben hatte, bei dem es sich vermutlich um Berichte handelte, startete es schon einige Stunden später wieder. Anscheinend wollte kein Bürger des Imperiums auch nur eine Sekunde länger als nötig auf Etla verweilen, was ja auch verständlich war. Anschließend machte sich dann der Vertreter des Imperiums, eine Persönlichkeit namens Teltrenn, an die Verteilung der medizinischen Hilfsmittel. Aber anstatt sich der Mittel des Massenvertriebs zu bedienen, um die örtlichen medizinischen Institutionen über die neuesten Behandlungsmethoden aufzuklären und den ortsansässigen Ärzten Zeit zu geben, sich vor dem Eintreffen der Medikamente erst einmal mit deren Wirkungsweise vertraut zu machen, hielt Teltrenn die gesamten Informationen so lange zurück, bis er den Ärzten und Institutionen einen persönlichen Besuch abstatten konnte. Dann erst überreichte er ihnen alles als persönliches Geschenk ihres glorreichen Imperators, wobei ihm selbst natürlich auch kein geringes Maß an Ehre zuteil wurde, weil er ja schließlich der Mittelsmann war. Deshalb erreichten die Informationen, die jeder Arzt auf dem Planeten innerhalb von drei Monaten in Händen hätte halten können, die Ärzte und Institutionen Stück für Stück über einen Zeitraum von bis zu sechs Jahren. „Sechs Jahre!“ rief Conway entsetzt aus. „Teltrenn ist, soweit wir herausfinden konnten, kein besonders tatkräftiger Mensch“, antwortete Stillman. „Und was die Sache noch viel schlimmer macht: auf Etla wird nur wenig oder gar keine medizinische Grundlagenforschung betrieben, und zwar deshalb, weil das lebenswichtigste Instrument des Forschers fehlt: das Mikroskop. Auf Etla ist man nämlich nicht in der Lage, optische Präzisionsgeräte zu fertigen, und anscheinend hat kein Schiff des Imperiums jemals daran gedacht, Mikroskope mitzubringen. Und das alles läuft dann darauf hinaus, daß sämtliche medizinischen Überlegungen für den Planeten Etla vom Imperium übernommen werden. Und allen Anzeichen nach ist das Imperium medizinisch ja nicht gerade gewitzt.“ „Ich würde gern den direkten Zusammenhang zwischen dem Eintreffen dieser Hilfsmittel und der Krankheitsquote unmittelbar danach untersuchen“, entgegnete Conway in bestimmtem Ton. „Können Sie mir dabei helfen?“ „Da ist gerade ein Bericht reingekommen, der Ihnen möglicherweise dabei helfen kann“, erwiderte Stillman. „Das ist eine Kopie der Akten von einem Hospital auf dem Nordkontinent, die bis auf Teltrenns letzten Besuch zurückgehen. Nach diesen Unterlagen hat Teltrenn bei der Gelegenheit einige nützliche Informationen über Geburtshilfe und ein spezifisches Heilmittel gegen eine Krankheit mitgebracht, die wir B-achtzehn genannt haben. Die Häufigkeit von B-achtzehn hat im Hospital nach Teltrenns Besuch innerhalb von ein paar Wochen rapide abgenommen, obwohl die Gesamtzahl der Patienten ziemlich gleich geblieben ist, da ungefähr zur selben Zeit allmählich F-einundzwanzig aufgetaucht ist.“ B-achtzehn entsprach einer schweren Grippe, die für Kinder und junge Erwachsene in vier von zehn Fällen tödlich war. F-einundzwanzig stellte ein leichtes, nicht tödliches, drei bis vier Wochen dauerndes Fieber dar, in dessen Verlauf große, sichelförmige Striemen im Gesicht, an den Gliedmaßen und am Körper auftraten. Sobald das Fieber abgeklungen war, verdunkelten sich die Striemen zu einem Blauviolett und blieben für den Rest des Lebens am Körper des Patienten. Conway schüttelte wütend den Kopf und sagte: „Eine der Hauptursachen für die entsetzlichen Zustände auf Etla ist auf jeden Fall auch der Vertreter des Imperiums!“ Stillman stand auf und erwiderte: „Wir würden ihm auch gern ein paar Fragen stellen. Wir haben die ganze Geschichte über Radio und durch Druckerzeugnisse weit publik gemacht, und zwar in so großem Umfang, daß wir uns jetzt ziemlich sicher sind, Teltrenn versteckt sich absichtlich vor uns. Wahrscheinlich hat er wegen der miserablen Abwicklung der Angelegenheiten ein schlechtes Gewissen. Außerdem haben wir für Lonvellin einen psychologischen Bericht über Teltrenn ausgearbeitet, der auf all den Zeugenaussagen beruht, die wir durch Hörensagen bekommen konnten. Ich werde Ihnen vom Schiff aus eine Kopie schicken lassen.“ „Danke“, erwiderte Conway. Stillman nickte, gähnte und ging hinaus. Conway betätigte mit dem Daumen den Schalter des Kommunikators, stellte Kontakt mit der Vespasian her und bat um eine Sprechverbindung mit dem achtzig Kilometer entfernten Lonvellin. Er war immer noch beunruhigt und wollte sich jetzt einmal alles von der Seele reden. Das einzige Problem war nur, daß er nicht genau wußte, was „alles“ war. „Daß Sie Ihren Teil des Unternehmens so schnell erledigt haben, war wirklich gute Arbeit, mein Freund“, entgegnete Lonvellin, nachdem ihm Conway über den Stand der Dinge unterrichtet hatte. „Ich hab mit der Qualität und dem Eifer meiner Assistenten wirklich Glück. Mittlerweile haben wir in den meisten Gegenden das Vertrauen der etlanischen Ärzte gewonnen, und bald ist auch der Weg für eine umfassende Aufklärung der Ärzte über die neuesten Heilmethoden frei gemacht. Deshalb werden Sie, Conway, innerhalb weniger Tage ins Orbit Hospital zurückkehren, und ich möchte Ihnen eindringlich nahelegen, nicht mit dem Gefühl abzufliegen, Sie hätten Ihre Aufgabe nicht in vollkommen zufriedenstellender Weise gelöst. Das sind völlig grundlose Sorgen, die Sie da geäußert haben. Aber Ihr Vorschlag, das Wesen Teltrenn im Rahmen des Umerziehungsprogramms zu entfernen oder zu ersetzen, ist vernünftig“, fuhr Lonvellin schwerfällig fort. „Auch ich hatte schon an diesen Schritt gedacht. Ein weiterer Grund für Teltrenns Entfernung aus dem Amt ist die gut belegte Tatsache, daß schließlich er größtenteils die Verantwortung dafür trägt, die Intoleranz gegenüber außerplanetarischen Lebensformen lebendig erhalten zu haben. Ihre Vermutung, diese schädlichen Ansichten würden vielleicht nicht von Teltrenn, sondern vom Imperium selbst herrühren, kann richtig oder falsch sein. Ich halte es allerdings im Gegensatz zu Ihnen nicht für erforderlich, deshalb eine sofortige Suchaktion nach dem Imperium zu starten, um dessen Hintergrundstrukturen genauer zu beleuchten.“ Lonvellins Translatorstimme war zwar langsam und klang notgedrungen emotionslos, doch glaubte Conway trotzdem, einen härteren Ton herauszuhören, als der EPLH fortfuhr: „Ich begreife Etla als einen isolierten Planeten, der unter Quarantäne gehalten wird. Und deshalb kann man die Schwierigkeiten lösen, ohne Überlegungen über Einflüsse des Imperiums ins Spiel zu bringen oder die verschiedenen Ungereimtheiten vollkommen verstehen zu müssen, über die wir uns beide den Kopf zerbrechen. Denn diese Widersprüche werden sich schon auflösen, sobald die Heilung Erfolg hat. Und die Antworten, nach denen wir suchen, sind für die planetenweite Linderung des Leidens erst recht nur von sekundärer Bedeutung. Schließlich ist Ihre Behauptung, die Besuche des Schiffs vom Imperium, das alle zehn Jahre auftaucht und nur ein paar Stunden bleibt, wären ein Hauptbestandteil des Problems, überhaupt nicht stichhaltig“, fuhr Lonvellin fort. „Ich könnte Ihnen sogar unterstellen, daß Sie — vielleicht unterbewußt — diesen Punkt nur deshalb so stark überbetonen, damit Sie Ihre Wißbegier über das Imperium stillen können.“ Da haben Sie ja so recht, dachte Conway. Aber bevor er darauf etwas entgegnen konnte, fuhr der EPLH schon fort: „Ich möchte Etla als ein Einzelproblem behandeln, denn es würde nur den Umfang der Operation über die zu bewältigenden Grenzen hinaus vergrößern, wenn man das Imperium mit ins Spiel bringt; ob es nun selbst ebenfalls medizinische Hilfe benötigt oder nicht. Sie können trotzdem — nur, um Ihre offensichtliche Beunruhigung auszuräumen — Ihrem Mitwesen Williamson meine Erlaubnis ausrichten, nach diesem Imperium Ausschau zu halten, um über die dort herrschenden Zustände zu berichten. Falls Williamson das Imperium jedoch finden sollte, darf er dort auf keinen Fall etwas von unserer Tätigkeit auf Etla erwähnen, bevor wir hier die Operation nicht abgeschlossen haben.“ „Ich verstehe, Sir“, antwortete Conway und brach die Verbindung ab. Er fand es ausgesprochen seltsam, daß ihm Lonvellin wegen seiner Neugier Vorhaltungen gemacht und dann im selben Atemzug die Erlaubnis zur Befriedigung dieser Neugier gegeben hatte. War Lonvellin selbst vielleicht doch mehr über den Einfluß des Imperiums beunruhigt, als er zugeben wollte? Oder fing die große Kreatur einfach mit zunehmendem Alter allmählich an zu spinnen? Jedenfalls setzte sich Conway umgehend mit Captain Williamson in Verbindung. Nachdem er ihm von Lonvellins Erlaubnis berichtet hatte, räusperte sich der Captain erst ein paarmal. Und als Williamson schließlich antwortete, hatte seine Stimme einen ausgesprochen verlegenen Klang. „Doktor, in den letzten zwei Monaten haben wir schon eine ganze Reihe von medizinischen und Kontaktoffizieren nach dem Imperium suchen lassen“, sagte er. „Einer hatte mit der Suche auch Erfolg und uns einen Vorbericht geschickt. Dabei handelt es sich jedoch um einen medizinischen Offizier, der dem Etla-Projekt gar nicht zugeteilt war und deshalb auch nur sehr wenig von den hiesigen Vorgängen weiß. Darum ist sein Bericht möglicherweise nicht ganz so aufschlußreich, wie Sie es vielleicht gerne hätten. Ich schicke Ihnen aber zusammen mit dem Material über Teltrenn auf jeden Fall eine Kopie von diesem Bericht. Lonvellin müssen Sie natürlich über diese Neuigkeit in Kenntnis setzen“, schloß Williamson, wobei er sich deutlich vernehmbar räusperte, „aber wann Sie das tun, kann ich selbstverständlich nur Ihnen selbst überlassen.“ Conway lachte plötzlich laut auf. „Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Colonel, diese Information werde ich schon noch eine Zeitlang für mich behalten. Doch falls man Ihnen schon vorher auf die Schliche kommen sollte, können Sie Lonvellin ja immer noch daraufhinweisen, daß es eben zu den Pflichten eines guten Dieners gehört, die Wünsche seines Herrn vorherzusehen.“ Er lachte auch noch weiter, nachdem sich Williamson schon längst verabschiedet hatte. Und dann setzte ganz plötzlich der Umschwung ein. Seit er auf den Planeten Etla gekommen war, hatte Conway nämlich nicht mehr viel gelacht. Aber nicht deshalb, weil er etwa den Fehler einer übermäßigen Identifikation mit seinen Patienten begangen hätte — kein halbwegs anständiger Arzt, dem das Beste seiner Patienten am Herzen lag, würde solch einen Frevel begehen. Es lag vielmehr daran, daß auf Etla niemand besonders oft lachte. Auf diesem Planeten lag irgend etwas in der Luft, ein Gefühl, daß einerseits die Zeit langsam knapp wurde und andererseits die ganze Sache sowieso vollkommen hoffnungslos war, und dieses Gefühl schien sich mit jedem Tag zu verstärken. Es hatte ziemliche Ähnlichkeit mit der Atmosphäre auf einer Station, auf der ein Patient im Sterben lag, wie Conway meinte. Mit dem Unterschied, daß die dort Beschäftigten selbst unter solchen Umständen noch die Zeit fanden, Witze zu reißen und sich zwischen den Krisen des Patienten wenigstens ein paar Minuten lang auszuruhen. Langsam vermißte er das Orbit Hospital. Er war froh, daß er in ein paar Tagen dorthin zurückfliegen würde, und darauf freute er sich trotz der Unzufriedenheit über die vielen offenen und dann auch nicht mehr zu lösenden Probleme. Vor allem dachte er aber allmählich auch wieder an Schwester Murchison. Denn die Gedanken an sie waren ihm auf Etla genauso vergangen wie das Lachen. Nur zweimal hatte er den ans Orbit Hospital geschickten etlanischen Proben Mitteilungen an Murchison beigelegt. Er wußte, daß Thornnastor in der Pathologie schon für die Weiterleitung der Briefe sorgen würde, auch wenn Thornnastor ein FGLI mit nur andeutungsweise vorhandenem Interesse für die emotionalen Verhältnisse terrestrischer DBDGs war. Aber warum hatte ihm Murchison dann nie einen Antwortbrief geschickt? Sie gehörte eben zum zurückhaltenden Typ. Möglicherweise hatte sie gedacht, es würde Conway zu sehr ermutigen, wenn sie sich die Mühe machte, eine Antwort an ihn zurückzuschmuggeln. Vielleicht war er bei ihr aber auch wegen der Episode mit dem Abschiedskuß und der anschließenden Flucht, die sich damals vor der Luftschleuse abgespielt hatte, völlig untendurch. Sie war eine eigenartige Frau: Sie besaß einen sehr ernsten Charakter, war mit Leib und Seele bei der Sache und hatte überhaupt keine Zeit für Männer. Das erstemal war sie nur deshalb mit einer Verabredung einverstanden gewesen, weil Conway gerade eine sehr komplizierte Operation glatt über die Bühne gebracht hatte und feiern wollte. Außerdem hatte er kurz vorher mit ihr zusammen an einem Fall gearbeitet und dabei keinen einzigen Annäherungsversuch unternommen. Seit diesem Treffen hatte er sich regelmäßig mit ihr getroffen und sich dadurch den Neid sämtlicher männlichen DBDGs im Hospital zugezogen. Das einzige Problem dabei war nur, daß es für ihren Neid eigentlich überhaupt keinen Grund gab. Conways wehmütiger Gedankengang wurde durch die Ankunft eines Monitors unterbrochen, der einen Ordner auf den Schreibtisch warf und sagte: „Das Material über Teltrenn, Doktor. Der andere Bericht ist mit dem Vermerk „vertraulich“ direkt an Captain Williamson gerichtet und muß deshalb erst von seinem Schreiber kopiert werden. Wir haben ihn aber in fünfzehn Minuten für Sie fertig.“ „Danke“, erwiderte Conway. Der Monitor ging wieder hinaus, und Conway fing gleich an zu lesen. Da Etla eine Kolonie war, die nicht die Möglichkeit zu natürlichem Wachstum gehabt hatte, gab es auf dem Planeten keine nationalen Grenzen und natürlich auch nicht die dazugehörigen Streitkräfte. Dafür waren jedoch die Polizeikräfte, die für die Einhaltung der Gesetze auf dem Planeten sorgten, genaugenommen eigentlich Soldaten des Imperiums und unterstanden dem Befehl von Teltrenn. Es war auch eine Einheit dieser Polizeisoldaten gewesen, die Lonvellins Schiff angegriffen hatte und es auch jetzt noch immer angriff. Dem Bericht zufolge sprachen zwar sämtliche Anhaltspunkte zumindest auf den ersten Blick für einen stolzen und machthungrigen Charakter Teltrenns, dem jedoch die normalerweise in solchen Charakteren vorzufindende Grausamkeit fehlte. In seinen Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung — der Vertreter des Imperiums war nämlich nicht auf Etla geboren — bewies Teltrenn Rücksicht und Fairneß. Es war aber offensichtlich, daß er dennoch auf die Einheimischen herabblickte, und zwar von ziemlich weit oben, fast so, als ob sie Angehörige einer niederen Spezies wären. Doch verachtete er sie immerhin nicht offen und war auch niemals grausam zu ihnen. Conway knallte den Bericht auf den Tisch. Das war nur ein weiteres dummes und unbrauchbares Teil eines jetzt schon an sich unsinnigen Puzzles, und auf einmal hing ihm diese ganze alberne Geschichte zum Hals raus. Er stand auf und stapfte ins Vorzimmer, wobei er die Tür beim Aufstoßen gegen die Wand krachen ließ. Stillman zuckte leicht zusammen und blickte auf. „Lassen Sie Ihre Schreibarbeiten einfach bis morgen liegen!“ fauchte Conway. „Heute nacht werden wir einmal schamlos in fleischlichen Lüsten schwelgen — wir schlafen in unseren eigenen Kabinen.“ „Schlafen?“ fragte Stillman und grinste plötzlich. „Was ist das denn?“ „Keine Ahnung“, entgegnete Conway, „ich dachte, Sie wüßten das vielleicht. Ich hab gehört, das soll ein neues Gefühl von unbeschreiblichem Glück sein und schnell zur Gewohnheit werden können. Na, was ist? Wollen wir mal richtig gefährlich leben.?“ „Nach Ihnen“, erwiderte Stillman. Die Nacht draußen vor dem Bürogebäude war angenehm kühl. Am Horizont hingen zwar zerrissene Wolken, trotzdem schienen sich jedoch die gleißenden, kalten, dichtgedrängten Sterne über ihren Köpfen herabzusenken. Denn dies war ein Abschnitt des Alls, der voll von Sternen war, was zusätzlich noch durch die vielen Meteoriten bestätigt wurde, die alle paar Minuten weiße Schlieren über den Himmel zogen. Insgesamt war es zwar ein inspirierender und zugleich beruhigender Anblick, aber Conway konnte dennoch nicht aufhören, sich Sorgen zu machen. Er war überzeugt, daß er irgend etwas übersah, und seine Besorgnis war hier unter dem Sternenhimmel plötzlich noch viel größer, als sie es im Büro jemals gewesen war — auf einmal wollte er den Bericht über das Imperium so bald wie möglich lesen. Dann kreisten seine Gedanken wieder um Murchison, und er fragte Stillman: „Haben Sie manchmal auch diese Gedanken, für die man sich im nachhinein wegen ihrer schmutzigen Phantasie furchtbar schämen sollte?“ Stillman grunzte nur und tat Conways Frage als rein rhetorisch ab. Schließlich setzten sie ihren Weg zum Schiff fort, doch plötzlich blieben sie abrupt stehen. Am südlichen Horizont schien die Sonne aufzugehen. Der Himmel hatte ein helles, kräftiges Blau angenommen, das über Türkis in Schwarz überging. Die unteren Ränder der fernen Wolken leuchteten in Rosa und Gold. Doch bevor sie sich auch nur ansatzweise über diesen phantastischen, fehlplazierten Sonnenaufgang freuen oder sonstwie auf ihn reagieren konnten, war diese Farbenpracht bereits hinter einem bedrohlich roten Fleck am Horizont verschwunden. Durch ihre Schuhsohlen hindurch spürten Sie plötzlich eine leichte Erschütterung, und kurz darauf hörten sie ein Geräusch wie ein fernes Donnergrollen. „Lonvellins Schiff“ rief Stillman. Sie rannten sofort los. 11. Kapitel Durch den Kommunikationsraum der Vespasian fegte ein Wirbelsturm der Betriebsamkeit, in dem der Captain das windstille und entschlossene Zentrum bildete. Als Stillman und Conway eintrafen, hatte man bereits dem Kurierschiff und allen verfügbaren Hubschraubern den Befehl erteilt, zuerst Dekontaminierungs- und Bergungsgerät zu laden, dann sofort zum Ort der Explosion weiterzufliegen und dort alle nur erdenkliche Hilfe zu leisten. Zwar bestand für die etlanische Einheit, die Lonvellins Schiff eingekreist hatte, natürlich keine Hoffnung mehr, aber am Rand des Katastrophengebiets lagen immerhin noch einzelne Farmen und mindestens ein kleines Dorf. Die Retter würden es wahrscheinlich nicht nur mit Strahlenopfern zu tun haben, sondern auch noch gegen die Panik ankämpfen müssen; denn die Etlaner hatten bisher mit Atomexplosionen überhaupt keine Erfahrung und würden sich deshalb der Evakuierung ziemlich sicher widersetzen. Als Conway draußen auf dem Flugfeld die Explosion von Lonvellins Schiff gesehen hatte und sich der Bedeutung dieses Vorfalls bewußt geworden war, hatte er sich direkt körperlich krank gefühlt. Und jetzt, wo er Williamson auf dringliche, aber gelassene Weise Befehle erteilen hörte, spürte er, wie ihm der kalte Schweiß über Stirn und Rücken lief. Er leckte sich die trockenen Lippen und sagte: „Captain, ich muß Ihnen einen wichtigen Vorschlag machen.“ Er hatte das gar nicht laut gesagt, aber irgend etwas in seiner Stimme ließ Williamson sofort herumfahren. „Da Lonvellin verunglückt ist, tragen Sie jetzt die Verantwortung für das Projekt, Doktor“, sagte der Captain ungeduldig. „Sie brauchen also gar nicht so zaghaft zu sein.“ „Gut, in dem Fall hab ich Befehle für Sie“, entgegnete Conway mit derselben leisen, angespannten Stimme. „Blasen Sie die Rettungsversuche ab und beordern Sie alles zurück zum Schiff. Und starten Sie mit der Vespasian, bevor wir selbst auch noch bombardiert werden.“ Conway spürte, wie sie ihn alle anblickten und ihm in das bleiche, schweißüberströmte Gesicht und die furchterfüllten Augen schauten, und er bemerkte auch, daß sie allesamt voreilig falsche Schlüsse zogen. Williamson blickte zunächst wütend und bestürzt zugleich und ein paar Sekunden lang vollkommen ratlos drein, dann nahm sein Gesicht harte Züge an. Er wandte sich an einen Offizier, der neben ihm stand, brüllte einen Befehl und fuhr dann wieder zu Conway herum. „Doktor“, setzte er steif an, „ich hab gerade unseren sekundären Meteoritenschild ausgefahren. Jeder feste Gegenstand mit einem Durchmesser über zweieinhalb Zentimeter wird bereits in einer Entfernung von einhundertsechzig Kilometern in sämtlichen Richtungen entdeckt und automatisch von Pressorstrahlen abgelenkt. Deshalb kann ich Ihnen versichern, daß uns selbst von einem hypothetischen Angriff mit Atomraketen keinerlei Gefahr droht. Ein nuklearer Beschuß in dieser Gegend ist sowieso eine alberne Vorstellung. Schließlich gibt es auf ganz Etla keine wie auch immer geartete Atomkraft. Das haben wir mit unseren Instrumenten. Aber Sie haben den Bericht ja bestimmt selbst gelesen. Mein Vorschlag ist“, fuhr der Captain in genau demselben Ton fort, mit dem er sonst dem zweiten Navigationsoffizier eine Kurskorrektur nahelegte, „den Überlebenden der Explosion schleunigst alle mögliche Hilfe zu schicken. Denn die Explosion ist bestimmt durch eine Panne in Lonvellins Reaktor verursacht worden.“ „Lonvellin würde doch nie im Leben einen fehlerhaften Reaktor betreiben!“ erwiderte Conway schroff. „Gerade Lonvellin lebt doch — übrigens genauso wie viele andere langlebige Wesen — in ständiger Angst vor dem Tod, und diese Angst ist mit zunehmendem Alter sogar noch gestiegen. Schließlich hat er schon immer die perfektesten Leibärzte besessen, um seine an sich schon enorme Lebensspanne bloß nicht durch irgendwelche Krankheiten zu verkürzen. Und daraus folgt logischerweise, daß er sich niemals selbst in Gefahr begeben würde, indem er ein technisch unausgereiftes oder mechanisch nicht einwandfrei funktionierendes Schiff benutzt. Nein, Captain. Lonvellin ist umgebracht worden“, fuhr Conway grimmig fort. „Und Lonvellins Schiff haben diese Polizeisoldaten als erstes angegriffen, weil sie eine so unbeschreibliche Abneigung gegen ETs haben. Es ist natürlich schön zu wissen, daß Sie dieses Schiff hier schützen können. Aber wenn wir jetzt starten, dann schießt die Polizeitruppe vielleicht überhaupt keine Rakete mehr ab, und dann müssen auch nicht unsere ganzen Leute da draußen und noch viel mehr Etlaner sterben.“ Jetzt denk nicht lange nach, sondern gib endlich die notwendigen Befehle! dachte Conway entnervt. Williamson sah ärgerlich, bestürzt und stur zugleich aus; ärgerlich über anscheinend sinnlose Befehle; bestürzt, weil sich Conway allem Anschein nach wie eine verschreckte alte Frau benahm; und stur, weil Williamson sich selbst und nicht Conway im Recht sah. Nun mach endlich mal hin, du unbeschreiblicher Idiot! wetterte Conway gegen ihn los, allerdings im Flüsterton. Denn er konnte solche Worte natürlich nicht an einen Colonel des Monitorkorps richten, der von rangniedrigeren Offizieren umgeben war. Aber Conway konnte es auch deshalb nicht, weil sich Williamson weder jetzt noch früher wie ein Idiot benommen hatte. Es handelte sich vielmehr um einen vernünftigen, intelligenten und äußerst fähigen Offizier, der lediglich bisher noch nicht die Chance gehabt hatte, ein richtiges Bild von den Zuständen auf Etla zu gewinnen. Williamson besaß ja auch keine medizinische Ausbildung, und im Gegensatz zu ihm unterstellte der Captain anderen nicht immer gleich das Schlimmste, vor allem aber war er nicht so mißtrauisch. „Sie haben einen Bericht über das Imperium für mich“, sagte Conway also statt dessen. „Könnte ich den bitte lesen?“ Williamsons Augen huschten unruhig zu der Batterie von Bildschirmen, von denen sie umgeben waren. Alle Schirme zeigten Szenen von hektischer Betriebsamkeit: einen Hubschrauber, der startklar gemacht wurde; einen zweiten, der taumelnd mit einer vom Gewicht her offensichtlich deutlich über das Sicherheitslimit hinausgehenden Ladung vom Boden abhob; und die Menschenflut, die mit Dekontaminierungs- und Bergungsgerät durch die Schleuse des Kurierschiffs strömte. Williamson fragte: „Sie wollen ihn doch nicht etwa jetzt lesen.?“ „Doch“, antwortete Conway. Aber dann schüttelte er schnell den Kopf, weil ihm eine bessere Idee kam: Er hatte den Captain verzweifelt zum sofortigen Start zu veranlassen versucht, und sich die Erklärungen für später aufgespart, sobald genügend Zeit dafür vorhanden gewesen wäre. Doch jetzt war ihm klargeworden, daß er die Erklärungen zuerst geben mußte, und zwar schnell. Deshalb sagte er: „Captain, ich hab eine Theorie, mit der ich die hiesigen Geschehnisse erklären kann, und diese Theorie wird der Bericht über das Imperium bestimmt bestätigen. Aber passen Sie auf: Wenn ich Ihnen sagen kann, was meiner Meinung nach im Bericht steht, bevor ich ihn gelesen hab, werden Sie dann meiner Theorie soviel Glauben schenken, daß Sie meinen Anweisungen folgen und auf der Stelle starten?“ Draußen vor dem Schiff stiegen die beiden Hubschrauber in den Nachthimmel auf. Die Schleusentor des Kurierschiffs wurde geschlossen, und eine Ansammlung von Bodentransportern — sowohl vom Planeten Etla als auch vom Monitorkorps — zerstreute sich in Richtung Flugfeldrand. Wie Conway wußte, befand sich jetzt mehr als die Hälfte der Schiffsbesatzung der Vespasian dort draußen, zusammen mit all den anderen zu Land stationierten Monitoren, die sich allerdings möglicherweise in Sicherheit befanden — alle anderen steuerten auf die Explosionsstelle zu, und mit jeder Sekunde vergrößerte sich der Abstand zwischen ihnen und dem Mutterschiff. Ohne auf Williamsons Antwort zu warten, fuhr Conway deshalb schnell fort: „Meiner Auffassung nach handelt es sich um ein Imperium im wahrsten Sinne des Wortes, und nicht um einen lockeren Bund wie unsere Föderation. Das heißt, für den Zusammenhalt des Imperiums und die Durchsetzung der Gesetze des Imperators ist eine umfassende militärische Organisation erforderlich. Folglich müßte es sich bei den Regierungsformen der einzelnen Planeten dem Wesen nach ebenfalls um Militärregime handeln. Die Bürger sind wahrscheinlich allesamt DBDGs wie die Etlaner und wir selbst und im großen und ganzen völlige Durchschnittsmenschen - natürlich bis auf ihre Antipathie gegen Extraterrestrier, und das, obwohl sie bislang kaum welche kennengelernt haben.“ Conway holte erst einmal tief Luft und fuhr dann fort: „Die Lebensbedingungen und der technologische Entwicklungsstand dürften wohl ähnlich wie bei uns in der Föderation sein. Die Steuern sind möglicherweise recht hoch, aber das wird bestimmt von den regierungsfreundlichen Nachrichtenkanälen bestritten. Ich vermute, das Imperium hat den relativ schwer zu kontrollierenden Umfang von, sagen wir mal, ungefähr vierzig bis fünfzig bewohnten Sternsystemen erreicht.“ „Dreiundvierzig“, warf Williamson mit überraschter Stimme ein. „. und ich schätze, alle Bürger des Imperiums wissen über Etla Bescheid und stehen einer Beendigung des dort herrschenden Elends wohlwollend gegenüber. Sie betrachten ihn zwar als einen unter ständiger Quarantäne stehenden Planeten, tun jedoch alles in ihrer Macht Stehende, um ihm zu helfen.“ „Allerdings!“ unterbrach ihn Williamson erstaunt. „Unser Mann war zwar nur zwei Tage auf einem der äußeren Planeten des Imperiums, bevor man ihn auf den Zentralplaneten zu einer Audienz mit dem großen Chef geschickt hat, aber das war genug Zeit für ihn, um die Meinung der Bevölkerung über Etla herauszufinden. Praktisch überall, wo man hinblickte, konnte man Abbildungen von den leidenden Etlanern sehen. Stellenweise waren diese Bilder sogar zahlreicher als die normale Plakatwerbung. Überall wird damit zu Spendenaktionen für die notleidende Bevölkerung Etlas aufgerufen, die zudem von der Regierung des Imperiums voll unterstützt werden. Das sieht mir doch eigentlich nach äußerst netten Menschen aus, Doktor.“ „Ich bin mir sicher, daß die Bürger nett sind, Captain“, entgegnete Conway schroff. „Aber finden Sie es nicht auch ein bißchen merkwürdig, daß die vereinte Wohltätigkeit von dreiundvierzig bewohnten Systemen gerade mal dafür ausreicht, alle zehn Jahre ein einziges Schiff zu schicken.?“ Williamson öffnete den Mund, schloß ihn wieder und blickte nachdenklich drein. Im gesamten Raum herrschte bis auf die über Funk eingehenden gedämpften Mitteilungen Stille. Dann fluchte plötzlich Stillman, der hinter Conway stand, und sagte mit belegter Stimme: „Ich verstehe, worauf er hinaus will, Sir. Wir müssen sofort starten.!“ Williamsons Augen huschten von Conway zu Stillman und wieder zurück. Er murmelte: „Wenn es nur einer wäre, könnte es sich ja noch um vorübergehende Geisteskrankheit handeln, aber bei zweien.“ Drei Sekunden später erging an die gesamte Mannschaft die Anweisung zum Rückzug, wobei die Dringlichkeit noch durch das ohrenbetäubende Heulen der Sirenen für allgemeinen Alarm betont wurde. Als man auf diese Weise sämtliche vor nur wenigen Minuten ausgegebenen Befehle widerrufen hatte, wandte sich Williamson wieder an Conway. „Fahren Sie fort, Doktor“, sagte er verbissen. „Ich glaube, ich verstehe jetzt allmählich, was hier gespielt wird.“ Conway seufzte dankbar auf und setzte seine Ausführungen fort. Ganz zu Anfang war Etla eine normale Kolonie mit einem einzigen Raumhafen gewesen, auf dem man die notwendige Startausrüstung entladen und die ersten Kolonisten abgesetzt hatte. Die Kolonisten gründeten in günstiger Lage zu den Naturschätzen Städte, und die Planetenbevölkerung entwickelte sich prächtig. Doch schließlich mußten die Menschen von einer Krankheitswelle oder einer ganzen Reihe von Krankheiten überrollt worden sein, die sie auszurotten drohte. Als nun die Bürger des Imperiums von ihrem Elend erfuhren, nahmen sie sich der Etlaner so an, wie es Menschen mit in Schwierigkeiten geratenen Freunden tun, und schon bald begannen die ersten Hilfsgüter einzutreffen. Diese Hilfe mußte anfangs wohl sehr gering gewesen sein, nahm dann aber sicherlich schnell an Umfang zu, nachdem sich die Nachricht über das Elend der Kolonie herumgesprochen hatte. Doch für die Etlaner selbst blieb es bei der geringen Hilfe. Die überzähligen, leicht verschmerzbaren Groschen des einzelnen Bürgers summierten sich bei der Gesamtbevölkerung eines Planeten zu einem beachtlichen Betrag. Und als schließlich zig Planeten Geld spendeten, wuchs der Betrag zu einer Summe an, die die Regierung des Imperiums oder der Imperator selbst nicht länger übersehen konnte. Denn selbst damals mußte das Imperium schon zu großspurig, verschwenderisch und dekadent gewesen sein, weshalb der unvermeidbare Verfall bereits im innersten Kern eingesetzt hatte. Man benötigte immer mehr öffentliche Einnahmen, um das Imperium aufrechtzuerhalten und/oder den Imperator und seinen Hof weiter im vermeintlich legitimen Luxus schwelgen zu lassen. Conway fand es nur natürlich anzunehmen, daß sich der Imperator und die Regierung vielleicht selbst gesagt hatten, die Wohltätigkeit würde schließlich im eigenen Haus beginnen, und sie sich daraufhin einen Großteil dieser Gelder für den eigenen Gebrauch angeeignet hatten. Und nach der Bekanntgabe und Förderung der Spenden für den Planeten Etla wurden diese Gelder zu guter Letzt ein wesentlicher Bestandteil des Regierungseinkommens. So hatte es einst angefangen. Man stellte Etla unter strenge Quarantäne, obwohl sowieso kein normaler Mensch dorthin fliegen wollte. Doch dann drohte plötzlich eine Katastrophe: die Etlaner mußten nämlich auf einmal ohne jede fremde Hilfe mit der Selbstheilung begonnen haben. Es sah ganz so aus, als ob die lukrative Einnahmequelle versiegen würde. Irgend etwas mußte also schleunigst geschehen. Die Regierung hielt es wohl moralisch gesehen sowieso nur für einen kleinen Schritt, den Etlanern nicht nur weiterhin die Hilfe vorzuenthalten, durch die sie hätten geheilt werden können, sondern in Zukunft ihren Krankheitszustand auch aktiv durch die gelegentliche Einfuhr einiger relativ harmloser Krankheiten zu konservieren. Diese Krankheiten mußten natürlich fotogen sein, damit man bei den gutherzigen Bürgern des Imperiums die größtmögliche Wirkung erzielen konnte. Es handelte sich also zumeist um entstellende Leiden oder um Krankheiten, die bei den Etlanern Verkrüppelungen oder Mißbildungen hervorriefen. Man mußte aber auch Maßnahmen zur Sicherung des Bestands an erkrankten Einheimischen ergreifen, und aus diesem Grund waren die Methoden der Gynäkologie und Kinderpflege auch so gut entwickelt. Um die Krankheitsquote auf der gewünschten Höhe zu halten, setzte das Imperium bereits zu einem recht frühen Zeitpunkt einen psychologisch auf sein Amt zugeschnittenen Vertreter ein. Irgendwie hatten die Etlaner aufgehört, Menschen zu sein. Statt dessen waren sie zu nützlichen, kranken Tieren verkommen, und genau dafür schien sie auch der Vertreter des Imperiums zu halten. An dieser Stelle machte Conway eine Pause. Der Captain und Stillman wirkten plötzlich blaß und krank, und ihre Gefühle mußten ungefähr die gleichen sein, wie sie Conway nach der Zerstörung von Lonvellins Schiff empfunden hatte — denn dadurch fügten sich sämtliche Teile des Puzzles am richtigen Platz ein. „Teltrenn stehen jederzeit einheimische Streitkräfte zur Verfügung, um zufällige Besucher zu vertreiben oder zu vernichten“, fuhr Conway fort. „Wegen der Quarantäne handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit bei allen Besuchern um Aliens, und der einheimischen Bevölkerung hat man ja eingebleut, alle Aliens zu hassen — unabhängig von ihrer Gestalt, Anzahl oder Absichten.“ „Aber wie kann das Imperium nur so. so kaltblütig sein?“ fragte Williamson entgeistert. „Das Ganze hat wahrscheinlich als simple Veruntreuung von Geldern angefangen und ist dann allmählich außer Kontrolle geraten“, antwortete Conway mit matter Stimme. „Aber jetzt droht dem Imperium durch unsere Einmischung ein sehr einträgliches Schwindelgeschäft in die Brüche zu gehen. Deshalb versucht das Imperium nun seinerseits, uns zu vernichten.“ Bevor Williamson darauf etwas entgegnen konnte, meldete der leitende Nachrichtenoffizier, daß sich beide Hubschrauberbesatzungen wieder auf dem Schiff befänden, und ebenso das gesamte Personal, das sich in Hörweite der Sirene aufgehalten hatte, also alle, die in der Stadt gewesen waren. Da die restlichen Monitore Stunden gebraucht hätten, um zur Vespasian zurückkehren, hatten sie die Anweisung erhalten unterzutauchen, bis sich zu ihrer Befreiung irgendwann später ein Aufklärungsschiff heimlich zu ihnen durchschlagen würde. Der Offizier hatte seine Meldung noch nicht einmal abgeschlossen, als der Captain bereits den Befehl zum Starten gab. Einen Moment lang spürte Conway ein unbehagliches Schwindelgefühl, als die Schwerkraftgitter den Ausgleich für vollen Notschub herstellten und die Vespasian in rasender Geschwindigkeit zum Weltraum emporschoß, wobei ihr das Kurierschiff unmittelbar darauf folgte. „Sie müssen mich vorhin für ziemlich blöd gehalten haben, Conway.“, begann Williamson, wurde dann aber von den Berichten der zurückgekehrten Besatzungsmitglieder unterbrochen: Einer der Hubschrauber war beschossen worden, und den Monitoren in der Stadt hatte man befohlen, bei der Ortspolizei zu bleiben. Diese Befehle waren zusammen mit der Anweisung, jeden Fluchtversuch durch gezielte Todesschüsse sofort zu vereiteln, direkt vom Vertreter des Imperiums erteilt worden. Doch die Polizisten und die Monitore waren inzwischen recht gut miteinander befreundet, und deshalb hatten die Etlaner bei der Flucht der Korpsangehörigen weit über deren Köpfe gezielt. „Das wird ja von Minute zu Minute niederträchtiger“, sagte Stillman plötzlich. „Wissen Sie, ich glaube, die werden uns schließlich noch für die Zerstörung von Lonvellins Schiff verantwortlich machen und uns zudem für all die Opfer in der Gegend die Schuld in die Schuhe schieben. Die werden unsere bisherigen Leistungen allesamt so verdrehen, bis wir als die eigentlichen Verbrecher dastehen. Und ich könnte wetten, sobald wir hier weg sind, verbreiten die eine Menge neuer Krankheiten, für die wir dann auch noch die Schuld kriegen!“ Stillman fluchte und fuhr dann fort: „Sie wissen ja, was die Menschen des Imperiums von diesem Planeten denken. Etla ist ihr armer, kranker, verkrüppelter Bruder, und wir werden die gemeinen Aliens sein, die kaltblütig über ihn hergefallen sind.“ Während der Major sprach, brach Conway erneut der kalte Schweiß aus — schließlich hatte er seine Schlußfolgerungen über die Behandlungsart Etlas seitens des Imperiums aus rein medizinischen Anhaltspunkten gezogen, und außerdem hatte ihn bei der ganzen Sache der medizinische Aspekt am meisten beunruhigt, so daß ihm die allgemeineren Auswirkungen des Ganzen noch gar nicht bewußt geworden waren. Auf einmal platzte er los: „Aber das könnte ja Krieg bedeuten!“ „Ja, natürlich“, antwortete Stillman grimmig. „Und das ist vielleicht genau das, was das Imperium will. Wenn man nach dem geht, was wir von ihm wissen und was hier auf Etla passiert, ist es viel zu groß und unbeweglich geworden und im Innern völlig verrottet. Wahrscheinlich würde es innerhalb weniger Jahrhunderte von selbst auseinanderfallen, was ja durchaus begrüßenswert wäre. Aber es geht eben nichts über einen schönen Krieg, ein Endziel, für das sich jeder von ganzem Herzen patriotisch engagieren kann und mit dem man ein sich auflösendes Imperium wenigstens vorübergehend wieder zusammenschweißt. Den Gürtel enger schnallen, die Ärmel hochkrempeln und all diesen Quatsch. Wenn man es richtig anstellt, dann könnte das Imperium durch diesen Krieg noch einmal hundert Jahre lang fortbestehen.“ Conway schüttelte benommen den Kopf. „Ich hätte schon früher darauf kommen müssen, was da vor sich geht“, sagte er. „Wenn wir bloß die Zeit gehabt hätten, den Etlanern die Wahrheit zu sagen.“ „Immerhin haben Sie es eher bemerkt als alle anderen, Doktor“, unterbrach ihn der Captain energisch. „Und die Wahrheit hätte weder uns noch den Etlanern etwas genützt, solange wir diese nicht auch dem durchschnittlichen Bürger des Imperiums hätten eröffnen können. Sie haben also überhaupt keinen Grund für irgendwelche Selbstvorwürfe, nur weil Sie.“ „Hier spricht der technische Offizier“, meldete eine Stimme aus einem der ungefähr zwanzig vergitterten Lautsprecher im Raum. „Wir empfangen ein Echobild von Grünfläche zwölf einunddreißig, das ich Ihnen auf Ihren Repeaterschirm fünf lege. Das Objekt sendet Störsignale gegen Raketenangriffe und behindert durch Stanniolstreifen unsere Radarpeilung erheblich, was auf ein schlechtes Gewissen und eine geringere Größe als unsere hindeutet. Irgendwelche Anweisungen, Sir?“ Williamson warf einen kurzen Blick auf den Repeaterschirm. „Unternehmen Sie nichts, bevor das Objekt nichts unternimmt“, erwiderte er und wandte sich wieder Stillman und Conway zu. Dann sprach er in einem beruhigenden und vertrauenerweckenden Ton des ranghöheren Offiziers, der die volle Verantwortung trägt und diese auch freiwillig übernimmt, in einem Ton also, der mit Nachdruck herausstellte, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchten, weil er die Angelegenheiten schon erledigen würde. „Blicken Sie nicht so bekümmert drein, meine Herren. Diese Situation, diese drohende Gefahr eines interstellaren Krieges, mußte ja irgendwann einmal kommen“, sagte er. „Aber wir haben schon lange Pläne ausgearbeitet, um mit solch einer Lage fertigzuwerden. Und glücklicherweise haben wir reichlich Zeit, diese Pläne in die Tat umzusetzen. Das Imperium ist räumlich gesehen ein kleiner, dichtgedrängter Verbund von Planeten“, fuhr er beruhigend fort, „andernfalls hätten wir nicht so schnell mit ihnen in Kontakt treten können. Die Planeten der Föderation dagegen sind äußerst dünn über die halbe Galaxis verteilt. Wir mußten schließlich nur einen Sternhaufen suchen, wo eine von fünf Sonnen von einem bewohnten Planeten umkreist wird. Aber das Problem des Imperiums ist bei weitem nicht so einfach zu lösen. Wenn diese Leute sehr viel Glück haben, finden sie uns vielleicht in drei Jahren, aber nach meiner eigenen Schätzung wären es wohl eher zwanzig. Sie sehen also, wir haben massenhaft Zeit.“ Conway fühlte sich trotzdem keineswegs beruhigt, und er mußte das auch gezeigt haben, denn der Captain versuchte, seinen Einwänden schon im vorhinein zu begegnen. „Vielleicht hilft der Agent, der den Bericht abgefaßt hat, dem Imperium“, fuhr Williamson schnell fort. „Möglicherweise gibt er dem Imperium sogar bereitwillig Informationen über die galaktische Föderation sowie über die Organisationsform und Stärke des Monitorkorps, weil ihm ja bisher die Wahrheit über das Imperium nicht bekannt ist. Aber da es sich bei unserem Agenten um einen Arzt handelt, ist es unwahrscheinlich, daß er dem Imperium vollständige oder genaue Informationen liefern kann. Die wären sowieso nutzlos, solange das Imperium nicht unsere Positionen kennt. Denn das wird das Imperium erst nach der Gefangennahme eines Schiffsastronavigators oder nach dem Kapern eines Schiffs mit genauen Karten herausfinden. Und um dieser Eventualität vorzubeugen, werden wir von diesem Augenblick an sehr strenge Sicherheitsvorkehrungen treffen. Unsere Agenten sind ausschließlich in Sprachwissenschaften, Medizin oder Sozialwissenschaften ausgebildet“, schloß Williamson zuversichtlich. „Ihre Kenntnisse von interstellarer Navigation sind also gleich null. Das Aufklärungsschiff, das sie absetzt, kehrt unverzüglich zum Stützpunkt zurück. Das ist bei Operationen dieser Art das vorbeugende Standardverfahren. Sie sehen also, wir haben zwar ein ernsthaftes Problem, aber eben kein unmittelbares.“ „Ach, haben wir nicht?“ fragte Conway. Er merkte, wie Williamson und Stillman ihn musterten — mit äußerster Aufmerksamkeit und Vorsicht, als wäre er eine Art Zeitbombe, die schon vor einer halben Stunde einmal explodiert war und jetzt wieder kurz davorstand. In gewisser Weise tat es Conway leid, erneut vor ihnen in die Luft gehen zu müssen und sie gleichfalls die Angst und die schreckliche, nagende Sorge mitempfinden zu lassen, die bislang nur er selbst verspürt hatte. Er befeuchtete die Lippen und bemühte sich, es ihnen so schonend wie möglich beizubringen. „Ich selbst hab nicht die leiseste Ahnung von den Koordinaten vom Traltha, Illensa oder von der Erde, nicht einmal von dem damals von der Erde aus bevölkerten Planeten, auf dem ich geboren wurde“, sagte er ruhig. „Aber es gibt eine Reihe von Zahlen, die ich kenne, und mit höchster Wahrscheinlichkeit auch jeder andere Arzt, der in diesem Sektor Raumdienst hat. Und diese Zahlen, meine Herren, sind die Koordinaten des Orbit Hospitals. Ich glaube deshalb nicht, daß uns auch nur noch die geringste Zeit bleibt.“ 12. Kapitel Das einzig Konstruktive, was Conway während seines Rückfugs zum Orbit Hospital tat, war, Schlaf nachzuholen. Doch allzu oft überfielen ihn im Schlaf so scheußliche Alpträume vom aufziehenden Krieg, daß er es als angenehmer empfand, wach zu bleiben. Seine Wachphasen verbrachte er durch Diskussionen mit Williamson, Stillman und den anderen ranghöheren Offizieren auf der Vespasian. Seit er während der letzten halben Stunde auf Etla das Sagen gehabt hatte, schien Williamson sämtliche Ideen, die Conway in den Sinn kamen, hoch zu schätzen, selbst wenn Spionage- und Logistikprobleme nicht gerade zu den Spezialgebieten eines Chefarztes gehörten und erst recht nicht die durch Flottenmanöver aufgeworfenen Fragen. Die Diskussionen waren interessant, informativ, und — genau wie Conways Träume — alles andere als angenehm. Colonel Williamson zufolge war zwar ein interstellarer Eroberungskrieg logistisch unmöglich, doch ein einfacher Vernichtungskrieg konnte von jedem geführt werden, der über genügend Streitkräfte verfügte und Lust daran empfand, die intelligente Gesamtbevölkerung eines ganzen Planeten zu vernichten. Das Imperium hatte mehr als genug Streitkräfte, und die Stärke ihres kollektiven Lustgefühls an Massenvernichtungen hing von Faktoren ab, die sich der Kontrolle des Monitorkorps entzogen — zumindest bis jetzt. Hätten sie genügend Zeit gehabt, wären die Agenten des Korps in der Lage gewesen, das Imperium an seinen entscheidenden Stellen zu unterwandern. Ihnen war bereits die Position von einem der Planeten des Imperiums bekannt, und da es Flugverkehr zwischen diesem und anderen Planeten gab, hätten sie auch bald die Position der restlichen in Erfahrung gebracht. Und dann hätte man als erstes Geheiminformationen gesammelt und schließlich. Nun, die Monitore waren schließlich auch keine schlechten Propagandisten, und in einer Situation, wo der Feind einen Propagandafeldzug auf der Grundlage einer Reihe faustdicker Lügen führte, konnte man sich ja eine Vorgehensweise ausdenken, die ihn genau an diesem schwachen Punkt traf. Das Korps war in erster Linie eine Polizeiorganisation, eine Truppe, die zum Erhalt des Friedens und nicht als Streitmacht zur Kriegsführung diente. Deshalb richteten sich wie bei jeder guten Polizeitruppe die Maßnahmen des Monitorkorps immer nach den möglichen Auswirkungen auf die am Krieg unschuldige Bevölkerung — in diesem Fall waren das sowohl die Bürger des Imperiums als auch die Bevölkerung der Föderation. Und darum wurde geplant, das Imperium von innen zu untergraben, obwohl dieser Plan vor dem ersten kriegerischen Aufeinanderprall unmöglich Wirkung zeigen konnte. Williamsons kühnste Hoffnung — „Gebet“ ist vielleicht der treffendere Ausdruck — war, daß der in die Hände des Imperiums geratene Monitor die Koordinaten des Orbit Hospitals gar nicht kannte und sie deshalb auch nicht verraten konnte. Wenn der Agent allerdings etwas wußte, dann bekam das der Feind so oder so aus ihm heraus — das war dem Colonel klar, dazu war er Realist genug. Beim Nichteintreffen der Ideallösung wollte man das Orbit Hospital so verteidigen, daß der Feind keine weiteren Koordinaten von irgendeinem Planeten oder einer anderen Einrichtung der Föderation in Erfahrung bringen könnte — zumindest solange, bis das Imperium einen großen Teil seiner Streitkräfte für die zeitraubende Suche nach dem Zentrum der Galaxis vom Orbit Hospital abziehen würde. Denn genau das war es, was das Monitorkorps erreichen wollte. Conway versuchte, gar nicht daran zu denken, wie es wohl um das Orbit Hospital herum aussehen würde, wenn sich dort sämtliche mobilen Streitkräfte des Imperiums konzentrierten. Ein paar Stunden vor ihrem Auftauchen aus dem Hyperraum empfingen sie noch einen zweiten Bericht von dem Agenten, der sich derzeit auf dem Zentralplaneten des Imperiums aufhielt. Sein erster Bericht hatte noch neun Tage benötigt, um Etla zu erreichen, der zweite war jedoch mit höchster Dringlichkeitsstufe in nur achtzehn Stunden übertragen worden. Dieser Bericht legte dar, daß der Hauptplanet den Extraterrestriern anscheinend nicht so feindlich gesonnen war wie Etla und die restlichen Planeten des Imperiums. Die Bürger des Zentralplaneten schienen viel kosmopolitischer zu denken, und gelegentlich konnte man sogar ETs auf den Straßen sehen. Diese Wesen besaßen diplomatischen Status und waren Bewohner von Planeten, mit denen das Imperium Handelsverträge abgeschlossen hatte. Doch gab es Anspielungen, daß das Imperium diese Verträge nur eingegangen war, um diese Planeten von sich abhängig zu machen und sich so bei der Annexion einzelner dieser Planeten den Rücken freizuhalten. Was die persönliche Behandlung des Agenten anging, hätten die Dinge gar nicht besser stehen können und schon in wenigen Tagen sollte er eine Audienz beim Imperator höchstpersönlich haben. Nichtsdestoweniger bekam er laut eigener Aussage allmählich ein unbehagliches Gefühl. Den Grund für seine Beunruhigung konnte er allerdings nicht genauer bestimmen, da er, wie er in seinem Bericht zu bedenken gab, schließlich Arzt war — noch dazu einer, den man aus Forschungsarbeiten und Kolonisationsvorbereitungen gerissen hatte — und keiner von diesen Kontaktspezialisten. Sobald er allerdings auf den Aufbau und die Ziele der Föderation zu sprechen kam — und sei es nur am Rande —, blockte man ihn in gewissen Kreisen und zu bestimmten Anlässen sofort ab, während man ihn zu anderen Gelegenheiten regelrecht dazu ermutigte, in aller Ausführlichkeit darüber zu berichten. Das war normalerweise dann der Fall, wenn nur wenige Menschen anwesend waren. Ein weiterer, den Agenten beunruhigender Punkt war die Tatsache, daß in keiner einzigen der von ihm verfolgten Nachrichtensendungen seine Ankunft auch nur mit einem einzigen Wort erwähnt worden war. Wäre die Situation nämlich umgekehrt gewesen und ein Bürger des Imperiums mit der Föderation in Kontakt getreten, dann wäre so ein Ereignis wochenlang die Hauptmeldung gewesen. Manchmal, so berichtete der Agent weiter, fragte er sich, ob er nicht vielleicht zu viel redete. Er wünschte sich, es würde ein Subraumfunkgerät in der Größe eines normalen Senders geben, um auf diese Weise Anweisungen erhalten zu können… Das waren die letzten Worte, die man von diesem Agenten empfangen hatte. Conways Rückkehr zum Orbit Hospital fiel nicht so erfreulich aus, wie er es sich noch ein paar Wochen zuvor ausgemalt hatte. Damals hatte er fest damit gerechnet, als Held gefeiert zu werden, der gerade die größte Aufgabe in seiner Karriere erfolgreich bewältigt hatte. Die Ovationen seiner Kollegen hatten ihm bereits in den Ohren geklungen, und Murchison hatte ihn sehnsüchtig erwartet und mit offenen Armen empfangen. Für das letztere bestand zwar wirklich nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, aber Conway träumte eben von Zeit zu Zeit ganz gern. Statt dessen kehrte er nun von einem nicht erfüllten Auftrag zurück, der ihm auf äußerst schreckliche Weise direkt vor der Nase wie eine Seifenblase zerplatzt war, und hoffte nur, seine Kollegen würden ihn nicht aufhalten und ihn mit Fragen nach dem Wie und Was seines Tuns löchern. Schwester Murchison stand zwar mit einem freundlichen Lächeln in der Schleuse, ihre Arme hingen jedoch korrekt an der Seite. Ihn nach seiner langen Abwesenheit zu erwarten, dachte Conway verdrossen, war ja wohl selbstverständlich, schließlich ist so etwas unter Freunden üblich — mehr konnte das aber auch nicht bedeuten. Murchison sagte ihm, es wäre schön, ihn wiederzusehen, und er antwortete, es wäre schön, wieder da zu sein. Und als sie anfing, Fragen zu stellen, entgegnete er, daß er jetzt leider eine Menge zu erledigen habe, doch falls sie nichts dagegen hätte, würde er sie gern später anrufen. Dabei lächelte er sie so an, als ob all seine Gedanken allein der noch zu treffenden Verabredung gelten würden. Doch Conway schien in den letzten Wochen das Lächeln verlernt zu haben, und Murchison mußte dessen Unaufrichtigkeit sofort bemerkt haben. Plötzlich verhielt sie sich ganz wie eine Krankenschwester gegenüber einem Arzt, sagte in geschäftsmäßigem Ton, daß er sich selbstverständlich um viel wichtigere Dinge zu kümmern habe und entfernte sich schnellen Schrittes. Sie hatte so schön und begehrenswert wie immer ausgesehen, und zweifellos hatte er ihre Gefühle verletzt, aber darauf kam es ihm im Moment nicht an. Seine Gedanken galten allein dem bevorstehenden Treffen mit O’Mara, und als er sich kurz darauf im Büro des Chefpsychologen einfand, schienen sich seine schlimmsten Befürchtungen zu bewahrheiten. „Setzen Sie sich, Doktor“, begann O’Mara. „Also haben Sie es endlich doch noch geschafft, uns in einen interstellaren Krieg zu verwickeln, wie.?“ „Das ist überhaupt nicht komisch“, erwiderte Conway. O’Mara musterte ihn mit einem ausgiebigen Blick. Dabei beobachtete er nicht nur Conways Gesichtsausdruck, sondern bemerkte auch andere Faktoren wie die Körperhaltung im Stuhl und die Position und Bewegungen der Hände. O’Mara legte zwar keinen großen Wert auf korrekte Anredeformen, doch daß es Conway unterlassen hatte, ihn mit „Sir“ anzusprechen, nahm er ebenfalls als Begleitumstand zur Kenntnis, dem er den richtigen Stellenwert in seiner Situationsanalyse beimaß. Der ganze Vorgang dauerte vielleicht zwei Minuten, und während dieser Zeit zuckte der Chefpsychologe nicht ein einziges Mal mit den Augenlidern. Aber O’Mara legte sowieso keine irritierenden Gebärden an den Tag — seine kräftigen, groben Hände zuckten nie und spielten auch keinen Augenblick mit irgendwelchen Gegenständen herum, und wenn er es wollte, konnten seine Gesichtszüge so ausdrucksvoll wie ein Felsblock aussehen. Bei diesem Anlaß jedoch entspannte er das Gesicht zu einem Ausdruck von fast gütiger Mißbilligung, und dann redete er endlich. „Da gebe ich Ihnen ausnahmsweise mal recht“, entgegnete er leise. „Das ist kein bißchen komisch. Aber in einem Hospital wie diesem besteht eben immer die Möglichkeit, daß ein Arzt zum Unruhestifter wird, gerade weil er es so gut meint — das wissen Sie genausogut wie ich. Wir haben doch schon oft irgendein seltsames Lebewesen einer bisher unbekannten Spezies ins Hospital eingeliefert bekommen, das dringend behandelt werden mußte. In so einem Fall bleibt eben keine Zeit für die Suche nach den Freunden des Patienten, bloß um herauszubekommen, ob die beabsichtigte Behandlungsmethode unter den gegebenen Umständen auch wirklich die richtige Verfahrensweise ist. Ein ganz typischer Fall war zum Beispiel diese riesige ianische Schmetterlingspuppe, die Sie vor ein paar Monaten behandelt haben, noch bevor wir uns mit den Ianern formell in Verbindung setzten konnten. Hätten Sie damals nicht vollkommen richtig diagnostiziert, daß der Patient eine im Wachstum befindliche Puppe war und keineswegs an bösartigen, unverzüglich zu entfernenden Hautwucherungen litt — eine Operation, an der der Patient bestimmt gestorben wäre — dann hätten wir jetzt mit den Ianern ernsthafte Schwierigkeiten. Daran sieht man ja, das Sie auch anders können.“ „Ja, Sir“, erwiderte Conway. O’Mara fuhr fort: „Mit meiner Bemerkung wollte ich Sie vorhin doch nur aufziehen. Aber wenn man an Ihr noch gar nicht so lange zurückliegendes Erlebnis mit dem Ianer denkt, dann war meine Feststellung auf gewisse Weise sogar treffend. Gut, vielleicht war sie geschmacklos, aber falls Sie nun annehmen, ich würde mich entschuldigen, dann glauben Sie offenbar an Wunder. So, und jetzt berichten Sie mir über Etla. Übrigens, mein Schreibtisch und mein Papierkorb sind voll von Berichten, die ausführlich auf die Auswirkungen und furchtbaren Konsequenzen dieser ganzen Geschichte mit Etla eingehen“, fügte er schnell hinzu, bevor Conway etwas sagen konnte. „Alles, was ich wissen will, ist also, wie Sie Ihren ursprünglich erhaltenen Auftrag ausgeführt haben.“ Ganz nach O’Maras Weisung lieferte Conway nun einen so knapp wie möglich gehaltenen Bericht. Er spürte, wie er sich während des Rapports langsam entspannte. Zwar spukte ihm noch immer ein wirres und äußerst erschreckendes Bild von den Auswirkungen eines Krieges auf unzählige Millionen von Lebewesen, auf das Hospital und auf ihn selbst im Kopf herum, aber wenigstens fühlte er sich nicht mehr für die Kriegsursache mitverantwortlich. Genau das hatte ihm O’Mara zu Anfang des Gesprächs aber vorgeworfen, dann hatte er ihm allerdings ohne allzu viele Worte klargemacht, wie albern dieses Schuldgefühl war. Als Conway mit seinem Bericht bei der Zerstörung von Lonvellins Schiff anlangte, kehrte dieses Gefühl jedoch mit voller Stärke zurück. Wenn er damals die einzelnen Teile früher zusammengefügt hätte, wäre Lonvellin heute noch am Leben. O’Mara mußte seinen Gefühlswandel wohl bemerkt haben, ließ Conway aber seinen Bericht beenden, bevor er sagte: „Bei der ganzen Sache wundert mich nur, daß Lonvellin den Stand der Dinge nicht schon vor Ihnen erkannt hat. Er war doch schließlich der Kopf, der hinter der ganzen Operation gestanden hat. Wo wir gerade von Köpfen sprechen: Ihrer scheint ja von den Problemen, die eine große Anzahl von unterschiedlich zu behandelnden Wesen aufwirft, überhaupt nicht durcheinandergebracht worden zu sein. Und deshalb hab ich auch eine neue interessante Aufgabe für Sie. Und dieser Job hat gleich mehrere Vorteile — er ist weniger umfangreich als der Auftrag auf Etla, Sie müssen dazu nicht das Hospital verlassen, und mit etwas Glück werden Sie ihn ohne große Probleme erledigen. Ich möchte nämlich, daß Sie die Evakuierung des Orbit Hospitals organisieren.“ Conway schluckte. Und dann schluckte er noch ein zweites Mal. „Also, nun gucken Sie bitte nicht so, als ob ich Ihnen einen Schlag in die Magengrube versetzt hätte!“ sagte O’Mara. „Sonst mache ich das nämlich wirklich. Auch Ihnen muß klargeworden sein, daß wir hier keine Patienten gebrauchen können, wenn die Streitkräfte des Imperiums anrücken. Genausowenig sollte sich im Hospital nichtmilitärisches Personal aufhalten, wenn es nicht freiwillig hierbleibt. Auf jeden Fall müssen sämtliche Wesen, die detaillierte Informationen über die Position irgendeines Planeten der Föderation besitzen, aus dem Orbit Hospital verschwinden. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, welchen Rang oder welche Stellung diese Wesen haben. Aber bestimmt erschreckt Sie die Vorstellung sowieso nicht mehr, Ihren nominellen Vorgesetzten Befehle zu erteilen, wo Sie ja schon einen Colonel des Monitorkorps herumkommandiert haben.“ Conway spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß. Er ließ O’Mara jedoch den Seitenhieb über Williamson durchgehen und erwiderte: „Ich hab eigentlich gedacht, wir sollten dem Imperium das Hospital am besten leer hinterlassen.“ „Nein“, entgegnete O’Mara trocken. „Dafür ist der ideelle, finanzielle und strategische Wert zu groß. Wir hoffen, durch Unterstützung der Verteidigungseinheiten ein paar Ebenen zur Behandlung von Opfern funktionsfähig halten zu können. Colonel Skempton befaßt sich bereits mit dem Problem der Evakuierung und wird Ihnen helfen, wo er kann. Wie spät ist es denn jetzt bei Ihnen, Doktor?“ Conway erklärte O’Mara, daß es für ihn zwei Stunden nach dem Frühstück gewesen sei, als er von Bord der Vespasian gegangen war. „Schön“, entgegnete O’Mara. „Dann können Sie sich ja mit Skempton in Verbindung setzen und sich anschließend sofort an die Arbeit machen. Für mich ist die Schlafenszeit zwar schon lange überschritten, aber ich schlafe eben hier, falls Sie oder der Colonel irgend etwas wollen. Gute Nacht, Doktor.“ Kaum gesagt, zog er auch schon seine Uniform aus, legte sie zusammen, stieg aus den Schuhen und legte sich hin. Innerhalb von Sekunden ging sein Atem tief und regelmäßig. Conway mußte plötzlich lachen. „Es ist doch irgendwie fast schon ein traumatisches Erlebnis, wenn man den Chefpsychologen auf seiner eigenen Couch liegen sieht“, stellte Conway zwischen dem Gelächter fest. „Nach diesem Anblick bezweifle ich doch sehr, ob unser Verhältnis jemals wieder dasselbe sein wird, Sir.“ Als er hinausging, murmelte O’Mara schläfrig: „Da bin ich ja heilfroh. Eben hab ich noch befürchtet, Sie würden wegen mir noch ganz melancholisch.“ 13. Kapitel Sieben Stunden später verschaffte sich Conway zwar lustlos, aber doch mit einem gewissen Maß an Triumph einen Überblick über seinen schwerbeladenen Schreibtisch. Er rieb sich die Augen und blickte zum gegenüberstehenden Schreibtisch hinüber. Einen Augenblick lang fühlte er sich, als ob er wieder auf Etla wäre und ein rotäugiger Major Stillman aufschauen und ihn fragen würde, was er denn wolle. Doch statt dessen blickte ihn Colonel Skempton mit seinen rotunterlaufenen Augen an, als ihn Conway ansprach. „Die Aufgliederung der Patienten, die evakuiert werden müssen, ist jetzt vollständig“, sagte Conway müde. „Die Patienten sind zuerst nach Spezies eingeteilt, woraus man die Anzahl der zum Abtransport benötigten Schiffe sowie die auf jedem Schiff zu reproduzierenden Lebensbedingungen ablesen kann. Aus diesem Grund sind für einige der exotischeren Arten sogar Konstruktionsänderungen an den Schiffen erforderlich, und das braucht natürlich Zeit. Dann sind auf der Liste die Patienten der einzelnen Spezies noch einmal nach dem Grad ihres jeweiligen Gesundheitszustands aufgeteilt, wodurch letztendlich die Reihenfolge des Abflugs bestimmt wird.“ Es sei denn, dachte Conway verärgert, der Zustand eines Patienten war so ernst, daß ein Transport sein Leben gefährden würde. In so einem Fall mußte man nämlich den betreffenden Patienten als Letzten statt als Ersten evakuieren, damit man die Behandlung so lange wie möglich fortsetzen konnte. Das wiederum würde bedeuten, spezialisiertes medizinisches Personal zurückhalten zu müssen, das man andernfalls schon längst evakuiert hätte, wobei sich das Leben des Patienten zu diesem Zeitpunkt bereits durch Raketen eines feindlichen Kriegsschiffs in viel größerer Gefahr befinden könnte. Im Orbit Hospital schien nichts mehr ordentlich und schön der Reihe nach abzulaufen. „.dann wird es noch ein paar Tage dauern, bis O’Maras Abteilung das Pflege- und Wartungspersonal abgefertigt hat“, fuhr Conway fort. „Obwohl O’Mara ihnen natürlich nur ein paar Fragen in einem bestimmten Rahmen stellen muß. Bevor ich hier angekommen bin, hatte ich eigentlich schon mit einem Angriff auf das Hospital gerechnet. Im Augenblick weiß ich nicht, ob ich mich auf eine panikartige Evakuierung einstellen soll, die wenigsten achtundvierzig Stunden benötigen wird und durch die wir wahrscheinlich mehr Patienten töten als retten würden, oder ob ich mir mehr Zeit lassen und allenfalls mit einer überstürzten Evakuierung rechnen muß.“ „Ich kann den Transport jedenfalls nicht innerhalb von achtundvierzig Stunden organisieren“, erwiderte Skempton knapp und senkte den Kopf wieder. Als Chef der Wartungsabteilung und rangältester Offizier des Monitorkorps im Hospital hatte man ihm die Aufgabe übertragen, die Transportschiffe zusammenzuziehen, sie umzubauen und ihre Routen festzulegen. Und damit hatte man ihm wirklich eine unvorstellbare Menge Arbeit aufgebürdet. „Ich will von Ihnen lediglich wissen, wieviel Zeit uns Ihrer Meinung nach noch bleibt“, hakte Conway nach. Der Colonel blickte wieder auf. „Entschuldigen Sie, Doktor“, entgegnete er. „Hier ist eine ziemlich genaue Berechnung, die ich vor ein paar Stunden erhalten hab.“ Er nahm ein Blatt von der obersten Papierschicht auf seinem Tisch und begann, davon abzulesen. Unterzog man alle bekannten Faktoren einer genauen Analyse, so legte der Bericht dar, dann würde, sobald das Imperium die genaue Position des Orbit Hospitals herausgefunden hatte, wahrscheinlich noch eine kurze Zeit bis zur ersten Reaktion vergehen. Denn zuerst einmal würde das Imperium die Angaben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch ein Aufklärungsschiff oder eine kleine Aufklärungstruppe überprüfen lassen. Die gegenwärtig um das Orbit Hospital herum stationierten Einheiten des Monitorkorps würden natürlich versuchen, diese Truppe zu vernichten. Und ob sie damit nun Erfolg hätten oder nicht, der nächste Schritt des Imperiums wäre dann auf jeden Fall entschlossener, vielleicht sogar eine groß angelegte Offensive, deren Vorbereitung allerdings mehrere Tage in Anspruch nehmen würde. Inzwischen hätten jedoch zusätzliche Einheiten des Monitorkorps das Gebiet erreicht. „.sagen wir also acht Tage“, schloß Skempton, „vielleicht sogar drei Wochen, wenn wir Glück haben. Ich glaube aber nicht, daß wir Glück haben.“ „Danke“, entgegnete Conway und machte sich wieder an die Arbeit. Als erstes bereitete er einen grob umrissenen Situationsbericht vor, der in den nächsten sechs Stunden an das medizinische Personal verteilt werden sollte. Darin hob er so stark wie möglich die Notwendigkeit einer schnellen, geordneten Evakuierung hervor, ohne sie allerdings so zu übertreiben, daß daraus Panik erwuchs. Er empfahl, die Patienten durch ihren jeweiligen Arzt zu informieren, um ihnen so wenig Sorgen wie möglich zu bereiten. Bei schwerkranken Patienten sollten die verantwortlichen Ärzte nach eigenem Ermessen entscheiden, ob sie die Patienten aufklären oder lieber unter Beruhigungsmitteln evakuieren wollten. Conway fügte seinem Bericht außerdem die Mitteilung hinzu, daß eine momentan noch unbestimmte Anzahl medizinischer Mitarbeiter zusammen mit den Patienten evakuiert werden würde und jeder darauf vorbereitet sein sollte, das Hospital innerhalb weniger Stunden zu verlassen. Dann schickte er dieses Dokument zur optischen und akustischen Vervielfältigung an die zuständige Abteilung, damit alle ungefähr zur gleichen Zeit in den Besitz dieser Informationen gelangen würden. Zumindest steckte diese Idee dahinter. Aber so, wie er die Gerüchteküche des Orbit Hospitals kannte, würden die wesentlichen Einzelheiten schon zehn Minuten nach Verlassen seines Schreibtisches in Umlauf sein. Als nächstes arbeitete er detailliertere Anweisungen bezüglich der Patienten aus. Die warmblütigen, sauerstoffatmenden Lebensformen konnten das Orbit Hospital zwar durch irgendeine von mehreren möglichen Ebenen verlassen, doch die Spezies mit großer Schwerkraft und hohem Druck würden noch besondere Probleme aufwerfen, ganz zu schweigen von den unter geringer Schwerkraft lebenden MSVKs und LSVOs, den riesigen, wasseratmenden AUGLs, den unter extremer Kälte lebenden Methanarten und den ungefähr zwölf Wesen auf Ebene achtunddreißig, die extrem heißen Dampf atmeten. Conway veranschlagte für das Unternehmen bei den Patienten eine Dauer von fünf Tagen und noch einmal zwei für das Personal. Aber für diese schnelle Räumung der Stationen würde er die Wesen durch ihnen unbekannte Ebenen zu ihren Einschiffungspunkten schicken müssen. Es bestand durchaus die Möglichkeit, daß Umweltbedingungen mit einer Chloratmosphäre durch Sauerstoff verseucht werden könnten, und die Gefahr, daß Chlor in die AUGL-Stationen entwich, oder alles von Wasser überflutet wurde. Man müßte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, damit nicht die Kühlmaschinen der Methanlebensformen ausfielen, die Schwerkraftgürtel der zerbrechlichen, vogelähnlichen LSVOs versagten oder die Druckhüllen der Illensaner in sich zusammenfielen. In einem Hospital mit vielfältigen Umweltbedingungen stellte eine Verseuchung die größte Gefahr dar, und zwar die Verseuchung durch Sauerstoff, Chlor, Methan, Wasser, Kälte, Hitze oder Strahlung. Denn während der Evakuierung würde man die Sicherheitsvorrichtungen, die üblicherweise in Betrieb waren — wie zum Beispiel gasdichte Türen, Doppelschleusen zwischen den Ebenen und die verschiedensten Meß- und Alarmsysteme —, im Interesse einer schnellen Flucht außer Kraft setzen müssen. Sobald die Patienten schließlich ohne Zwischenfall an den Einschiffungspunkten angelangt waren, müßte man vor der Einschiffung erst das Personal zur Inspektion des Transporters abkommandieren, um auch die exakte Reproduktion der Umweltbedingungen der mitfliegenden Patienten sicherzustellen. Auf einmal streikte Conways Verstand — er war einfach nicht mehr aufnahmefähig. Er schloß die Augen, ließ den Kopf in die Hände sinken und beobachtete, wie das Nachbild seiner Schreibtischplatte langsam in einen Rotschimmer überlief. Er hatte diesen ganzen Papierkram allmählich satt; seit er den Auftrag auf Etla erhalten hatte, bestand sein Leben nur noch aus Schreibarbeit: Berichte, Zusammenfassungen, Tabellen, Anweisungen. Er war ein Arzt, der zur Zeit eine komplizierte Operation ausarbeitete; aber es handelte sich um die Art Operation, die eher von einem leitenden Büroangestellten durchzuführen war als von einem Chirurgen. Schließlich hatte er nicht den größten Teil seines Lebens mit einem Studium und einer langwierigen Ausbildung verbracht, um Büroangestellter zu werden. Er stand auf, entschuldigte sich mit heiserer Stimme beim Colonel und verließ das Büro. Ohne wirklich darüber nachzudenken, ging er in Richtung der ihm zugeteilten Stationen. Gerade fing eine neue Schicht mit dem Dienst an, und für die Patienten war es eine Stunde vor der ersten Tagesmahlzeit. Für eine Chefarztvisite war die Zeit deshalb eigentlich sehr ungewöhnlich, und die leichte Panik, die Conway dadurch auslöste, wäre unter anderen Umständen komisch gewesen. Er grüßte freundlich den diensthabenden Medizinalassistenten und stellte mit einiger Überraschung fest, daß es sich um genau den gleichen creppelianischen Oktopoden handelte, den er noch zwei Monate zuvor als Auszubildenden kennengelernt hatte. Als ihm der AMSL dann unbedingt, wenn auch in respektvollem Abstand, bei seiner Visite folgen wollte, ärgerte sich Conway. Für einen relativ unerfahrenen Medizinalassistenten war dieses Verhalten natürlich vollkommen korrekt, aber in diesem Moment wollte Conway mit seinen Patienten und seinen eigenen Gedanken lieber allein sein. Am stärksten von allem verspürte er das Bedürfnis, die manchmal seltsamen, aber immer wunderbaren extraterrestrischen Patienten zu sehen und zu sprechen, die zwar theoretisch gesehen unter seiner Obhut standen, denen er aber praktisch noch nie begegnet war — alle Lebewesen, die er vor dem Abflug zum Planeten Etla kennengelernt hatte, waren nämlich inzwischen schon längst entlassen worden. Er warf keinen Blick auf die Diagramme der Patienten, weil er im Moment eine Allergie gegen die Abstraktion von Informationen durch gedruckte Zahlen hatte. Statt dessen befragte er sie eingehend und fast begierig über ihre Krankheitssymptome, ihre Verfassung und ihren Werdegang. Einige der geringfügigeren Fälle waren erfreut und verblüfft zugleich, daß ihnen von einem Chefarzt so viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, während sich einige andere von seiner Neugier möglicherweise eher belästigt fühlten. Doch Conway mußte einfach so handeln; denn solange er noch Patienten hatte, wollte er auch Arzt sein. Und zwar ein Arzt für ETs… Das Orbit Hospital löste sich auf. Das gewaltige, komplexe Bauwerk, das der Linderung des Leidens und dem Fortschritt der xenologischen Medizin gewidmet war, stand vor dem Kollaps, erlag wie jeder unheilbare Patient einer übermächtigen Krankheit. Morgen oder übermorgen würden sich diese Stationen langsam leeren. Die Patienten, die sich in Physiologie, Metabolismus und in ihren Beschwerden auf so exotische Weise unterschieden, wären verschwunden. In abgedunkelten Stationen würden sich die seltsamen und wunderbaren Spezialanfertigungen, unter denen sich Aliens ein bequemes Bett vorstellten, wie surrealistische Gespenster an den Wänden entlang zusammenkauern. Und mit dem Abflug der ET-Patienten und des Personals würde auch keine Notwendigkeit mehr bestehen, die für sie lebensnotwendigen Umweltbedingungen aufrechtzuerhalten, die Translatoren zu betreiben, die ihnen die gegenseitige Verständigung ermöglichten, die Physiologiebänder zu speichern, die eine Spezies in die Lage versetzte, eine zweite zu behandeln. Doch das größte Hospital für ETs in der Galaxis würde nicht vollkommen untergehen, jedenfalls nicht in den nächsten paar Tagen oder Wochen. Das Korps hatte zwar keine Erfahrung in interstellaren Kriegen, denn der sich hier anbahnende Krieg war immerhin der erste, doch glaubten die Monitore zu wissen, was sie erwartete. Unter den Schiffsbesatzungen wurde mit starken Verlusten gerechnet. Die eingelieferten überlebenden Opfer würden in erster Linie unter Dekompression, Knochenbrüchen und Strahlenverseuchung leiden. Man glaubte, daß zwei oder drei Ebenen zu ihrer Versorgung ausreichen müßten; sollte das Gefecht mit Nuklearwaffen geführt werden — und es gab keinen Grund für eine gegenteilige Annahme —, dann wären die meisten Verwundeten nämlich gleichzeitig auch unheilbar strahlenverseucht. Zynisch ausgedrückt, bestand für das Orbit Hospital also zumindest keine Überffülungsgefahr. Sobald die Streitkräfte des Imperiums angreifen sollten, würde sich der mit der Evakuierung eingesetzte innere Zerfall außen am Bauwerk fortsetzen. Conway war zwar kein Militärstratege, aber er konnte sich nicht vorstellen, wie dieses gewaltige, beinahe leere Hospital überhaupt verteidigt werden sollte. Es stellte für seine Angreifer eine leichte, wenn auch nicht lohnenswerte Beute dar, weil nur ein großer, eingeschmolzener, zerbombter Metallfriedhof übrigbleiben würde. Plötzlich wurde Conway von einer ungeheuer starken Gefühlswelle übermannt: Niedergeschlagenheit, Traurigkeit und eine Woge von purem Zorn ließen ihn am ganzen Körper zittern. Als er aus der Station hinausstolperte, wußte er nicht, ob er heulen, fluchen oder jemanden niederschlagen sollte. Aber die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als er um die Ecke in den zur Abteilung der PVSJs führenden Gang einbog und heftig mit Schwester Murchison zusammenprallte. Der Zusammenstoß war nicht schmerzhaft, denn einer der beiden kollidierenden Körper war hinreichend mit stoßdämpfendem Material ausgestattet. Die Kollision war aber stark genug, um Conways Verstand von einem sehr finsteren Gedankengang auf einen unendlich erfreulicheren zu bringen. Plötzlich war Conways Verlangen, Murchison anzusehen und mit ihr zu reden, genauso groß wie vorher der Drang, seine Patienten zu besuchen. Der Grund war derselbe — vielleicht sah er sie zum letztenmal in seinem Leben. „En. entschuldigen Sie“, stotterte Conway und trat zurück. Dann erinnerte er sich an ihre letzte Begegnung und sagte: „Ich war neulich nach meiner Rückkehr in der Schleuse etwas in Eile und konnte deshalb nicht viel sagen. Sind Sie im Dienst?“ „Ich hab gerade Feierabend“, antwortete Murchison in neutralem Ton. „Ach, wirklich.?“ entgegnete Conway etwas unbeholfen und stammelte dann: „Ich hab mich nämlich gefragt. ich meine, hätten Sie vielleicht Lust.“ „Also, ich hätte nichts dagegen, schwimmen zu gehen“, erwiderte sie. „Na prima“, freute sich Conway. Sie gingen zum Freizeitbereich hoch, zogen sich um und trafen sich wieder im Innern auf dem künstlichen Strand. Als sie zum Wasser gingen, sagte Murchison plötzlich: „Oh, was ich Sie noch fragen wollte, Doktor: Als Sie mir diese Briefe geschickt haben, sind Sie dabei eigentlich nie auf die Idee gekommen, sie in Umschläge mit meinem Namen und meiner Zimmernummer zu stecken?“ „Damit alle gleich gewußt hätten, daß ich Ihnen geschrieben hab?“ fragte Conway. „Ich hab gedacht, so was wollen Sie nicht.“ Murchison schnaubte damenhaft. „Also, das System, das Sie sich ausgedacht haben, war ja auch nicht gerade geheim“, entgegnete sie, wobei ihre Stimme leicht verärgert klang. „Thornnastor von der Pathologie hat schließlich drei Münder, und ich schaffe es nicht einmal, daß er auch nur einen davon hält. Es waren ja wirklich nette Briefe, aber nach meinem Empfinden sind die Rückseiten von Testberichten über Auswurf nicht gerade angebracht für.!“ „Tut mir leid“, entschuldigte sich Conway. „Soll nicht wieder vorkommen.“ Mit diesem Wortwechsel kehrte wieder die düstere Stimmung zurück, die Murchisons Anblick aus seinen Gedanken vertrieben hatte. Es würde ganz sicher nicht wieder vorkommen, dachte Conway betrübt, nie wieder. Die heiße, künstliche Sonne schien seine Haut nicht so zu wärmen, wie er es in Erinnerung hatte, auch das Wasser war nicht mehr so prickelnd kalt, und selbst unter den Schwerkraftverhältnissen von einem halben Ge war das Schwimmen für ihn eher ermüdend als belebend. Es kam ihm so vor, als wäre sein Körper in einen dichten Schleier von Müdigkeit gehüllt, der sämtliche Gefühle betäubte. Nach nur wenigen Minuten schwamm er ins flache Wasser zurück und watete an den Strand. Murchison folgte ihm mit besorgter Miene an Land. „Sie sind dünner geworden“, stellte sie fest, als sie ihn eingeholt hatte. Conways erster Gedanke war zu antworten: „Sie aber nicht“, doch Murchison hätte das beabsichtigte Kompliment falsch verstehen können. Und als Gesellschaft war er zum gegenwärtigen Zeitpunkt so schon miserabel genug, da mußte er es nicht auch noch riskieren, sie zu beleidigen. Plötzlich hatte er eine Idee und sagte schnell: „Ich hab ganz vergessen, daß Sie ja gerade erst Feierabend gemacht und noch nichts gegessen haben. Wollen wir ins Restaurant gehen?“ „O ja, bitte“, antwortete Murchison begeistert. Das Restaurant thronte hoch oben auf der Klippe, gegenüber den Vorsprüngen, die als Absprungschanzen dienten. Der ganze Stolz des Lokals war eine durchgezogene transparente Wand, die eine uneingeschränkte Aussicht auf den Strand ermöglichte und gleichzeitig den Lärm abhielt. Daher war dies der einzige Ort im Freizeitbereich, wo man ein ruhiges Gespräch führen konnte. Doch für Murchison und Conway war die Stille vollkommen überflüssig, weil sie sowieso kaum miteinander sprachen, jedenfalls bis sie die Mahlzeit halb beendet hatten. „Sie essen auch nicht mehr soviel“, unterbrach Murchison schließlich das Schweigen. „Haben Sie jemals ein Raumschiff besessen oder navigiert?“ fragte Conway unvermittelt. „Ich…? Natürlich nicht!“ „Dann nehmen wir einmal an, Sie haben Schiffbruch erlitten, und der Astronavigator ist verletzt und bewußtlos“, hakte Conway unbeirrt nach. „Der Schiffsantrieb ist inzwischen wieder repariert. Könnten Sie dann die Koordinaten von irgendeinem Planeten innerhalb der Föderation angeben?“ „Nein“, antwortete Murchison ungeduldig. „Ich müßte schon so lange aushalten, bis der Astronavigator wieder aufgewacht ist. Was sind denn das für komische Fragen?“ „Das sind Fragen, die ich allen meinen Freunden stellen werde“, erwiderte Conway grimmig. „Wenn Sie eine davon mit Ja beantwortet hätten, wäre mir ein Stein vom Herzen gefallen.“ Murchison legte Messer und Gabel hin und runzelte leicht die Stirn. Conway fand, daß sie herrlich aussah, wenn sie die Stirn runzelte oder lachte oder überhaupt irgend etwas tat. Und ganz besonders, wenn sie einen Badeanzug trug. Das war eins der Dinge, die er am Freizeitbereich am meisten schätzte — man durfte in Badeanzügen und — hosen essen. Wenn er sich bloß von dieser düsteren Stimmung befreien und ein paar Stunden lang ein vor Leben sprühender Gesprächspartner sein könnte. Denn so, wie er sich gegenwärtig aufführte, bezweifelte er, ob sich Murchison auch heute von ihm nach Hause begleiten ließ. Und noch weniger würde sie sich die Umarmung in den zwei Minuten und achtundvierzig Sekunden gefallen lassen, die es dauerte, bis die Roboterstimme dazwischenfuhr. „Irgend etwas bedrückt Sie doch“, stellte Murchison fest. Sie zögerte und fuhr dann fort: „Wenn Sie eine Schulter zum Anlehnen brauchen, dann nur zu. Aber merken Sie sich eins: meine Schulter ist nur zum Ausweinen da und zu nichts sonst!“ „Wozu könnte ich sie denn sonst noch gebrauchen?“ fragte Conway scheinheilig. „Keine Ahnung“, entgegnete sie lächelnd. „Aber das werde ich wahrscheinlich noch herausfinden.“ Conway erwiderte das Lächeln nicht. Statt dessen sprach er von den Dingen, die ihm Kopfzerbrechen machten, und auch von den Leuten, einschließlich ihr. Als er sich schließlich alles von der Seele geredet hatte, sagte sie lange Zeit nichts. Traurig beobachtete Conway, wie sich das etwas absonderlich wirkende Bild von einer hingebungsvollen, äußerst hübschen jungen Frau in einem weißen Badeanzug zu einer Entscheidung durch rang, die ihr ziemlich sicher das Leben kosten würde. „Ich glaube, ich bleibe hier“, lautete schließlich ihre Antwort. Conway hatte gewußt, daß sie das sagen würde. „Sie bleiben doch wohl auch?“ „Ich hab mich noch nicht entschieden“, reagierte Conway zurückhaltend. „Ich kann sowieso nicht weg bevor die Evakuierung abgeschlossen ist. Und dann gib es vielleicht nichts mehr, wofür es sich lohnen würde zu bleiben.“ Er unternahm einen letzten Versuch, sie zur Änderung ihrer Meinung zu bewegen: „. Ihre ganze ET-Ausbildung wäre für die Katz. Es gibt eine Menge anderer Hospitäler, die äußerst froh darüber wären, Sie zu beschäftigen.“ Murchison richtete sich im Stuhl auf. Im forschen, kompetenten und sachlichen Ton einer Schwester, die einem möglicherweise aufsässigen Patienten die Behandlung vorschrieb, antwortete sie: „Nach dem, was Sie mir erzählt haben, steht Ihnen morgen ein arbeitsreicher Tag bevor. Sie sollten deshalb jede Minute Schlaf ausnutzen, die Sie kriegen können. Deshalb sollten Sie jetzt schnurstracks auf Ihr Zimmer gehen.“ Und dann fügte sie in einem vollkommen anderen Ton hinzu: „Aber wenn Sie mich lieber erst nach Hause bringen möchten.“ 14. Kapitel Am Tag, nachdem man die Anweisung zur Evakuierung des Orbit Hospitals ausgegeben hatte, ging alles glatt über die Bühne. Mit den Patienten gab es überhaupt keine Schwierigkeiten, denn es lag ja in der Natur der Sache, daß Kranke eines Tages sowieso aus dem Krankenhaus entlassen werden. In diesem Fall ging die Entlassung eben nur ein wenig dramatischer als sonst vonstatten. Dagegen war es höchst unnatürlich, das medizinische Personal zu entlassen. Für einen Patienten stellte das Hospital lediglich eine schmerzhafte oder zumindest nicht besonders angenehme Episode in seinem Leben dar, für das Krankenhauspersonal hingegen war das Orbit Hospital das Leben selbst. Aber auch mit der Evakuierung des Personals ging am ersten Tag alles glatt. Sämtliche Mitarbeiter befolgten die Anordnungen, wahrscheinlich aus Gewohnheit oder weil es wegen ihres Schockzustands das einfachste war. Am zweiten Tag jedoch hatte der Schock allmählich nachgelassen, und die Personalangehörigen begannen miteinander zu diskutieren. Und die Person, mit der sie am dringendsten diskutieren wollten, war Dr. Conway. Am dritten Tag schließlich mußte Conway O’Mara anrufen. „Was los sein soll.?“ polterte Conway auf O’Maras Nachfrage los. „Diese. diese Horde von Genies macht Schwierigkeiten, weil sie die ganze Angelegenheit in vernünftigem Licht betrachtet, das ist los! Und je intelligenter ein Lebewesen ist, desto stumpfsinniger beharrt es darauf zu handeln. Nehmen Sie zum Beispiel Prilicla, ein Wesen, das eigentlich nur aus einer Eierschale mit Streichhölzern dran besteht und von einem einzigen starken Luftzug weggeblasen werden kann: Prilicla will bleiben! Oder Doktor Mannon, der schon praktisch ein Diagnostiker ist. Mannon sagt, endlich einmal ausschließlich terrestrische Opfer zu behandeln wäre so etwas Ähnliches wie Urlaub. Und ein paar der übrigen Mitarbeiter haben sich geradezu phantastisch anmutende Begründungen ausgedacht, um hierzubleiben! Sie müssen Ihnen endlich den Sinn dieser Evakuierung klarmachen, Sir. Sie sind schließlich der Chefpsychologe.“ „Drei Viertel des Arzt- und Wartungspersonals sind im Besitz von Informationen, die dem Feind im Fall ihrer Gefangennahme wahrscheinlich helfen würden“, entgegnete O’Mara in scharfem Ton. „Die werden das Hospital verlassen, egal, ob es sich dabei um Diagnostiker, Computertechniker, Krankenschwestern oder sonstige Stationspfleger handelt, und zwar aus Sicherheitsgründen. Die haben überhaupt keine andere Wahl. Dann gibt es im Personal noch eine Anzahl von medizinischen Spezialisten, die sich wegen der Verfassung ihrer Patienten verpflichtet fühlen, zusammen mit ihren Schützlingen abzufliegen. Und was den Rest angeht, da kann ich nur sehr wenig tun. Schließlich handelt es sich dabei um geistig gesunde, intelligente und vernünftige Wesen, die sich durchaus selbst entscheiden können.“ Conway erwiderte nur: „Ha!“ „Bevor Sie die geistige Gesundheit von anderen Leuten in Zweifel ziehen, beantworten Sie mir doch bitte eine Frage“, entgegnete O’Mara trocken. „Wollen Sie denn überhaupt hierbleiben?“ „Nun, ich.“, begann Conway. O’Mara brach die Verbindung ab. Conway starrte noch lange auf den Hörer, bevor er ihn wieder aufhängte. Er hatte sich noch immer nicht entschieden, ob er nun bleiben wollte oder nicht. Er wußte, daß er nicht zum falschen Heldentum neigte, und eigentlich wollte er das Hospital unbedingt verlassen. Aber nicht ohne seine Freunde! Denn das, was Murchison und Prilicla und all die anderen im Hospital verbleibenden Freunde von ihm denken würden, wenn er sich aus dem Staub machte, könnte er beim besten Willen nicht ertragen. Wahrscheinlich glaubten sie alle, er wollte im Hospital bleiben, wäre jedoch zu bescheiden, um das zuzugeben. In Wahrheit aber brachte er aus purer Feigheit und Scheinheiligkeit nicht das Geständnis über die Lippen, schlichtweg Angst zu haben. Die scharfe Stimme von Colonel Skempton lenkte ihn wenigstens für einen Augenblick von seinen quälenden Gedanken des Selbstzweifels ab. „Doktor, das kelgianische Hospitalschiff ist eben eingetroffen und auch ein illensanischer Frachter. Die docken in zehn Minuten an den Schleusen fünf und siebzehn an.“ „Gut“, entgegnete Conway. Er verließ das Büro fast im Laufschritt und begab sich zur Anmeldezentrale auf der Aufnahmestation. Als er ankam, waren alle drei Kontrollpulte besetzt — zwei von Nidianern und das dritte von einem Lieutenant des Monitorkorps, der sich in Bereitschaft hielt. Conway stellte sich in die Mitte hinter die beiden Nidianer, weil er so beide Repeaterschirme gleichzeitig beobachten konnte. Im übrigen hoffte er von ganzem Herzen, mit den Dingen fertigzuwerden, die wahrscheinlich unvermeidbar schiefgehen würden. Das bereits an Schleuse fünf angedockte kelgianische Schiff war ein regelrechtes Ungeheuer, eins der neuesten interstellaren Passagierschiffe, das noch während der Anreise in ein Hospitalschiff umgebaut worden waren. Die Veränderungen waren zwar noch nicht ganz abgeschlossen, doch ein Team von Wartungstechnikern und Robotern ging bereits an Bord. Dabei wurden sie von qualifiziertem Stationspersonal begleitet, das Vorkehrungen für die Unterbringung und Verteilung der Patienten auf dem Schiff traf. Zur gleichen Zeit bereitete man auch schon auf den einzelnen Stationen die Patienten für die Verlegung vor und baute in aller Eile die für ihre Behandlung notwendigen Geräte ab, wobei man nur wenig Rücksicht auf den anschließenden Zustand der Wände nahm. Einige der kleineren Geräte, die man auf elektrisch angetriebene Tragbahren geladen hatte, waren bereits auf dem Weg zum Schiff Insgesamt sah es nach einem ziemlich einfachen Unternehmen aus. Die Atmosphäre-, Druck- und Schwerkrafterfordernisse der Patienten entsprachen ganz genau denen auf dem Schiff, weshalb keine komplizierten Sicherheitsvorkehrungen nötig waren. Darüber hinaus war das Schiff groß genug, um sämtliche kelgianischen Patienten aufzunehmen, und hatte dann sogar noch Platz übrig. Conway würde also in der Lage sein, die DBLF-Ebenen vollständig zu räumen, und zusätzlich gleich noch ein paar tralthanische FGLIs loszuwerden. Doch obwohl diese erste Aufgabe relativ unkompliziert war, schätzte Conway, daß es dennoch wenigstens sechs Stunden dauern würde, bis das Schiff voll besetzt und abgeflogen war. Er wandte sich dem zweiten Kontrollpult zu. Auf diesem Repeaterschirm bot sich ihm ein fast ähnliches Bild wie auf dem ersten. Die auf dem illensanischen Frachter reproduzierte Umweltbedingung stimmte zwar in jeder Hinsicht mit der auf den PVSJ-Stationen überein, doch dafür war das Schiff kleiner als das kelgianische Hospitalschiff und besaß wegen seines sonst üblichen Verwendungszwecks als Frachter keine große Besatzung. Aus diesem Grund waren auch die Vorbereitungen für die Aufnahme der Patienten nicht besonders weit vorangeschritten. Conway schickte deshalb zusätzliches Wartungspersonal auf das illensanische Schiff, zumal er glaubte, daß die Wartungstechniker sowieso froh sein würden, zusammen mit den sechzig PVSJs wegfliegen zu können. In der gleichen Zeit, die der Frachter für die Aufnahme dieser sechzig Patienten brauchte, würden sich auf dem kelgianischen Hospitalschiff schon sämtliche Patienten aus drei kompletten Ebenen eingeschifft haben. Conway versuchte immer noch, eine Patentlösung für das Problem zu finden, als plötzlich der bislang dunkel gebliebene Bildschirm des Lieutenants aufflackerte. „Ein tralthanisches Ambulanzschiff, Doktor“, berichtete der Lieutenant. „Es ist voll bemannt und hat bereits sämtliche Vorkehrungen getroffen, sechs FROBs, einen Chalder und zwanzig Tralthaner an Bord zu nehmen. Bei diesem Schiff sind also keine weiteren Vorbereitungen notwendig. Die Besatzung sagt, Sie sollen die Passagiere einfach an Bord bringen.“ Die Bewohner von Chalderescol, eine zwölf Meter lange gepanzerte, fischähnliche Spezies der physiologischen Klassifikation AUGL, waren Wasseratmer, die in keinem anderen Medium länger als ein paar Sekunden überleben konnten. Bei den hudlarischen FROBs hingegen handelte es sich um gedrungene, ungeheuer wuchtige und dickhäutige Lebewesen, die den zermalmenden Schwerkraft- und extremen Druckverhältnisse ihres Heimatplaneten Hudlar angepaßt waren. Genaugenommen atmeten Hudlarer überhaupt nicht, und durch ihre unglaublich robuste Haut konnten sie lange Zeit auch ohne Schwerkraft und Druck überleben. Deshalb würde sie das Wasser in der AUGL-Abteilung überhaupt nicht stören. „Lassen Sie den Chalder zur Schleuse achtundzwanzig bringen“, ordnete Conway schnell an. „Und während die Besatzung den Chalder an Bord nimmt, soll man die FROBs durch die ELNT-Abteilung in das Hauptbecken der AUGLs und dann durch die gleiche Schleuse zum Schiff führen. Und wenn schließlich die FROBs an Bord sind, sagen Sie der Besatzung bitte, sie soll zur Schleuse fünf fliegen, weil dann dort die restlichen Patienten warten.“ Allmählich kam die Evakuierung in Gang. An Bord des illensanischen Frachters bereitete man die Plätze für die ersten genesenden PVSJs vor. Und der langsame Treck aus Patienten und Personalangehörigen setzte sich auch schon durch den giftigen gelben Nebel in der Abteilung der Chloratmer in Bewegung. Gleichzeitig zeigte der dritte Bildschirm in der Anmeldezentrale einen langen Zug von Kelgianern, die sich in ihrer schlängelnden Fortbewegungsart auf das kelgianische Hospitalschiff zubewegten. Und neben diesem Zug liefen Mitglieder des medizinischen und technischen Personals mit den benötigten Geräten hin und her. Manchem der Beteiligten mag es vielleicht kaltherzig erschienen sein, zuerst die genesenden Patienten zu evakuieren, doch dafür gab es sehr gute Gründe — wenn die fast gesunden Wesen den noch kranken oder verletzten Patienten nicht mehr im Weg waren, dann waren dadurch die Stationen weniger überfüllt, und auch an den Schleusen herrschte kein so großer Andrang mehr. Auf diese Weise konnte man später auch die schwerer erkrankten Patienten mit ihren komplizierten Gestellen und Geschirren leichter bewegen und ihnen darüber hinaus jetzt noch ein wenig mehr Genesungszeit unter den optimalen Bedingungen der Stationen lassen. „Da kommen noch zwei illensanische Schiffe, Doktor“, meldete der Lieutenant plötzlich. „Kleine Dinger, haben Platz für ungefähr je zwanzig Patienten.“ „Schleuse siebzehn ist noch besetzt“, sagte Conway. „Sagen Sie ihnen, sie sollen erstmal auf Warteposition gehen.“ Als nächstes traf ein kleines Passagierschiff von dem von Terrestriern bewohnten Planeten Gregor ein, und gleichzeitig brachte man Tabletts mit Mittagessen in die Anmeldezentrale herein. Das Orbit Hospital hatte zwar nur ein paar terrestrische Patienten, aber zur Not konnte das Schiff auch jeden anderen warmblütigen Sauerstoffatmer an Bord nehmen, der eine geringere Masse als ein Tralthaner hatte. Conway fertigte beide Anflüge gleichzeitig ab, und dabei war es ihm völlig egal, ob er nun mit vollem Mund sprechen oder sogar schreien mußte. Dann erschien plötzlich auch noch das verschwitzte und abgespannte Gesicht von Colonel Skempton auf dem hausinternen Bildschirm. „Doktor, da draußen befinden sich zwei illensanische Schiffe in Warteposition. Haben Sie für die nichts zu tun?“ fragte er mit scharfem Ton. „Doch!“ zischte Conway verärgert zurück, da ihm Skemptons Ton überhaupt nicht paßte. „Aber an Schleuse siebzehn liegt schon ein Schiff, das Chloratmer an Bord nimmt, und auf dieser Ebene ist nun mal keine weitere passende Schleuse vorhanden. Die müssen schon warten, bis sie an der Reihe sind.“ „Das geht nicht!“ unterbrach ihn Skempton schroff. „Falls der Feind angreifen sollte, befinden sich diese Schiffe da draußen in höchster Gefahr. Entweder fangen Sie also sofort damit an, die entsprechenden Passagiere an Bord bringen zu lassen, oder wir schicken sie eben wieder weg, und sagen ihnen, sie sollen später wiederkommen, wahrscheinlich viel später. Tut mir leid.“ Conway öffnete den Mund, schloß ihn dann jedoch schnell wieder und schnalzte mit der Zunge, weil er über seine beabsichtigte Erwiderung selbst entrüstet war. Während er verbissen an seiner Wut festhielt, versuchte er nachzudenken. Er wußte, daß schon seit Tagen die Verteidigungsflotte massiert wurde. Ihm war auch bekannt, daß die Astronavigationsoffiziere, die für das Heranlotsen dieser Einheiten an das Orbit Hospital verantwortlich waren, so schnell wie möglich wieder abfliegen würden; entweder auf ihren eigenen Aufklärungsschiffen oder zusammen mit den evakuierten Patienten. Denn für den vom Monitorkorps ausgearbeiteten Plan brauchten weder die Mitglieder der Verteidigungskräfte noch die im Hospital ausharrenden Nichtkämpfer Kenntnisse über die Position der Föderationsplaneten. Die Verteidigungsflotte hatte die Aufgabe, das Hospital und die an ihm andockenden Schiffe zu schützen, und der Gedanke an zwei frei um das Hospital herumfliegende Schiffe, die zudem vollausgebildete Astronavigatoren an Bord hatten, mußte fast zwangsläufig dazu geführt haben, daß Dermod, der Flottenkommandant des Monitorkorps, sauer geworden war und sich bei Skempton beschwert hatte. „Also gut, Colonel“, gab Conway nach. „Wir lassen die Schiffe an den Schleusen fünfzehn und einundzwanzig andocken. Das bedeutet jedoch, daß die Chloratmer durch die DBLF-Entbindungsstation und einen Teil der AUGL-Abteilung müssen. Aber trotz dieser Komplikationen müßten wir die Patienten in drei Stunden eingeschifft haben.“ „Komplikationen“ ist der richtige Ausdruck! dachte Conway grimmig, und er erteilte die notwendigen Anweisungen. Glücklicherweise müßte sowohl die DBLF-Station als auch die betreffende Station der AUGL-Ebene bereits leerstehen, sobald man dort die chloratmenden Illensaner in ihren Druckzelten hindurchführen würde. An einer angrenzenden Schleuse lag jedoch das Schiff vom Planeten Gregor und nahm ELNTs an Bord, die von DBLF-Schwestern in Schutzanzügen durch denselben Bereich geführt wurden. Darüber hinaus brachte man auch noch einige der unter geringer Schwerkraft lebenden, vogelähnlichen MSVKs zum gleichen Schiff, allerdings durch die Chlorabteilung. Die, so hoffte Conway, hatte er bis dahin geräumt. Plötzlich kam er zu der Überzeugung, daß es hier in der Anmeldezentrale einfach nicht genügend Bildschirme gab, um über die Vorgänge unten in den Abteilungen und an den Schleusen immer auf dem laufenden zu bleiben. Und er wollte unbedingt alles im Auge behalten, weil er das schreckliche Gefühl hatte, daß ein verheerendes Chaos entstehen könnte, wenn er nicht vorsichtig war. Aber er konnte natürlich nur dann vorsichtig sein, wenn er wirklich alles im Auge behielt. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als nach unten zu gehen und den Evakuierungsverkehr selbst zu regeln. Vorher rief er noch schnell O’Mara an, erläuterte ihm kurz die Lage und bat ihn, in der Anmeldezentrale von jemand anderem abgelöst zu werden. 15. Kapitel Als Ablösung traf schließlich Dr. Mannon in der Anmeldezentrale ein. Beim Anblick der Batterie von Bildschirmen und blinkenden Lämpchen stöhnte er zwar kläglich auf, übernahm dann jedoch ruhig die Leitung der Evakuierung. Conway hätte sich gar keine bessere Vertretung wünschen können. Er wandte sich gerade zum Gehen, als Mannon das Gesicht bis auf Handbreite an einen der Bildschirme heranschob und „Hmpf!“ sagte. Conway blieb stehen. „Was ist denn los?“ „Nichts, nichts“, entgegnete Mannon, ohne sich umzudrehen. „Ich fange jetzt nur langsam an zu verstehen, warum Sie unbedingt nach unten wollen.“ „Aber ich hab Ihnen doch schon gesagt, warum!“ raunzte Conway ihn ungeduldig an. Er stapfte hinaus und dachte ärgerlich, daß Mannon sich zu einem Zeitpunkt mit unsinnigen Plaudereien abgab, wo jede Art überflüssigen Geredes geradezu kriminell war. Dann fragte er sich allerdings, ob der alternde Dr. Mannon vielleicht nur müde war oder ob ein besonders verwirrendes Physiologieband gerade in seinem Kopf sein Unwesen trieb. Auf einmal schämte er sich — zwar hatte es ihn vorhin nicht übermäßig gestört, Skempton oder den Nidianer in der Anmeldezentrale hin und wieder anzuschnauzen, aber er wollte jetzt nicht damit anfangen, auch noch seinen Freunden die Köpfe abzureißen. Selbst dann nicht, wenn er von Sorgen gequält und müde werden sollte, und das ganze Hospital zum Teufel gehen würde. Bald darauf war Conway wieder viel zu beschäftigt, um sich weiterhin vor sich selbst zu schämen. Drei Stunden später schien sich das Durcheinander um ihn herum verdoppelt zu haben, obwohl in Wirklichkeit lediglich das Doppelte in der halben Zeit erledigt und geleistet wurde. Von seinem Standort bei einem der hochgelegenen Eingänge zur AUGL-Station konnte Conway auf eine Schlange ELNTs — sechsbeinige krabbenähnliche Wesen vom Melf IV — hinuntersehen, die über den Boden des großen Beckens krabbelten oder gezogen wurden. Anders als die von ihnen begleiteten amphibischen Patienten mußten die mit dickem Fell besetzten, Sauerstoff atmenden Kelgianer Druckhüllen tragen, in denen sie vor Hitze fast umkamen. Die zu Conway nach oben steigenden übersetzten Gesprächsfetzen waren dann auch flammende Verwünschungen, obwohl sie zwangsläufig emotionslos waren. Doch die Arbeit ging voran, und zwar viel schneller, als Conway jemals gehofft hatte. Auf dem Korridor hinter ihm zog eine langsame Prozession von Illensanern vorbei, die den Wassertank bereits erfolgreich hinter sich gelassen hatte. Einige von ihnen trugen Schutzanzüge, die schwerer erkrankten PVSJs lagen hingegen in ihren von Druckzelten umschlossenen Betten. Terrestrische und kelgianische Schwestern begleiteten den Zug. Die Überführung ging jetzt also glatt über die Bühne, stellte Conway mit Erleichterung fest, zumal er sich noch vor einer halben Stunde gefragt hatte, ob die Evakuierung überhaupt jemals klappen würde. Denn als die großen illensanischen Druckzelte eine halben Stunde zuvor schließlich bis zur wassergefüllten AUGL-Abteilung gelangt waren und von den Schwestern in den Korridor hineingeschoben wurden, waren sie im Wasser sofort wie riesige Chlorblasen emporgestiegen und hatten sich fest gegen die Decke gedrückt. Es war unmöglich, sie an der Korridordecke entlangzuziehen, weil man die dünnen Hüllen womöglich an den vorstehenden Rohren zerrissen hätte. Und es war natürlich äußerst unpraktisch, fünf oder sechs Schwestern zu nehmen, um die Betten auf den Boden zu drücken. Deshalb hatte Conway schließlich Elektrobahren aus der darüberliegenden Ebene geholt — Fahrzeuge, die zwar eigentlich nicht für den Unterwasserbetrieb vorgesehen sind, theoretisch aber trotzdem funktionieren mußten —, um die Patienten mit dem übermäßigen Auftrieb nicht nur am Boden zu halten, sondern sie gleichzeitig auch noch schnell fortbewegen zu können. Als man die Patienten mit ihren Druckzeltbetten dann aber auf diesen Gestellen befestigt hatte und in das Becken fuhr, platzte zu allem Überfluß auch noch ein Batteriegehäuse. Sofort bildete sich um das betreffende Gestell herum eine Wolke aus zischendem, brodelndem Wasser, das sich schnell schwarz färbte. Conway hätte es nicht überrascht zu hören, daß der Patient auf diesem Gestell einen Rückfall erlitten hatte. Doch schließlich löste er das Problem mit einem großartigen Geistesblitz — der ihm allerdings schon zwei Sekunden zuvor hätte kommen müssen, nachdem er das eigentliche Problem erkannt hatte, wie er sich selbst verärgert vorwarf. Er schaltete jedenfalls schnell die künstlichen Schwerkraftgitter im Korridor auf null Ge, und in der dadurch entstandenen Schwerelosigkeit verloren die Druckzelte natürlich ihren Auftrieb. Deshalb konnten die Schwestern nun zwar nicht mehr neben ihren Patienten einhergehen, sondern mußten vielmehr schwimmen, aber das war nun wahrhaftig kein großes Problem. Während dieses PVSJ-Transports erfuhr Conway auch den Grund für Mannons „Hmpf!“ oben in der Anmeldezentrale — bei einer der an diesem Unternehmen beteiligten Schwestern handelte es sich nämlich um Murchison. Sie hatte ihn natürlich nicht bemerkt, doch er kannte nur eine Frau, die den leichten Schwesternanzug auf diese unnachahmliche Weise füllen konnte. Conway hatte jedoch noch nicht mit ihr gesprochen, dazu schien hier weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt zu sein. Die Stunden verstrichen, ohne daß weitere größere Probleme auftauchten. Das kelgianische Hospitalschiff an Schleuse fünf war inzwischen zum Abflug bereit und wartete nur noch auf einige Mitglieder des Hospitalpersonals und auf ein Monitorschiff, das ihm bis zum Erreichen einer sicheren Eintauchdistanz in den Hyperraum Geleitschutz geben sollte. Unter einigen der mit diesem Schiff abfliegenden Wesen waren viele langjährige Freunde Conways, und deshalb entschloß er sich, die durch die momentane Ruheperiode gebotene Chance zu nutzen, um sich von ihnen wenigstens kurz zu verabschieden. Er setzte rasch Mannon von seiner Absicht in Kenntnis, und machte sich dann auf den Weg zu Schleuse fünf. Doch als Conway schließlich dort angekommen war, hatte das kelgianische Schiff bereits abgelegt. Durch eine der großen Direktsichtluken hindurch sah er, wie es sich, dicht gefolgt von einem Monitorkreuzer, entfernte. Hinter den beiden Schiffen schwebte die Verteidigungsflotte des Monitorkorps in der undurchdringlichen Schwärze des Alls wie ein neu entstandenes Sternbild. Die Massierung der Einheiten um das Hospital herum verlief ganz nach Plan und hatte sichtlich zugenommen, seit Conway am Vortag einen Blick auf die Einheiten geworfen hatte. Der Anblick flößte ihm zwar kein bißchen Ehrfurcht ein, trotzdem eilte er mit einem Gefühl der Sicherheit zur AUGL-Abteilung zurück. Als er dort ankam, war der Korridor durch eine sich immer weiter ausdehnende Kugel aus Eis fast völlig verstopft. Das Schiff vom Planeten Gregor besaß einen besonders tiefgekühlten Abschnitt für Lebewesen der Klassifikation SNLU — das sind zarte, kristalline, auf Methan basierende Lebensformen, die sofort zu Asche zerfallen, wenn die Umgebungstemperatur auf über minus hundertzwanzig Grad steigt. Im Orbit Hospital wurden momentan sieben dieser unter extremer Kälte lebenden Wesen behandelt. Für den Transport hatte man alle sieben SNLUs in eine drei Meter hohe, tiefgefrorene Kugel gesteckt. Wegen der Schwierigkeiten, die man beim Umgang mit dieser Kugel erwartete, brachte man die SNLUs als letzte der für das gregorianische Schiff bestimmten Patienten zur Schleuse. Wäre von der Kälteabteilung eine direkte Öffnung ins All vorhanden gewesen, dann hätte man die SNLUs an der Außenwand des Hospitals entlang zum Schiff gebracht. Da das jedoch nicht möglich war, mußte man sie von der Methanstation aus über vierzehn Ebenen zum Einschiffungspunkt an Schleuse sechzehn führen. Auf sämtlichen anderen Ebenen waren die Korridore geräumig und mit Luft oder Chlor gefüllt; deshalb hatte sich auf der Schutzkugel lediglich Rauhreif gebildet, und durch die Kälte war die Atmosphäre in unmittelbarer Umgebung nur abgekühlt worden, ohne ihren gasförmigen Zustand zu verändern. Doch in der AUGL-Abteilung handelte es sich nicht mehr um Rauhreif, sondern um massives Eis, das immer mehr an Umfang zunahm, und das rapide. Conway hatte zwar gewußt, daß sich die Kugel mit Eis überziehen würde, diesen Umstand jedoch nicht für wichtig gehalten. Denn eigentlich hätte sich die Kugel nicht so lange im wassergefüllten Korridor befinden sollen, daß das Eis zum Problem werden konnte. Doch unglücklicherweise war eine der Schleppleinen gerissen und die Kugel dadurch gegen ein vorstehendes Leitungsrohr gezogen worden. Innerhalb weniger Sekunden waren Kugel und Leitungsrohr zusammengefroren. Zur Zeit war die Kugel von einer ungefähr einen Meter dicken Eisschicht überzogen, und über und unter ihr war kaum noch Platz zum Durchkommen. „Schicken Sie uns Schneidbrenner runter“, brüllte Conway über Funk zu Mannon hoch. „Schnell!“ Kurz bevor der Korridor ganz blockiert war, trafen drei Monitore ein. Sie stellten die Flammen der Schneidbrenner auf maximale Streuung und gingen damit gegen die Eismasse vor, indem sie die Kugel von der vorstehenden Leitung losschmolzen und ihren Umfang auf eine „handlichere“ Größe zu verkleinern versuchten. In der Enge des Korridors schnellte die Wassertemperatur natürlich wegen der Hitzezufuhr nach oben, und zu allem Überfluß war keiner der Anzüge der Anwesenden mit Kühlelementen ausgerüstet. Conway konnte sich allmählich lebhaft vorstellen, wie sich Hummer beim Kochen fühlen mußten. Darüber hinaus stellte die gewaltige unhandliche Eismasse eine Gefahr für Leib und Leben dar, denn wenn sie plötzlich ins Rollen geriet, konnte man schnell zwischen ihr und der Korridorwand zerquetscht werden. Andererseits hätte wegen des siedenden, beinahe undurchsichtigen Wassers auch leicht ein Arm oder Bein zwischen das Eis und eine Schneidbrennerflamme geraten können. Aber schließlich war die Arbeit beendet, und man manövrierte den Behälter mit den darin befindlichen SNLUs durch die Zwischenschleuse in eine andere mit Luft gefüllte Abteilung. Conway fuhr sich mit der Hand über den Helm — ein unbewußter Versuch, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen — und fragte sich, was wohl noch alles schiefgehen würde. Oben aus der Anmeldezentrale ließ Dr. Mannon diesbezüglich verlauten, daß gar nichts mehr schiefgehen könne. Wie er mit unverhohlener Begeisterung berichtete, stünden jetzt sämtliche drei Ebenen für DBLFs leer, weil die Patienten mit dem kelgianischen Schiff bereits abgeflogen waren. Laut Mannon gehörten die einzigen im Hospital zurückgebliebenen kelgianischen Raupen ausnahmslos dem Pflegepersonal an. Die drei illensanischen Frachter hatten mittlerweile alle Chloratmer der PVSJ-Stationen aufgenommen, es fehlten nur noch ein paar Nachzügler, die sich jedoch in wenigen Minuten ebenfalls an Bord befinden würden. Von den Stationen der Wasseratmer war inzwischen die der AUGLs geräumt, auf der Station für ELNTs befänden sich keine Melfaner mehr, und auch die SNLUs schifften sich gerade in ihrem Minieisberg ein. Also standen alle vierzehn Ebenen leer. Das sei, wie Mannon meinte, doch kein schlechtes Stück Arbeit, und er schlug vor, Conway solle die Gelegenheit beim Schöpf packen und sich aufs Ohr hauen, um sich als Vorbereitung auf einen gleichermaßen arbeitsreichen morgigen Tag in einen Zustand willkürlicher Bewußtlosigkeit fallen zu lassen. Vorerst schwamm Conway noch müde auf die Zwischenschleuse zu, seine Gedanken kreisten aber bereits um die unendlich verführerische Vorstellung von einem großen Steak und einem langen Schlaf, wenn es sich denn so ergeben sollte. Plötzlich versetzte ihm irgend etwas, das er nicht sehen konnte, einen brutalen Schlag, der ihn bewegungsunfähig machte. Er wurde gleichzeitig an Unterleib, Brust und Beinen getroffen — also dort, wo der Anzug am engsten war. In Conways Innerem brach die Todesangst wie eine blutige Explosion aus, die sein gequälter Körper kaum unter Kontrolle bringen konnte. Er krümmte sich und wurde langsam ohnmächtig. Er wollte sterben und wünschte verzweifelt, sich zu übergeben. Doch irgendein winziger Teil seines Gehirns, der nicht vom Schmerz und der Übelkeit in Mitleidenschaft gezogen war, wollte das auf keinen Fall zulassen — sich in einen Helm zu übergeben ist eine äußerst scheußliche Art zu sterben. Nach und nach ließen die Schmerzen nach und wurden schließlich etwas erträglicher, doch fühlte er sich noch immer so, als hätte ihm ein Tralthaner mit allen sechs Füßen in den Unterleib getreten. Trotzdem nahm er jetzt langsam auch andere Dinge wahr: laute, penetrante, gluckernde Geräusche und den äußerst eigenartigen Anblick einer anscheinend ohne Schutzanzug im Wasser treibenden Kelgianerin. Ein zweiter Blick klärte Conway allerdings darüber auf, daß die Kelgianerin doch einen Anzug trug, dieser aber zerrissen und voller Wasser war. Weiter unten im Tank trieben zwei weitere Kelgianerinnen, deren lange, weiche und pelzige Körper vom Kopf bis zum Schwanz aufgeplatzt waren. Glücklicherweise verwischte ein sich ausbreitender roter Nebel die grauenerregenden Einzelheiten. Vor der gegenüberliegenden Wand des Beckens hatten sich um ein dunkles, unregelmäßiges Loch Turbulenzen gebildet. Dort schien das Wasser auszulaufen. Conway fluchte. Er glaubte zu wissen, was passiert war. Wodurch auch immer dieses ausgezackte Loch verursacht worden war, die Wucht hatte sich jedenfalls auch auf die unglückseligen Lebewesen im AUGL-Becken ausgedehnt, weil sich Wasser nun einmal nicht komprimieren läßt. Die dritte Kelgianerin und Conway selbst waren den schlimmsten Auswirkungen nur deshalb entgangen, weil sie sich hier oben im Korridor befunden hatten. Vielleicht war aber auch nur einer der beiden den Auswirkungen entgangen. Conway brauchte drei Minuten, um die kelgianische Schwester die zehn Meter durch den Korridor in die Schleuse zu ziehen. Als sie beide schließlich drinnen waren, schaltete Conway die Pumpen an, um das Wasser aus der Schleusenkammer zu saugen, und riß gleichzeitig ein Luftventil auf. Während das letzte Wasser ablief, mühte er sich damit ab, den durchnäßten, unbeweglichen Raupenkörper auf die Seite zu legen und an der einen Wand abzustützen. Das Fell der Kelgianerin war nicht mehr silbern, sondern nur noch eine Masse aus schmutzig grauen Stacheln, und Conway konnte keinen Puls und keine Atmung feststellen. Er legte sich schnell seitlich auf den Boden und drückte das dritte und vierte Beinpaar der Kelgianerin auseinander, damit seine Schulter in den Zwischenraum paßte. Dann stemmte er die Füße fest gegen die gegenüberliegende Wand und fing an, die Schulter rhythmisch gegen den Körper der Kelgianerin zu drücken. Conway wußte, daß es bei DBLFs keinen Sinn hatte, sich auf den riesigen Körper zu setzen und mit den Handflächen darauf zu drücken, um sie künstlich zu beatmen. Die von ihm angewandte Beatmungsmethode gab ihm recht — schon nach wenigen Sekunden tröpfelte das erste Wasser aus dem Mund der Kelgianerin. Er brach die Beatmung plötzlich ab, als er hörte, wie jemand die Schleuse vom Korridor der AUGL-Abteilung aus zu öffnen versuchte. Er wollte sich über Funk mit dem Lebewesen in Verbindung zu setzen, doch entweder funktionierte sein Kopfhörer oder der des anderen Lebewesens nicht. Deshalb nahm er schnell den Helm ab und hielt den Mund gegen die Tür, formte mit den Händen einen Trichter und brüllte: „Ich bin Sauerstoffatmer und hier drinnen ohne Anzug! Öffnen Sie bitte nicht die Tür, sonst ertrinken wir! Kommen Sie von der anderen Seite herein.!“ Ein paar Minuten später öffnete sich die Schleusentür auf der anderen Seite, hinter der eine mit Luft gefüllte Abteilung lag, und Murchison blickte auf Conway herunter. „D-Doktor Conway.“, sagte sie mit eigenartiger Stimme. Conway stieß sich heftig mit den Beinen von der Wand ab, rammte seine Schultern mit voller Wucht in den Abschnitt des Bauchs der Kelgianerin, der den Lungen am nächsten war und fragte: „Was?“ „Ich. Sie. die Explosion“, stammelte Murchison. Nach diesem kurzen Fehlstart wurde ihr Ton jedoch fest und entschlossen, und sie fuhr fort: „Es hat eine Explosion gegeben, Doktor. Eine der DBLF-Schwestern ist verletzt. Ein Stück der Bodenverkleidung ist auf sie geschleudert worden, und dadurch hat sie sich schwere Rißwunden zugezogen. Wir haben sofort Gerinnungsmittel auf die Wunden getan, aber ich glaube nicht, daß die Wirkung lange anhält. Außerdem dringt in den Korridor, auf dem die Schwester liegt, Wasser ein; die Explosion muß wohl ein Loch zur AUGL-Abteilung gerissen haben. Außerdem sinkt der Luftdruck. Das Hospital muß irgendwo eine Öffnung ins All haben. Und zu guter Letzt kann man auch noch einen deutlichen Chlorgeruch wahrnehmen.“ Conway stöhnte und stellte seine Bemühungen um die Kelgianerin ein, doch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Murchison schnell fort: „Die kelgianischen Ärzte sind bereits allesamt evakuiert worden, und die einzigen zurückgebliebenen DBLFs sind diese Kelgianerin und noch ein paar andere, die hier irgendwo in der Gegend sein müssen. Aber die gehören alle nur dem Schwesternpersonal an.“ Da haben wir den Schlamassel, dachte Conway, als er sich aufrappelte: Verseuchung und drohende Dekompression. Die Kelgianerin mit den Rißwunden mußte schleunigst fortgeschafft werden — sollte der Druck zu stark abfallen, würden die gasdichten Türen regelrecht herausgesprengt werden, und befand sich die Patientin dann gerade auf der falschen Seite der Türen, könnte das wirklich schlimme Folgen haben. Da kein qualifizierter DBLF im Hospital war, mußte er sich umgehend ein kelgianisches Physiologieband besorgen und die Arbeit selbst erledigen. Und das bedeutete für ihn, sich schleunigst auf den Weg zu O’Maras Büro zu machen. Doch vorher mußte er erst noch einen Blick auf die Patientin werfen. „Übernehmen Sie doch bitte diese Kelgianerin, Schwester“, bat er Murchison und wies dabei auf die durchnäßte Masse auf dem Boden. „Ich glaube zwar, daß sie wieder von selbst zu atmen anfängt, aber wenn Sie noch zehn Minuten weitermachen würden.“ Er schaute zu, wie sich Murchison auf die Seite legte, wobei sie die Knie anzog und beide Füße gegen die gegenüberliegende Wand stemmte. Zwar war es ganz bestimmt weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, aber durch den Anblick, den sie bot, als sie so in ihrem sündhaft engen Anzug dalag, verloren Patientinnen, Evakuierungen und Physiologiebänder in Conways Augen doch einiges von ihrer Dringlichkeit — allerdings nur für einen kurzen Augenblick. Denn der enge, wasserbeperlte Anzug brachte ihm genauso schnell wieder in Erinnerung, daß sich Murchison nur wenige Minuten vor der Explosion selbst im AUGL-Becken aufgehalten hatte, und plötzlich stellte er sich vor, daß ihr herrlicher Körper genauso wie bei den beiden bedauernswerten DBLFs hätte zerrissen werden können. „Zwischen dem dritten und vierten Beinpaar, nicht zwischen dem fünften und sechsten!“ fuhr Conway sie in rauhem Ton an, bevor er sich zum Gehen wandte. Das war nun überhaupt nicht das, was er ihr eigentlich hatte sagen wollen. 16. Kapitel Aus irgendeinem Grund hatten sich Conways Gedanken eher mit den Auswirkungen der Explosion befaßt als mit deren Ursache. Vielleicht hatte er aber auch absichtlich nicht in diese Richtung denken wollen und sich statt dessen selbst weiszumachen versucht, daß die Explosion nicht durch einen Angriff auf das Hospital verursacht worden war, sondern irgendeine Art Unfall darstellte. Doch die unaufhörlichen Aufrufe und Mitteilungen aus den Lautsprechern erinnerten ihn an jeder Zwischenschleuse an die Wahrheit. Und auf dem Weg zu O’Maras Büro bemerkte er, daß sich alle doppelt so schnell wie sonst fortbewegten, allerdings stürmten sie in die entgegensetzte Richtung. Automatisch fragte er sich, ob diese Wesen seine eigenen Gefühle teilten, ob sie Angst hatten, sich schutzlos fühlten und wie er jeden Moment eine zweite Explosion erwarteten, die den Boden unter ihren dahineilenden Füßen auseinanderreißen könnte. Von Conway selbst schien jegliche Eile fehl am Platz, weil er, dem Verhalten der anderen nach zu urteilen, möglicherweise gerade auf den nächsten Explosionsort zulief. Er mußte sich direkt dazu zwingen, langsam in das Büro des Chefpsychologen zu gehen, seine Wünsche genau darzulegen und O’Mara ruhig zu fragen, was geschehen war. „Das waren sieben Schiffe“, entgegnete O’Mara und wies Conway auf die Couch, während er den Helm zur Übertragung des Schulungsbandes in die richtige Position herunterließ. „Anscheinend ganz kleine Dinger ohne ungewöhnliche Bewaffnung oder Abwehreinrichtungen. Es war ein kurzes, aber heftiges Gefecht. Drei Schiffe konnten entkommen, aber eins der vier vernichteten hat noch nach dem Beschuß durch die Verteidigungsflotte eine Rakete auf uns abgefeuert. Das war eine kleine Rakete mit chemischem Sprengkopf. Das ist übrigens sehr merkwürdig“, fuhr O’Mara nachdenklich fort. „Denn wenn es ein Nuklearsprengkopf gewesen wäre, dann würde es jetzt kein Orbit Hospital mehr geben. Wir hatten die feindlichen Schiffe nicht so früh erwartet und waren deshalb ein wenig überrascht. Müssen Sie wirklich diese Patientin übernehmen?“ „Wie? Ach so, ja“, antwortete Conway. „Sie wissen ja: DBLR. Für die ist doch schon jede Schnittwunde ein Notfall. Und bis ein anderer Arzt sich die Patientin angesehen hat und wegen des Schulungsbands hierhergekommen ist, ist es vielleicht schon zu spät.“ O’Mara stöhnte laut auf. Seine kräftigen, kantigen, merkwürdig sanften Händen überprüften den Sitz des Helms und drückten Conway auf die Couch, dann sagte er: „Die haben versucht, ihren Angriff mit aller Kraft zu führen, es war wirklich brutal. Meiner Meinung nach war das ein klarer Beweis für die feindseligen Gefühle, die sie gegen uns hegen. Trotzdem haben sie bloß einen chemischen Sprengkopf eingesetzt, obwohl sie in der Lage gewesen wären, uns völlig zu vernichten. Eigenartig. Der Treffer hat allerdings auch eine gute Seite — dadurch sind nämlich die Zauderer endlich zu einem Entschluß gekommen. Jetzt werden alle, die ausharren wollen, auch wirklich hierbleiben, und diejenigen, die weg wollen, werden schleunigst abfliegen. Von Dermods Standpunkt aus ist das eine gute Sache.“ Dermod war als Flottenkommandant für die Verteidigung des Orbit Hospitals zuständig. „. und jetzt machen Sie Ihren Kopf von allem frei“, schloß O’Mara griesgrämig, „oder wenigstens freier als sonst.“ Aber Conway mußte sich gar nicht anstrengen, seinen Kopf von allem frei zu machen — ein Vorgang, der die Aufnahme eines Physiologiebands im Gehirn unterstützte —, denn O’Maras Couch war wunderbar weich und bequem. Conway war sich dessen nie richtig bewußt gewesen, er schien direkt in der Couch zu versinken. Ein heftiger Schlag auf die Schulter ließ ihn auffahren. O’Mara ermahnte ihn in bissigem Ton: „Schlafen Sie nicht ein! Gehen Sie ins Bett, wenn Sie mit Ihrer Patientin fertig sind. Mannon kommt in der Anmeldezentrale schon mit allem zurecht. Außerdem zerfällt das Hospital auch ohne Sie nicht gleich zu Staub, es sei denn, wir werden von einem Nuklearsprengkopf getroffen.“ Conway verließ das Büro, wobei sich schon die ersten Anzeichen zeigten, daß er in Gedanken allmählich doppelt zu sehen begann. Im Grunde war das Physiologieband eine Gehirnaufnahme einer medizinischen Kapazität der gleichen Spezies, der der zu behandelnde Patient angehörte. Doch der Arzt, der sich solch ein Band überspielen ließ, mußte danach sein Gehirn buchstäblich mit einer wildfremden Persönlichkeit teilen. Zumindest hatte der Betreffende das Gefühl, weil sich sämtliche Erinnerungen und Erfahrungen des Bandurhebers in das Gehirn des Empfängers einprägten, und nicht nur ausgewählte medizinische Datensätze. Physiologiebänder konnten nämlich nicht geschnitten werden. Doch die DBLFs waren nicht so fremd wie einige der Wesen, mit denen Conway vorher sein Gehirn hatte teilen müssen. Obwohl die Kelgianer körperlich riesigen silbernen Raupen glichen, hatten sie vieles mit Terrestriern gemeinsam. Ihre Gefühlsreaktionen auf Reize wie Musik, ein Stück landschaftlicher Schönheit oder DBLFs vom anderen Geschlecht waren fast vollkommen identisch. Und der Kelgianer in Conways Gehirn mochte sogar Fleisch, weshalb er nicht an Salat zu verhungern brauchte, falls er das Band lange im Kopf behalten mußte. Was machte es da aus, wenn er sich wirklich unsicher fühlte, weil er auf nur zwei Beinen laufen mußte, oder feststellte, daß er beim Gehen rhythmisch einen Buckel machte? Als er schließlich die verlassene DBLF-Abteilung erreichte und im kleinen Operationssaal eintraf, in den man die Patientin gebracht hatte, machte es ihm nicht einmal mehr etwas aus, daß ein Teil seines Gehirns über Schwester Murchison wie über jedes andere Wesen dieser spindeldürren DBDGs von der Erde dachte. Obwohl Murchison alles für ihn vorbereitet hatte, machte sich Conway nicht sofort an die Arbeit, da er wegen der Gedanken und der Persönlichkeit des großen kelgianischen Arztes in seinem Gehirn jetzt mit der Patientin wirklich mitempfinden konnte. Er erkannte die Ernsthaftigkeit ihres Zustands und wußte, daß mehrere Stunden heikler und schwierigster Arbeit vor ihm lagen. Gleichzeitig spürte er aber auch Müdigkeit und konnte kaum noch die Augen offenhalten. Es war für ihn schon anstrengend, die Füße zu bewegen, und bei der Überprüfung der Instrumente fühlten sich seine Finger müde und wie dicke Würste an. Ihm war klar, daß er in dieser Verfassung unmöglich arbeiten konnte, es sei denn, er wollte seine Patientin töten. „Könnten Sie mir bitte eine Aufputschspritze fertig machen?“ bat Conway, wobei er die Zähne zusammenbiß, um nicht zu gähnen. Einen Augenblick lang sah Murchison so aus, als ob sie Conway womöglich widersprechen wollte, denn Aufputschspritzen waren im Orbit Hospital verpönt. Man billigte ihren Einsatz nur im schlimmsten Notfall, und das aus sehr gutem Grund. Dennoch bereitete Murchison die Spritze vor und injizierte sie ihm schließlich, ohne ein Wort zu sagen. Dabei benutzte sie allerdings eine stumpfe Nadel und wandte beim Einstechen völlig unnötige Kraft auf. Obwohl ihm die Hälfte des Gehirns nicht mehr gehörte, merkte Conway deutlich, daß sie böse auf ihn war. Und dann schlug die Spritze auf einmal an. Abgesehen von einem leichten Kribbeln in den Füßen und Flecken im Gesicht, die nur Murchison sehen konnte, fühlte sich Conway so scharfsichtig, wach und körperlich frisch, als ob er nach zehn Stunden Schlaf gerade aus der Dusche gekommen wäre. „Wie geht es eigentlich der anderen Kelgianerin?“ fragte er plötzlich. Vor lauter Müdigkeit hatte er die Kelgianerin ganz vergessen, die er zusammen mit Murchison in der Schleuse zurückgelassen hatte. „Die künstliche Beatmung hat sie wieder zu Bewußtsein gebracht“, antwortete Murchison matt und fuhr dann etwas lebhafter fort: „Aber sie hatte noch einen Schock. Ich hab sie nach oben in die Tralthanerstation geschickt, da sind immer noch einige vom medizinischen Fachpersonal.“ „Gut“, lobte Conway sie herzlich. Er wollte eigentlich noch mehr sagen, ihr auf persönlicherer Ebene schmeicheln, da er aber wußte, daß keine Zeit zum Herumstehen und Plaudern war, murmelte er nur vor sich hin: „Dann fangen wir mal an.“ Die Spezies der Klassifikation DBLF hatte, abgesehen von der dünnen, engen Hülle rund ums Gehirn, kein Knochengerüst. Der Körper eines kelgianischen Wesens setzte sich aus einer Reihe von kreisförmigen Muskelbändern zusammen, die nicht nur zur Fortbewegung dienten, sondern auch dem Schutz der lebenswichtigen Organe im Körperinnern. Dieser Schutz war vom Standpunkt eines Lebewesens, dessen Körper von einem üppigeren Knochengerüst gestützt wurde, alles andere als ausreichend. Ein weiterer schwerwiegender Nachteil des kelgianischen Körperbaus war im Fall einer Verletzung das komplizierte und äußerst leicht verletzbare Kreislaufsystem — denn das Adernetz, das die gewaltigen, den Körper kreisförmig umgebenden Muskelbänder mit Blut versorgen mußte, verlief dicht unter der Haut. Zwar bot hier das dichte Fell einigen Schutz, aber eben nicht gegen große, gezackte Metallsplitter, die durch die Gegend flogen. Folglich konnte eine Verletzung, die viele andere Spezies lediglich als oberflächlichen Kratzer ansahen, bei einem DBLF in Minutenschnelle zum Verbluten führen. Conway operierte langsam und vorsichtig. Er löste das von Murchison in aller Eile aufgetragene Gerinnungsmittel auf, vernähte oder ersetzte beschädigte Hauptblutgefäße und verschloß die kleineren Verästelungen, die ihm wegen ihrer Feinheit sowieso keine andere Wahl ließen. Dieser Teil der Operation bereitete ihm die meisten Sorgen; nicht weil dadurch etwa das Leben der Patientin in Gefahr geraten wäre, sondern weil Conway wußte, daß der silberne Pelz an diesen Stellen nie wieder richtig wachsen würde. Wenn das Fell überhaupt nachwuchs, dann würde es gelb verfärbt und für einen männlichen Kelgianer optisch abstoßend sein. Die verletzte Schwester war eine außergewöhnlich gutaussehende Frau, und da konnte solch eine Verunstaltung eine wirkliche Tragödie darstellen. Conway hoffte, daß sie nicht zu stolz sein würde, diese Stellen ständig mit Kunstfell zu bedecken. Obwohl Kunstfell zugegebenermaßen nicht den prächtigen, tiefen Glanz des echten Fells besaß und bei näherem Hinsehen als künstliches Fell zu erkennen war, aber andererseits wirkte es eben optisch nicht so abstoßend wie dieser gelbe Naturpelz. Noch vor einer Stunde wäre diese Kelgianerin für ihn lediglich eine Raupe unter vielen gewesen, dachte Conway. Eine Raupe, die er nur vom klinischen Standpunkt aus betrachtet hätte. Doch jetzt war er schon so weit, daß er sich über die Heiratsaussichten der Patientin Sorgen machte. Durch ein Physiologieband wurde man regelrecht dazu gezwungen, mit seinen ET-Patienten wirklich mitzufühlen. Als er die Operation beendet hatte, rief er in der Anmeldezentrale an, beschrieb den Zustand der Patientin und drängte darauf, sie so schnell wie möglich zu evakuieren. Mannon sagte ihm, an den Schleusen würde zur Zeit ein halbes Dutzend kleinerer Schiffe liegen, die im Moment gerade Patienten an Bord aufnahmen. Die meisten dieser Schiffe seien für Sauerstoffarmer vorbereitet. Er nannte ihm zwei Schleusen in der Nähe der DBLF-Abteilung, von denen Conway sich eine aussuchen konnte. Mannon fügte hinzu, daß alle Patienten der Klassifikationen A bis G bis auf die wenigen Schwerkranken entweder schon abgeflogen waren oder eben im Begriff standen, das Hospital zu verlassen, und zwar zusammen mit Personalangehörigen derselben Klassifikation, denen O’Mara aus Sicherheitsgründen befohlen hatte zu gehen. Von diesen Mitarbeitern des Hospitals hätten einige einen extremen Widerwillen gegen den Abflug an den Tag gelegt. Und ganz besonders ein uralter tralthanischer Diagnostiker, der das Pech hatte, Eigner einer privaten Raumjacht zu sein; ein Besitz, den man unter normalen Umständen sicherlich nicht gerade als Unglück angesehen hätte. Aber dieser Tralthaner wollte seine Jacht keinesfalls im Stich lassen, sondern — wenn es dazu kommen sollte — wie ein Kapitän zusammen mit seinem Schiff untergehen. Deshalb hatte man ihn offiziell des versuchten Hochverrats, der Störung des inneren Friedens und der Anstiftung zur Meuterei beschuldigen und festnehmen müssen. Das war die einzige Möglichkeit gewesen, ihn überhaupt auf ein Schiff zu bekommen. Als Conway den Hörer auflegte, dachte er, daß man ihn mit viel weniger Mühe zum Verlassen des Orbit Hospitals bringen könnte. Er schüttelte wütend und über sich selbst beschämt den Kopf und gab Murchison die Anweisungen für den Transport der Patientin zum Schiff. Für den ersten Abschnitt des Wegs durch die AUGL-Station, die ja jetzt durch ein Loch zum All hin offen war, mußte man die Kelgianerin in ein Druckzelt stecken. Im großen Becken befand sich kein Wasseratmer und auch kein Wasser mehr, denn es gab wirklich dringendere Dinge zu tun, als eine Abteilung instand zu setzen und wieder mit Wasser zu füllen, die höchstwahrscheinlich sowieso nie wieder benutzt werden würde. Beim Anblick des jetzt leeren, riesigen Beckens fühlte sich Conway furchtbar niedergeschlagen. Die Wände waren knochentrocken, und die üppige Unterwasservegetation, die die Station für die Insassen behaglicher erscheinen lassen sollte, hing von ihnen wie bröckelige, verfärbte Pergamentfetzen herab. Diese Niedergeschlagenheit hielt an, als er mit Murchison und der Kelgianerin die drei leeren Chlorebenen unter der AUGL-Station passierte und zu einem weiteren mit Luft gefüllten Abschnitt gelangte. Hier mußten sie eine Pause einlegen, um einen Zug von TLTUs vorbeizulassen. Conway war froh, eine Zwangspause einlegen zu müssen; denn obwohl er sich selbst wegen der Aufputschspritze immer noch putzmunter fühlte, ließen bei Murchison die Kräfte allmählich merklich nach. Sobald sie ihre Patientin an Bord gebracht hatten, wollte er ihr befehlen, sich sofort ins Bett zu begeben. Langsam fuhren sieben TLTUs in ihren Schutzkugeln vorbei. Diese waren auf Tragbahren befestigt worden, die von schweißgebadeten Pflegern mit angespannten Gesichtern gesteuert wurden. Auf diesen Kugeln sammelte sich jedoch, anders als bei denen der methanatmenden Lebensformen, kein Rauhreif an. Statt dessen ging von ihnen ein hoher, zitternder Pfeifton aus, der durch den Betrieb der Generatoren erzeugt wurde, die die Innentemperatur auf für die Insassen behagliche fünfhundert Grad Celsius hielten. Folglich war jede dieser vorbeifahrenden Kugeln von einem Hitzering umgeben, den Conway noch in sechs Metern Entfernung spüren konnte. Wenn hier und jetzt ein zweiter Sprengkopf einschlagen würde und dabei eine dieser Kugeln platzte. Conway glaubte nicht, daß es eine schlimmere Art zu sterben gab, als wenn einem das in einer extrem heißen Dampfwolke gekochte Fleisch von den Knochen fiel. Als sie schließlich die Patientin an der Schleuse dem medizinischen Offizier des Schiffs übergeben hatten, fiel es Conway schwer, die Augen auf einen Punkt zu richten, und seine Beine waren weich wie Gummi. Jetzt war es eigentlich angebracht, ins Bett zu gehen, dachte er, oder aber sich noch eine Aufputschspritze geben zu lassen. Er hatte sich gerade für die erste Möglichkeit entschieden, als ihn ein Offizier des Monitorkorps höflich abfing, dessen schwerer Schutzanzug noch die Kälte des Alls ausstrahlte. „Die Opfer sind hier, Sir“, sagte der Offizier in dringlichem Ton. „Wir haben sie einfach mit einem Versorgungsschiff hergebracht, weil die Anmeldezentrale mit der Evakuierung beschäftigt ist. Wir haben an der Schleuse zur DBLF-Abteilung angedockt, aber da ist niemand. Sie sind der erste Arzt, dem ich begegnet bin. Können Sie sich um die Opfer kümmern?“ Conway wollte schon fragen, um welche Opfer es sich dabei handelte, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig zurückhalten. Schließlich hatte es einen Angriff auf das Hospital gegeben, wie ihm plötzlich wieder einfiel. Den Angriff hatte man abgewehrt, und die Hauptsorge dieses Offiziers galt offensichtlich den dabei Verwundeten, egal, ob die Verletzungen schwer oder gering waren. Wenn er geahnt hätte, daß Conway viel zu beschäftigt gewesen war, um an das Gefecht und dessen Opfer zu denken. „Wo haben Sie die Verletzten hingebracht?“ fragte Conway. „Die sind noch auf dem Schiff“, antwortete der Offizier, wobei er sich etwas entspannte. „Wir hielten es für besser, daß sich erstmal jemand die Verwundeten ansieht, bevor wir sie transportieren. Denn einige sind. ich meine. ehm. würden Sie mir bitte folgen, Sir?“ Da lagen achtzehn Verwundete, die zertrümmerten Körper von aus Schiffswracks herausgefischten Männern. Sie steckten in Anzügen, die sich noch kalt anfühlten. Lediglich die Helme hatte man ihnen abgenommen, um festzustellen, ob sie überhaupt noch am Leben waren. Conway zählte drei Fälle von Dekompression. Bei den restlichen Verletzungen handelte es sich um unterschiedlich komplizierte Frakturen, von denen ein Fall ganz sicher ein eingedrückter Schädelbruch war. Glücklicherweise gab es keine Fälle von Strahlenverseuchung. Bisher war es also ein sauberer Krieg — sofern man Kriege überhaupt als sauber bezeichnen konnte. Conway spürte, wie er langsam wütend wurde, unterdrückte aber seinen Zorn. Es war einfach nicht der geeignete Zeitpunkt, sich über blutende, asphyktische Patienten mit Knochenbrüchen oder die für ihren Zustand verantwortlichen Ursachen aufzuregen. Statt dessen stand er auf und wandte sich an Schwester Murchison. „Ich brauche noch eine Aufputschspritze“, sagte er in schroffem Ton. „Das hier wird eine lange Behandlung. Aber zuerst muß ich das DBLF-Band löschen lassen und versuchen, Hilfe zusammenzutrommeln. Während ich weg bin, könnten Sie sich ja vielleicht schon mal darum kümmern, diese Männer aus den Anzügen rauszuholen und zum DBLF-Operationssaal fünf zu bringen. Danach sollten Sie Ihren Schlaf nachholen. Und vielen Dank für alles“, fügte er verlegen hinzu — er wollte nicht zu viel sagen, weil der Monitor immer noch dicht neben ihm stand. Hätte er versucht, all das auszusprechen, was er Murchison sagen wollte, während achtzehn dringende Fälle um ihre Füße herum lagen, wäre der Offizier sicherlich empört gewesen, und Conway hätte ihm deswegen nicht einmal Vorwürfe machen können. Aber der Monitor hatte ja auch verdammt noch mal nicht seit drei Stunden an der Seite von Murchison gearbeitet, und das auch noch unter der Wirkung von Aufputschmitteln, die sämtliche Sinne steigerten. „Falls es Ihnen helfen würde, könnte ich ja auch eine Aufputschspritze nehmen“, schlug Murchison unvermittelt vor. Dankbar antwortete Conway: „Sie sind zwar ganz schön verrückt, meine Liebe, aber insgeheim hab ich gehofft, daß Sie so etwas sagen würden.“ 17. Kapitel Am achten Tag hatte man alle extraterrestrischen Patienten evakuiert, und mit ihnen waren fast vier Fünftel des Hospitalpersonals abgeflogen. Auf den Ebenen, wo sonst extreme Temperatur-, Druck- und Schwerkraftverhältnisse herrschten, war die Energiezufuhr abgestellt worden. Deshalb gingen die extrem kalten festen Stoffe in flüssigen oder gasförmigen Zustand über, und die dichten oder extrem heißen Atmosphären schlugen sich als schlammige, dickflüssige Masse auf den Fußböden nieder. Während die Tage verstrichen, trafen schließlich immer mehr Monitore der technischen Abteilung ein, rüsteten die ehemaligen Stationen in eine Art Kaserne um und rissen große Teile der Außenwände heraus, um ins All herausragende Fundamente für Pressor- und Traktorstrahlenprojektoren und Abschußrampen errichten zu können. Dermod vertrat nämlich die Ansicht, das Orbit Hospital müsse sich auch selbst verteidigen können und dürfe sich nicht vollkommen auf die Flotte verlassen, da diese erwiesenermaßen keinen gänzlichen Schutz bieten konnte. So war bereits am fünfundzwanzigsten Tag aus dem einst ungeschützten Orbit Hospital ein schwerbewaffneter Militärstützpunkt geworden. Wegen der enormen Größe und der gewaltigen Energiereserven des Hospitals — die um ein Vielfaches größer als die der mobilen Streitkräfte waren, die jetzt zur Verteidigung des Krankenhauses zur Verfügung standen —, konnte eine ungeheure Menge wirklich furchterregender Waffensysteme installiert werden. Das war auch notwendig, denn am neunundzwanzigsten Tag erfolgte der erste Großangriff des Feinds, und die Wehrhaftigkeit des Krankenhauses wurde bis aufs äußerste auf die Probe gestellt. Der Angriff dauerte drei Tage. Conway wußte zwar, daß es seitens des Monitorkorps vernünftige und logische Gründe für die vorgenommene Befestigung des Hospitals gegeben hatte, aber es gefiel ihm trotzdem nicht. Selbst nach diesem absurden, dreitägigen Angriff, in dessen Verlauf das Hospital viermal getroffen worden war — glücklicherweise wiederum nur mit chemischen Sprengköpfen — fand er das nicht richtig. Immer wenn er daran dachte, daß das gewaltige, den höchsten Idealen der Humanität und Medizin gewidmete Gebäude zu einer schrecklichen und vollkommen unnatürlichen Vernichtungsmaschinerie umgerüstet worden war, mit der es auch noch seine eigenen Opfer produzierte, wurde Conway zornig und traurig. Er war von dieser ganzen scheußlichen Geschichte zutiefst angewidert, und manchmal war er auch versucht, seine Meinung zu äußern. Seit Beginn der Evakuierung waren mittlerweile fünf Wochen vergangen, und Conway saß mit Mannon und Prilicla beim Mittagessen zusammen. Die Hauptkantine war jetzt zu den Mahlzeiten längst nicht mehr überfüllt, und an den Tischen waren die grünuniformierten Monitore den ETs zahlenmäßig stark überlegen, obwohl sich immer noch über zweihundert Extraterrestrier im Hospital befanden, und das war es auch, woran sich Conway zur Zeit am meisten störte. „.und ich behaupte trotzdem, daß es eine Verschwendung ist“, sagte er wütend. „Eine Verschwendung von Leben, von medizinischen Talenten, einfach von allem! Es handelt sich doch bei sämtlichen Patienten um Verletzte des Monitorkorps, und so wird es auch in Zukunft sein, und jeder einzelne davon ist Terrestrier. Deshalb gibt es für unsere Extraterrestrier überhaupt keine interessanten ET-Fälle zu behandeln. Ich finde, man sollte dieses Personal nach Hause schicken! Übrigens einschließlich der gegenwärtig hier Anwesenden“, schloß er mit einem vielsagenden Blick auf Prilicla. Dann wandte er sich Mannon zu. Dr. Mannon schnitt sich gerade ein großes Stück von einem saftigen Steak ab und führte es mit der Gabel zum Mund. Da sämtliche seiner unter geringer Schwerkraft lebenden Patienten evakuiert worden waren, hatte er die LSVO- und MSVK-Bänder aus dem Kopf löschen lassen und unterlag deshalb bei seiner Ernährung keinen geistigen Einschränkungen mehr. In den fünf Wochen seit der Evakuierung hatte er merklich an Gewicht zugelegt. „Für einen ET sind wir aber interessante ETs“, merkte er nicht ohne Grund an. „Seien Sie doch nicht so spitzfindig“, entgegnete Conway. „Wogegen ich etwas hab, ist sinnloses Heldentum.“ Mannon hob die Augenbrauen. „Aber Heldentum ist fast immer sinnlos“, erwiderte er trocken. „Außerdem ist es äußerst ansteckend. Ich würde sagen, in diesem Fall hat das Korps durch seine Bereitschaft zur Verteidigung des Hospitals damit angefangen. Letztendlich haben wir uns deswegen verpflichtet gefühlt, ebenfalls zu bleiben, um uns um die Verwundeten zu kümmern. Zumindest fühlen sich ein paar von uns dazu verpflichtet, möglicherweise bilden wir uns aber auch nur ein, daß sich ein paar von uns dazu verpflichtet fühlen. Vernünftiger und logischer wäre es jedenfalls gewesen, wenn wir uns rechtzeitig abgesetzt hätten“, fuhr Mannon fort, wobei er Conway nicht direkt ansah. „Und denjenigen, die abgeflogen wären, hätte bestimmt niemand auch nur den geringsten Vorwurf gemacht. Aber diese vernünftigen und logischen Leute glauben eben, daß ihre Kollegen oder. ehm. Freunde, vielleicht wahre Helden sind. Und weil sich diese Leute vorstellen, was ihre Freunde wohl von ihnen halten könnten, wenn sie einfach abhauen würden, tun sie das eben nicht. Die sterben lieber, als von ihren Freunden für Feiglinge gehalten zu werden. Also bleiben sie lieber hier.“ Conway merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß, aber er entgegnete nichts. Plötzlich grinste Mannon und fuhr fort: „Aber das ist eigentlich auch eine Art von Heldentum. Man könnte sogar sagen, das ist ein Fall von „lieber den Tod ertragen als die Schande“. Und ehe man sich versieht, sind plötzlich alle Helden, entweder auf die eine oder auf die andere Art. Und die ETs.“ — er warf Prilicla einen verschmitzten Blick zu — „.bleiben sicherlich aus den gleichen Gründen hier. Außerdem vermute ich, wollen sie uns beweisen, daß terrestrische DBDGs kein Monopol auf Heldentum haben.“ „Ich verstehe“, erwiderte Conway. Ihm war bewußt, daß sein Gesicht puterrot angelaufen war. Ganz offensichtlich wußte Mannon, daß Conway einzig und allein deshalb im Hospital geblieben war, weil Murchison, O’Mara und Mannon selbst sonst vielleicht von ihm enttäuscht gewesen wären. Und Prilicla, das für Emotionen empfängliche Lebewesen auf der anderen Seite des Tischs, konnte in ihm bestimmt wie in einem offenen Buch lesen. Conway glaubte, sich in seinem ganzen Leben noch nie schlechter gefühlt zu haben. „Da haben Sie ganz recht“, sagte Prilicla plötzlich, wobei er die Gabel geschickt in die Spaghetti auf dem vor ihm stehenden Teller steckte und zwei Mundwerkzeuge benutzte, um sie aufzuwickeln. „Wenn da nicht das heldenmütige Beispiel von euch DBDGs gewesen wäre, dann hätte ich das zweite Schiff genommen.“ „Das zweite?“ fragte Mannon. „Mir mangelt es eben nicht vollkommen an Heldenmut“, erwiderte Prilicla und fuchtelte dabei mit den Spaghetti herum, um seiner Behauptung Nachdruck zu verleihen. Während er dieser Nebenhandlung zuhörte, dachte Conway, daß es am ehrlichsten gewesen wäre, seinen Freunden gegenüber seine Feigheit einzugestehen. Doch wie er wußte, würde er damit alle anderen nur in Verlegenheit bringen. Es war vollkommen klar, daß sowohl Prilicla als auch Mannon ihn als den Feigling erkannt hatten, der er war, und jeder hatte ihm auf seine eigene Art die Bedeutungslosigkeit dieser Tatsache erklärt. Objektiv betrachtet, war es jetzt wirklich nicht mehr von Bedeutung, denn es waren sowieso keine Schiffe mehr da, die das Orbit Hospital verließen — die ausharrenden Personalangehörigen würden also automatisch zu Helden werden, ob ihnen das nun paßte oder nicht. Aber Conway fand es trotzdem nicht richtig, womöglich irgendwann als ein unerschrockener, selbstloser und hingebungsvoller Arzt geehrt zu werden, wo doch nichts davon auf ihn zutraf. Bevor er irgend etwas dazu sagen konnte, wechselte Mannon abrupt das Thema. Er wollte unbedingt wissen, wo Conway und Murchison während des vierten, fünften und sechsten Tags der Evakuierung eigentlich gesteckt hatten, und fand es äußerst vielsagend, daß sie beide genau zur gleichen Zeit von der Bildfläche verschwunden waren. Dann zählte er einige der Vermutungen auf, die ihm zu diesem Thema einfielen, und das in den schillerndsten und überraschendsten Farben. Bald beteiligte sich auch Prilicla an den Spekulationen, und obwohl der sexuelle Sittenkodex zweier terrestrischer DBDGs für einen geschlechtslosen GLNO höchstens von akademischem Interesse sein konnte, meinte Conway, sich nach beiden Seiten energisch verteidigen zu müssen. Sowohl Prilicla als auch Mannon war bekannt, daß sich Murchison und Conway zusammen mit ungefähr vierzig weiteren Angehörigen des Personals durch Aufputschspritzen beinahe sechzig Stunden lang in Topform gehalten hatten, um effektiv operieren zu können. Aber auch für die Wirkung von Aufputschmitteln muß man bezahlen, und deshalb waren Conway und seine Mitarbeiter gezwungen gewesen, es drei Tage lang ihren Patientin gleichzutun, eine horizontale Lage einzunehmen und sich in dieser Zeit von ihrem fortgeschrittenen Zustand der Erschöpfung zu erholen. Ein paar der Mitarbeiter waren buchstäblich stehenden Fußes zusammengeklappt und schleunigst weggebracht worden. Sie waren derart erschöpft gewesen, daß nicht nur der Kreislauf, sondern auch die unwillkürliche Herz- und Lungenmuskeltätigkeit zusammenzubrechen drohten. Man hatte sie auf besondere Stationen geschafft, wo sie an computergesteuerte Herz-Lungen-Maschinen angeschlossen und intravenös ernährt worden waren. Dennoch sah es wirklich etwas verdächtig aus, daß man Conway und Murchison weder zusammen noch getrennt gesehen hatte, und dann auch noch drei ganze Tage lang. Die Alarmsirene rettete Conway gerade in dem Augenblick, als für die „Vertreter der Anklage“ alles nach Wunsch lief. Er sprang aus seinem Sitz und sprintete zur Tür. Mannon stapfte hinter ihm her, während Prilicla den beiden voranschwirrte, wobei seine nicht ganz verkümmerten Flügel von einem G-Gürtel unterstützt wurden. Da können die Hölle, die Sintflut oder ein interstellarer Krieg ausbrechen, dachte Conway auf dem Weg zu seiner Station mit einem innerlichen Lächeln, sobald sich die Gelegenheit ergab, jemanden schlechtzumachen oder auf den Arm zu nehmen, war Mannon mit dem neuesten Klatsch zur Stelle und darauf vorbereitet, sein Opfer vor aller Öffentlichkeit lächerlich zu machen. Unter den gegenwärtigen Umständen hatte sich Conway zwar zuerst über diese ganze Klatschsucht geärgert, aber dann war ihm langsam klargeworden, Mannon wollte ihm nur begreiflich machen, daß bis jetzt noch nicht die ganze Welt untergegangen war. Und bei diesem Krankenhaus handelte es sich immer noch um das Orbit Hospital, das eben eher eine Geisteshaltung als ein Bauwerk war. Egal, was kommen mochte, dieses Krankenhaus würde bis zum letzten Atemzug seiner hingebungsvollen und häufig auch etwas verrückten Mitarbeiter das Orbit Hospital bleiben. Als Conway auf seiner Station ankam, hatte die Sirene, die sie ständig an den Ernst der Lage erinnerte, zu heulen aufgehört. Über sämtlichen achtundzwanzig belegten Betten hingen bereits versiegelte, jetzt aber noch schlaffe Druckzelte. Ihre unabhängigen Luftaggregate waren zum Schutz der Patienten vorm Ersticken in Betrieb, falls plötzlich in die Außenwand der Station ein Loch zum All gerissen werden sollte. Die diensthabenden Schwestern, eine Tralthanerin, eine Nidianerin und vier Terrestrierinnen, quälten sich in ihre Anzüge hinein. Auch Conway legte sich einen Anzug an und versiegelte ihn bis auf das Visier ganz, wie es auch die Schwestern getan hatten. Er machte bei den Patienten schnell Visite, sprach der tralthanischen Oberschwester seine Anerkennung aus und betätigte dann den Schalter, der die künstlichen Schwerkraftgitter im Boden ausschaltete. Unregelmäßigkeiten in der Energieversorgung traten nämlich keineswegs selten auf, wenn die Verteidigungsschilde des Hospitals unter Beschuß lagen oder die im Hospital installierten Waffen zum Einsatz kamen. Diese Unregelmäßigkeiten konnten zu Schwankungen in den künstlichen Schwerkraftgittern zwischen einem halben und zwei Ge führen. Bei Patienten, die hauptsächlich Knochenbrüche hatten, konnte das verheerende Folgen haben, und für sie war es in diesem Fall besser, überhaupt keiner Schwerkraft ausgesetzt zu sein. Als Patienten und Mitarbeiter soweit wie möglich geschützt waren, konnte man nichts mehr tun, außer abzuwarten. Um seine Gedanken von den Vorgängen draußen vor dem Hospital abzulenken, mischte sich Conway in eine Diskussion zwischen der tralthanischen Schwester und einer der rotbepelzten Nidianerinnen über die gegenwärtig am riesigen Übersetzungscomputer vorgenommenen Änderungen ein. Die kleinen Translatoren, die sämtliche Mitarbeiter des Hospitals am Körper trugen, waren nämlich lediglich Geräte, die senden und empfangen konnten, also nur mobile Nebenstellen dieses gewaltigen Elektronengehirns, das die Übersetzungen sämtlicher Sprachen im Hospital durchführte. Und dieser Computer arbeitete seit der Evakuierung nur noch mit einem kleinen Bruchteil seiner vollen Leistungsfähigkeit. Dermod, der Flottenkommandant, hatte angeordnet, die dadurch freien Kapazitäten für die Berechnungen taktischer und logistischer Probleme zu nutzen. Trotz der Versicherung des Monitorkorps, die Übersetzungsfähigkeit des Computers würde dadurch kaum beeinträchtigt, waren die beiden Schwestern mit dieser Regelung nicht ganz einverstanden. So gaben sie zu bedenken, was geschehen könnte, falls alle gleichzeitig reden würden. Conway wollte den beiden am liebsten antworten, daß das Personal seiner Meinung nach sowieso permanent redete, besonders die Schwestern und Pfleger, so daß dieses Problem schon längst hätte auftreten müssen, doch ihm fiel keine taktvolle Formulierung ein und er sagte deshalb vorsichtshalber nichts. Eine Stunde verging, ohne daß etwas passierte, jedenfalls soweit es das Hospital betraf. Es hatte keine Treffer erhalten, und es gab keinerlei Anzeichen für einen Einsatz der schweren Waffen, mit denen das Hospital ausgerüstet worden war. Die diensthabenden Schwestern wurden von der nächsten Schicht abgelöst, die diesmal aus drei Tralthanerinnen und drei Terrestrierinnen bestand, und die Oberschwester war Murchison. Conway machte es sich gerade zu einem sehr netten Schwatz gemütlich, als von der Sirene ein tiefer, leicht höhnischer Dauerton kam. Der Angriff war vorbei. Als er Murchison aus dem Anzug helfen wollte, meldete sich die Übertragungsanlage mit einem Summen zu Wort. „Achtung, Achtung!“ sagte eine Stimme in dringlichem Ton. „Doktor Conway möchte bitte unverzüglich zu Schleuse fünf kommen.“ Wahrscheinlich ein Verwundeter, dachte Conway. Einer, bei dem sie sich nicht sicher sind, wie sie ihn transportieren sollen… Aber dann richtete die Übertragungsanlage ohne Zwischenpause gleich die nächste Nachricht aus. „. Doktor Mannon und Major O’Mara möchten bitte sofort zu Schleuse fünf kommen.“ Was konnte denn bloß an Schleuse fünf los sein, daß es die Dienste von zwei Chefärzten und dem Chefpsychologen benötigte? fragte sich Conway und beeilte sich. Mannon und O’Mara hatten sich bereits in der Nähe der Schleuse fünf aufgehalten und trafen dort deshalb etwas eher als Conway ein. Als er schließlich zu ihnen stieß, befand sich in der Schleusenvorkammer außer Mannon und O’Mara noch eine dritte Person, die einen schweren Anzug trug, deren Helm zurückgeklappt war. Der Neuankömmling hatte angegrautes Haar, ein dünnes, faltiges Gesicht, und sein Mund glich einem müden, farblosen Strich. Dieser harte Gesamteindruck wurde allerdings durch die sanftesten braunen Augen aufgewogen, die Conway je bei einem Menschen gesehen hatte. Auch die Rangabzeichen auf seinem Kragen waren reicher ausgeschmückt als alle anderen, die Conway bisher gekannt hatte. Der ranghöchste Offizier des Monitorkorps, mit dem Conway es bislang zu tun gehabt hatte, war ein Colonel gewesen, trotzdem wußte er instinktiv, daß dieser Mann nur Flottenkommandant Dermod sein konnte. O’Mara salutierte, und sein Gruß wurde ebenso korrekt erwidert. Mannon und Conway dagegen erhielten jeder einen Händedruck, wobei sich der Flottenkommandant für seine Handschuhe entschuldigte. Dann kam Dermod direkt zur Sache. „Ich bin kein Befürworter von Geheimnistuerei, wenn sie keinem wichtigen Zweck dient“, fing er steif an. „Sie haben sich dafür entschieden hierzubleiben, um sich um unsere Verwundeten zu kümmern, und deshalb haben Sie auch ein Recht, über die Vorgänge unterrichtet zu werden, egal, ob es sich dabei um gute oder um schlechte Nachrichten handelt. Da Sie zum ranghöchsten terrestrischen medizinischen Personal gehören, das sich noch im Hospital aufhält, und wissen, wie sich Ihre Mitarbeiter in den verschiedensten Fällen wahrscheinlich verhalten werden, muß ich es Ihnen überlassen, ob Sie diese Information öffentlich bekannt machen oder nicht.“ Während er das sagte, hatte er O’Mara angesehen. Jetzt bewegten sich seine Augen schnell zu Mannon, dann zu Conway, und schließlich wieder zurück zu O’Mara. „Es hat einen Angriff gegeben, einen völlig erstaunlichen Angriff, weil er auf der ganzen Linie gescheitert ist“, fuhr er fort. „Wir haben keinen einzigen Mann verloren, die feindliche Streitmacht dagegen ist vollkommen vernichtet worden. Anscheinend hatten die keinen blassen Schimmer von taktischer Kriegsführung oder. oder von wer weiß was. Wir hatten einen der üblichen Angriffe erwartet, die allesamt äußerst brutal und ohne Rücksicht auf Verluste geführt worden waren und die wir nur unter Aufbietung aller Kräfte zurückschlagen konnten. Dieser letzte Angriff aber war das reinste Massaker.“ Conway stellte fest, daß Dermods Stimme und der Blick in seinen Augen keinerlei Freude über den Sieg widerspiegelten. „. und deshalb haben wir die feindlichen Schiffstrümmer schneller als sonst nach Überlebenden durchsuchen können. Denn normalerweise sind wir so mit dem Lecken unser eigenen Wunden beschäftigt, daß keine Zeit für die Suche nach Überlebenden bleibt. Wir haben zwar keinen einzigen Überlebenden gefunden, dafür aber.“ Der Flottenkommandant brach den Satz ab, als zwei Monitore mit einer zugedeckten Tragbahre durch die Innentür der Schleuse kamen. Als Dermod nun fortfuhr, blickte er Conway direkt in die Augen. „Sie sind ja auf Etla gewesen, Doktor, und werden sofort die darin liegende Bedeutung erkennen“, sagte er. „Und gleichzeitig denken Sie vielleicht auch daran, daß wir von einem Feind angegriffen werden, der sämtlichen Verhandlungen oder Verständigungsversuche ablehnt, einem Feind, der wie von fanatischem Haß besessen kämpft und bis jetzt nur einen begrenzten Krieg gegen uns führt. Aber zuerst sollten Sie sich das hier ansehen.“ Als die Decke von der Tragbahre zurückgezogen wurde, sagte eine lange Zeit niemand etwas. Auf der Tragbahre lagen die zerfetzten, grausigen Überreste eines früher einmal lebendigen, denkenden und fühlenden Wesens, das man wegen seiner schweren Verstümmelungen nicht einmal mehr mit einiger Genauigkeit klassifizieren konnte. Aus den sterblichen Überresten war jedoch noch zu erkennen, daß dieses Wesen weder jetzt noch früher einmal ein Mensch gewesen war. Der Krieg breitet sich immer weiter aus, dachte Conway betrübt. 18. Kapitel „Seit die Vespasian Etla verlassen hat, haben wir unsere Agenten ins Imperium einzuschleusen versucht“, setzte Dermod seine Ausführungen fort. „Und bislang haben wir acht Gruppen erfolgreich hineingeschmuggelt, davon eine auf dem Hauptplaneten selbst. Unsere Informationen bezüglich der öffentlichen Meinung und der sie steuernden Propagandamaschinerie sind recht zuverlässig. Uns ist bekannt, daß wegen der Etla-Geschichte oder vielmehr wegen der von uns dort angeblich begangenen Greueltaten die Stimmung der Bevölkerung hohe Wellen gegen uns schlägt“, fuhr er fort. „Doch dazu komme ich später. Denn die jüngste Entwicklung, von der ich Ihnen jetzt berichten werde, macht die Sache für uns noch viel schlimmer.“ Wie Dermod weiterhin erläuterte, hatte die Regierung des Imperiums öffentlich verkündet, das Monitorkorps sei auf Etla einmarschiert, und die Planetenbewohner seien unter dem Vorwand medizinischer Hilfeleistung herzlos als Versuchskaninchen für verschiedenste bakteriologische Waffentests mißbraucht worden. Untrüglicher Beweis dafür sei, daß die etlanische Bevölkerung nur wenige Tage nach dem Abflug des Monitorkorps an einer ganzen Reihe verheerender Seuchen litt. Solch ein herzloses und unmenschliches Verhalten dürfe auf keinen Fall ungesühnt bleiben, und der Imperator sei sich sicher, alle Bürger des Imperiums stünden wie ein Mann hinter den von ihm getroffenen Entscheidungen. Den imperialen Quellen zufolge ließen es die Informationen, die man von einem gefangengenommenen Agenten der Invasoren erhalten hatte, ganz klar zu Tage treten, daß das Verhalten des Monitorkorps auf Etla nicht das einzige Beispiel für die schamlose Brutalität dieser Verbrecher sei. Die Invasoren hatten demnach die ganze Sache auf Etla eingeleitet, indem sie erst einmal einen Extraterrestrier auf diesen bedauernswerten Planeten vorgeschickt hatten. Dabei handelte es sich angeblich um ein dummes, harmloses Wesen, das vor der Landung der Invasoren die Verteidigungsanlagen des Planeten testen sollte. Als die Eindringlinge später mit den Behörden auf Etla Kontakt aufnahmen, stritten sie jede Bekanntschaft oder Verbindung mit diesem Lebewesen ab, das ihnen lediglich als Werkzeug diente. Inzwischen hatte sich herausgestellt, daß die Invasoren von solchen fremdartigen Lebensformen regen Gebrauch machten und diese nicht nur als Diener und Versuchstiere benutzten, sondern wahrscheinlich auch als Nahrung. Die Invasoren unterhielten ein gewaltiges Gebäude, eine Mischung aus Militärstützpunkt und Labor, das sie selbst als Orbit Hospital bezeichneten, in dem sie aber selbstverständlich nichts anderes als ähnliche Greueltaten wie auf dem Planeten Etla verübten. Der Agent der Invasoren, dem man mit List die Raumkoordinaten dieses Stützpunktes entlockt hatte, hatte nämlich die dortigen Vorgänge gestanden. Anscheinend herrschten die Invasoren über eine große Anzahl unterschiedlicher fremdartiger Spezies, und auf diesem Stützpunkt entwickelten sie die Methoden und Waffen, mit denen sie die Wesen in Sklaverei hielten. Der Imperator erklärte, er habe den festen Willen, ja halte es sogar für seine Pflicht, seine Streitkräfte zur Niederschlagung dieser üblen Tyrannei einzusetzen. Darüber hinaus war er der Meinung, nur Streitkräfte des Imperiums in den Krieg zu schicken, weil er zu seiner Schande eingestehen müsse, daß die Beziehungen zwischen dem Imperium und der innerhalb dessen Einflußsphäre stehenden fremdartigen Planeten nicht immer so herzlich gewesen seien, wie sie es eigentlich hätten sein sollen. Falls allerdings irgendeine dieser früher vom Imperium möglicherweise beleidigten Spezies freiwillig ihre Hilfe anbieten wolle, würde er sie keinesfalls zurückweisen. „. und das erklärt viele rätselhafte Aspekte dieser feindlichen Angriffe“, fuhr Dermod fort. „Die Streitkräfte des Imperiums beschränken sich auf chemische und konventionelle Waffen, und wir müssen in dem beschränkten Raum unseres kugelförmigen Verteidigungsrings das gleiche tun. Denn die feindlichen Streitkräfte wollen das Hospital ja nicht zerstören, sondern erobern. Der Imperator muß zur Fortführung des Kriegs schließlich die Positionen der Föderationsplaneten herausfinden. Daß die Streitkräfte des Imperiums so brutal und bis zum Umfallen kämpfen, kann man vielleicht mit ihrer Angst vor Gefangennahme erklären, weil das Orbit Hospital für sie ja nichts anderes als eine im Raum schwebende Folterkammer ist. Der vollkommen wirkungslose letzte Angriff muß wohl von einem der zum Imperium gehörenden hitzköpfigen ET-Freunde vorbereitet worden sein, dem man wahrscheinlich gestattet hat, ohne ordentliche Ausbildung und ausreichende Kenntnisse über unsere Verteidigungsstärke hierherzulegen“, fuhr der Flottenkommandant fort. „Wir haben den Feind vernichtet, und gerade deshalb werden sich jetzt eine Menge anderer ETs auf die Seite des Feindes schlagen, die bisher mit ihrer Entscheidung womöglich noch gezögert haben. Auf die Seite des Imperiums“, schloß Dermod bitter. Als der Flottenkommandant seine Ausführungen beendet hatte, blieb Conway stumm. Er hatte inzwischen Einblick in die vertraulich an Williamson gerichteten Berichte gehabt und wußte daher, daß Dermod die Situation keineswegs übertrieben dargestellt hatte. O’Mara hatte die gleichen Informationen erhalten und schloß sich dem grimmigen Schweigen an, Dr. Mannon hingegen war ein weniger schweigsamer Typ. „Aber das ist doch alles Blödsinn!“ polterte er los. „Die verdrehen die Dinge ja völlig! Das hier ist ein Krankenhaus und keine Folterkammer. Außerdem schieben die uns genau das in die Schuhe, was sie selber tun.!“ Dermod überhörte den Ausbruch, aber auf eine Art, die Mannon nicht kränkte. In nüchternem Ton fuhr der Flottenkommandant fort: „Das Imperium ist politisch instabil. Wenn wir genügend Zeit hätten, könnten wir die gegenwärtige Regierung stürzen und durch ein demokratisches System ersetzen, das würden die Bürger des Imperiums sogar selbst tun. Aber dazu brauchen wir einfach Zeit, und wir müssen verhindern, daß sich der Krieg zu stark ausweitet und zu sehr an Boden gewinnt. Denn wenn sich zu viele extraterrestrische Verbündete mit dem Imperium gegen uns zusammenschließen, dann wird die Situation viel zu verwickelt, um sie noch unter Kontrolle zu behalten. Außerdem spielen in dem Fall die ursprünglichen Kriegsursachen oder die Wahrheit oder Unwahrheit dieser Anschuldigungen überhaupt keine Rolle mehr. Wir können zwar Zeit gewinnen, indem wir hier so lange wie möglich durchhalten“, schloß Dermod mit grimmiger Miene, „aber wir können nicht viel tun, um den Krieg zu begrenzen. Wir können nur hoffen.“ Er klappte den Helm nach vorne und befestigte ihn wieder, ließ das Visier für das weitere Gespräch jedoch geöffnet. In diesem Augenblick stellte Mannon die Frage, die Conway schon lange am Herzen lag und nur deshalb nicht zu stellen gewagt hatte, weil er nicht als Feigling dastehen wollte. „Haben wir denn überhaupt eine echte Chance, dem Feind standzuhalten?“ Dermod zögerte einen Moment lang, weil er sich offenbar fragte, ob er Conway, Mannon und O’Mara beruhigen oder ihnen die Wahrheit sagen sollte. Schließlich antwortete er: „Ein gut gesicherter und ausgestatteter Verteidigungsring ist die ideale taktische Position. Falls der Feind in ausreichender Überzahl sein sollte, kann diese Stellung aber auch zur perfekten Falle werden.“ Nachdem Dermod gegangen war, beanspruchte Thornnastor, der leitende Diagnostiker der Pathologie, die vom Flottenkommandanten mitgebrachten Überreste des fremdartigen Wesens, mit deren Untersuchung er bestimmt tagelang zu tun haben würde. O’Mara begab sich wieder in seine Abteilung zurück, um seine Patienten so zu traktieren, daß sie ihre geistige Gesundheit dauerhaft wiedererlangten, und auch Mannon und Conway kehrten auf ihre Stationen zurück. Die Reaktion des Personals auf einen möglichen Angriff durch ETs teilte sich ungefähr je zur Hälfte in die Sorge über eine Ausweitung des Kriegs und in das Interesse an möglicherweise erforderlichen Behandlungsmethoden für Verwundete einer noch unentdeckten Spezies. Es vergingen jedoch zwei Wochen ohne den erwarteten Angriff. Weiterhin trafen Kriegsschiffe des Monitorkorps ein, die ihre Astronavigatoren in kleinen Rettungsschiffen wieder ins All zurückschossen und dann in Stellung gingen. Von den Sichtfenstern des Hospitals aus schienen sie den gesamten Himmel zu bedecken, und man hatte den Eindruck, als ob das Orbit Hospital das Zentrum eines weit ausgedehnten, dünnen Sternenhaufens und jeder Stern darin ein Kriegsschiff wäre. Für Conway war es ein ehrfurchtgebietender und äußerst beruhigender Anblick, und deshalb versuchte er, wenigstens einmal täglich eins der Sichtfenster aufzusuchen. Auf dem Rückweg von einem dieser Ausflüge zu den Sichtfenstern traf Conway dann zufällig eine Gruppe von männlichen Kelgianern. Einen Moment lang traute er seinen Augen nicht — man hatte alle kelgianischen DBLFs evakuiert! Den Abflug der letzten Kelgianer hatte er selbst beaufsichtigt, und jetzt schlängelten sich hier auf einmal ungefähr zwanzig dieser übergroßen Raupen in einer Reihe vorwärts. Bei genauerem Hinsehen bemerkte er jedoch, daß die Kelgianer nicht die üblichen Armbinden mit den technischen oder medizinischen Emblemen trugen. Statt dessen waren auf ihr silbernes Fell Kreis- und Rautenmuster in Rot, Blau und Schwarz gemalt — die Rangabzeichen des kelgianischen Militärs. Conway stürmte zu O’Mara. „Die gleiche Frage wollte ich auch gerade stellen, Doktor“, sagte der Chefpsychologe in barschem Ton und zeigte auf den Bildschirm. „Obwohl ich meine Frage natürlich in weit respektvollere Worte gekleidet hätte. Ich versuche jetzt, den Flottenkommandanten an den Apparat zu bekommen. Also hören Sie auf zu schreien, und setzen Sie sich gefälligst hin!“ Ein paar Minuten später erschien Dermods Gesicht auf dem Bildschirm. „Das hier ist nicht das Imperium, meine Herren“, sagte er in freundlichem, aber gehetztem Ton. „Wir sind verpflichtet, die Regierung der Föderation und somit auch die Bevölkerung über den tatsächlichen Stand der Dinge, wie wir ihn sehen, zu informieren — obwohl die Regierung die Meldung über den Angriff durch feindliche ET-Streitkräfte noch nicht öffentlich verbreitet hat. Eigentlich müßten Sie den ETs der Föderation dankbar sein, daß sie die gleichen Gefühle haben wie wir“, fuhr er fort. „Schließlich sind viele Extraterrestrier im Orbit Hospital geblieben, und deren Freunde auf den verschiedenen Heimatplaneten kommen langsam zu der Überzeugung, sie sollten hierherfliegen und bei ihrer Verteidigung helfen. So einfach ist das.“ „Aber Sie haben doch gesagt, Sie wollen keine Ausweitung des Kriegs!“ protestierte Conway. „Ich hab die ETs nicht darum gebeten herzukommen, Doktor“, verteidigte sich Dermod in scharfem Ton. „Aber wenn sie schon mal da sind, kann ich sie ja auch einsetzen. Denn die letzten Berichte des Geheimdienstes deuten darauf hin, daß es sich bei dem nächsten Angriff wahrscheinlich um die Entscheidungsschlacht handelt.“ Mannon erhielt die Nachricht über die extraterrestrischen Verteidiger erst später beim Mittagessen und nahm sie mit äußerst düsterer Stimmung auf. Er genieße es gerade in vollen Zügen, wenigstens einmal er selbst zu sein, erzählte er Conway traurig, und jetzt, wo demnächst wahrscheinlich verwundete ETs eingeliefert werden würden, müßten sie wohl alle wieder diese Bänder im Kopf mit sich herumschleppen. Prilicla aß Spaghetti und bemerkte, wie glücklich er darüber sei, daß die extraterrestrischen Mitglieder des Personals das Hospital schließlich doch nicht verlassen hätten. Er sah Conway dabei jedoch nicht an. Conway selbst sprach nur sehr wenig. Der nächste Angriff, hatte Dermod gesagt, ist wahrscheinlich die Entscheidungsschlacht… Drei Wochen später begann dieser Angriff tatsächlich, nachdem bis zu diesem Zeitpunkt eigentlich nichts Wesentliches passiert war und nur eine Truppe von freiwilligen Tralthanern und ein einzelnes Schiff mit Besatzungsmitgliedern der Klassifikation QCQL eingetroffen waren. Conway hatte weder von dieser Klassifikation noch vom Herkunftsplaneten dieses Schiffs jemals etwas gehört. Wie er erfuhr, hatte es mit dem Orbit Hospital und diesen Wesen noch nie Gelegenheit zu Kontakten auf beruflicher Ebene gegeben, weil es sich um die neuesten Mitglieder der Föderation handelte, die sich allerdings binnen kurzem als deren begeisterte Förderer entpuppt hatten. Conway bereitete eine kleine Station zur Aufnahme von möglichen Verwundeten dieser Spezies vor, indem er sie mit dem die Atmosphäre der QCQLs darstellenden schrecklich korrosiven Nebel füllte und die Beleuchtung bis zu dem grellen eisigen Blau verstärkte, das diese Spezies als erholsam empfand. Nach Conways Empfinden begann der Angriff auf fast gemächliche Weise, als er ihn durch das Beobachtungsfenster hindurch verfolgte. Der Hauptverteidigungsschild schien von den drei kleineren Angriffen, die an weit auseinanderliegenden Punkten auf seine Oberfläche gerichtet waren, kaum in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Alles, was man von den Vorgängen weit draußen im All sehen konnte, waren drei kleine konfuse Wirbel aus sich bewegenden Lichtpunkten, die von Schiffen, Raketen, Abwehrraketen und Explosionen ausgingen. Alles lief wie in Zeitlupe ab und wirkte deshalb nicht sonderlich bedrohlich. Aber diese Bewegungen waren nur scheinbar langsam, denn die Schiffe wurden wenigstens mit einer Beschleunigung von fünf Ge manövriert, wobei die automatischen Schwerkraftaggregate die Besatzungen davor bewahrten, von der enormen Beschleunigung der Schiffe an den Innenwänden zermalmt zu werden. Die Raketen beschleunigten dagegen mit bis zu fünfzig Ge. Die weit ausgedehnten Repulsionsfelder, durch die die Raketen zumeist abgefälscht wurden, waren ebenso unsichtbar wie die Pressor-, Pulsator- und Traktorstrahlen, die die restlichen Raketen abfingen, die den Schutzschild durchdrungen hatten. Das alles hier war lediglich eine erste Probe der Verteidigungswaffen des Orbit Hospitals, eine Reihe von offensiven Erkundungsflügen des Feindes, ein kurzes Vorgeplänkel. Conway wandte sich vom Sichtfenster ab und begab sich wieder auf seinen Posten. Selbst bei diesen relativ unwichtigen Vorgefechten gab es Verwundete, und deshalb stand es ihm einfach nicht an, hier oben auf Besichtigungstour zu gehen. Außerdem würde er sich unten auf den Stationen ein viel realistischeres Bild vom Verlauf der Schlacht machen können. In den nächsten zwölf Stunden wurden zwar regelmäßig Verwundete eingeliefert, allerdings nur in größeren Zeitabständen. Doch schon bald wurden aus den leichten Vorstoßversuchen gegen das Hospital schwere Scheinangriffe, und die Einlieferungen steigerten sich zu einem unregelmäßigen Strom. Schließlich ging der Angriff richtig los, und nun wurden die Stationen von Verwundeten regelrecht überschwemmt. Conway verlor jeglichen Sinn für Zeit. Er hatte keine Ahnung mehr, wer seine Assistenten waren und wie viele Fälle er behandelte. Oft hätte er eine Aufputschspritze gebraucht, um die Müdigkeit aus Kopf und Händen zu vertreiben, aber solche Mittel waren jetzt unter allen Umständen verboten. Schließlich stand das Personal so schon genügend unter Druck, und zusätzliche Patienten aus den eigenen Reihen konnte man sich nicht leisten. Conway mußte also trotz seiner gegenwärtigen Müdigkeit wohl oder übel weiterarbeiten, obwohl er wußte, daß er die eigentlich für die Behandlung seiner Patienten erforderliche Leistung nicht erbringen konnte. Er aß und schlief nur noch, sobald er die Instrumente nicht mehr richtig in den Händen halten konnte. Manchmal stand ihm einer der riesigen Tralthaner zur Seite, manchmal ein Sanitäter des Monitorkorps und manchmal Schwester Murchison. Meistens war es eigentlich Murchison, dachte Conway. Entweder brauchte sie überhaupt keinen Schlaf, oder sie machte ihr Nickerchen immer zur gleichen Zeit wie er. Vielleicht aber nahm er in dieser Ausnahmesituation lediglich mehr Notiz von ihr als sonst. Gewöhnlich war es auch Murchison, die ihm Essen in den widerstandslosen Mund schob und ihm sagte, wann er sich wirklich hinlegen mußte. Auch am vierten Tag gab es keinerlei Anzeichen für ein Nachlassen der Kampfhandlungen. Die an der Außenwand angebrachten Pulsatorstrahlen waren beinahe ununterbrochen in Betrieb, und wegen des hohen Energieverbrauchs flackerte die Beleuchtung. Das gleiche Prinzip, nach dem der Boden mit künstlicher Schwerkraft versorgt und die mörderische Beschleunigung der Schiffe kompensiert wurde, steckte auch hinter den Waffen beider Kriegsparteien: dem Repulsionsfeld — ursprünglich eine Vorrichtung zum Schutz vor Meteoriten —, den Traktor- und Pressorstrahlen sowie dem Pulsatorstrahl, der eine Kombination aus beidem war. Der Pulsatorstrahl schob und zog oder anders ausgedrückt, pulsierte er je nach Bündelungsstärke mit einer Kraft von bis zu achtzig Ge. Erst schob er also mit achtzig Ge, und dann zog er mit achtzig Ge, und das alles viele Male in der Minute. Natürlich war der Strahl nicht immer exakt auf sein Ziel eingestellt, denn schließlich bewegten sich sowohl das angreifende als auch das angegriffene Schiff, und das Schiff im Visier ergriff normalerweise Gegenmaßnahmen. Zum Abreißen der Rumpfverkleidung war der Strahl jedoch immer scharf genug gebündelt, und ein kleines Schiff wurde durch ihn derart gerüttelt, daß die Besatzung im Innern durch die Vibrationen das Bewußtsein verlor und keine Gegenmaßnahmen mehr ergreifen konnte. Und diese Pulsatorstrahlen kamen jetzt um das Hospital herum in großem Umfang zum Einsatz. Die Streitkräfte des Imperiums griffen auf brutale Weise an und drängten den kugelförmigen Verteidigungsring des Monitorkorps bis an die Außenwand des Orbit Hospitals zurück. Der jetzt stattfindende Nahkampf wurde ausschließlich mit Pulsatorstrahlen geführt, denn zum gezielten Abfeuern von Raketen war der Raum viel zu überfüllt. Das galt jedoch nur für die kriegführenden Schiffe. Denn auf das Orbit Hospital waren trotzdem noch Raketen gerichtet, wahrscheinlich sogar Hunderte, und einige dieser Raketen drangen bis zum Hospital durch. Conway spürte wenigstens fünfmal die verräterische Erschütterung unter den Schuhsohlen, denn seine Füße waren wegen der Schwerelosigkeit am Boden des Operationssaals festgeschnallt. Die Behandlung der von den Pulsatorstrahlen durchgerüttelten Männer erforderte keine besonderen diagnostischen Fähigkeiten. Es war nur allzu deutlich, daß sie mehrfache und komplizierte Frakturen erlitten hatten, bei einigen von ihnen waren sogar fast sämtliche Knochen im Leib gebrochen. Sobald er wieder einmal einen dieser zerquetschten Körper aus dem Anzug schneiden mußte, hätte Conway oft am liebsten die Männer, die den Verwundeten eingeliefert hatten, angebrüllt: „Und was soll ich jetzt wohl damit tun.?“ Aber dieses Etwas war lebendig, und als Arzt mußte er zur Rettung von Leben sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausschöpfen. Er hatte gerade einen besonders ernsten Fall abgeschlossen, bei dem ihm Murchison und eine tralthanische Schwester assistiert hatten, als er im OP einen DBLF bemerkte. Inzwischen waren Conway die in das Fell eingefärbten, beim kelgianischen Militär den Rang bezeichnenden Farbmuster geläufig geworden, und an diesem DBLF erkannte er ein zusätzliches Zeichen, das den ET als Arzt auswies. „Ich komme, um Sie abzulösen, Doktor“, sagte der DBLF mit tonloser, hastiger Translatorstimme. „Ich hab Erfahrung mit der Behandlung von Angehörigen Ihrer Spezies. Major O’Mara möchte, daß Sie sofort zu Schleuse zwölf kommen.“ Conway stellte dem Kelgianer rasch Murchison und die Tralthanerin vor, da die drei schon in wenigen Minuten gemeinsam einen weiteren, gerade eingelieferten Verwundeten behandeln würden, und fragte dann: „Und warum soll ich zu Schleuse zwölf kommen?“ „Doktor Thornnastor ist beim letzten Raketeneinschlag verletzt worden und kann jetzt nicht mehr arbeiten“, antwortete der Kelgianer, während er seine Greiforgane mit der von seiner Spezies als Handschuhersatz benutzten Plastikmasse besprühte. „Es wird jemand mit ET-Erfahrung gebraucht, der Thornnastors Patienten und die gerade an Schleuse zwölf eintreffenden FGLIs übernimmt. Major O’Mara schlägt vor, daß Sie sich die Patienten so schnell wie möglich ansehen, damit Sie wissen, welche Bänder Sie brauchen. Und ziehen Sie sich einen Anzug an, Doktor“, fügte der DBLF noch hinzu, als sich Conway zum Gehen wandte. „Die Ebene über uns verliert nämlich Druck.“ Seit der Evakuierung hatte es für die Pathologie zwar nicht mehr viel zu tun gegeben, dachte Conway, als er sich durch den zu Schleuse zwölf führenden Korridor vorkämpfte, aber dafür hatte Thornnastor durch die Übernahme der größten Verwundetenabteilung des Hospitals seine Vielseitigkeit bewiesen — neben den FGLIs seiner eigenen Spezies hatte er nämlich auch DBLFs und Terrestrier behandelt. Diese Patienten konnten wirklich heilfroh sein, daß sich dieser trampelnde, leicht erregbare und unglaublich fähige tralthanische Chirurg um sie gekümmert hatte. Conway fragte sich, wie schwer Thornnastor verletzt worden war, denn das hatte ihm der kelgianische Arzt leider nicht sagen können. Als er an einem Sichtfenster vorbeikam, warf er schnell einen Blick nach draußen. Das, was er dort sah, erinnerte ihn an einen Schwarm wütender Leuchtkäfer. Dann schlug auf einmal der Pfosten, an dem er sich festhielt, gegen seine Hand — ein eindeutiges Indiz für einen erneuten Raketeneinschlag, und das in nicht allzu großer Entfernung. Als Conway schließlich die Schleuse erreichte, befanden sich außer den immer gegenwärtigen Monitoren noch zwei Tralthanerinnen, eine Nidianerin und eine QCQL im Raumanzug in der Schleusenvorkammer. Die Nidianerin berichtete, daß ein tralthanisches Schiff von feindlichen Pulsatorstrahlen beinahe auseinandergerissen worden wäre, ein Großteil der Besatzung jedoch überlebt hätte. Die am Orbit Hospital montierten Traktorstrahlenprojektoren hätten das beschädigte Schiff schnell zur Schleuse herangezogen und die. Plötzlich nahm er nur noch das bellende Geräusch der Nidianerin wahr. „Hören Sie auf damit!“ fuhr Conway sie gereizt an. Erschreckt blickte ihn die Nidianerin an und bellte dann erneut. Als sie sich ein paar Sekunden später auf der anderen Seite der Schleuse befanden, kamen die tralthanischen Schwestern herüber und machten Conway mit ihrem wie ein modulierendes Nebelhorn klingenden Tuten fast taub. Und dazu pfiff ihm auch noch die QCQL über Anzugfunk ins Ohr. Die Monitore, die voll und ganz damit beschäftigt waren, die Verwundeten durch den Bordtunnel vom Schiff ins Hospital zu bringen, sahen lediglich verdutzt aus. Plötzlich brach Conway der kalte Schweiß aus — das Hospital war bestimmt schon wieder getroffen worden, doch weil er sich nirgends festgehalten hatte, hatte er auch nichts von dem Einschlag gespürt. Trotzdem wußte er ganz genau, wo das Hospital getroffen worden war. Er fummelte an seinem Translator herum, traktierte ihn mit dem Handballen — eine vollkommen sinnlose Handlung — und stieß sich in Richtung eines Kommunikators vom Boden ab. Auf jedem Kanal, den er ausprobierte, ertönten bellende Kehllaute, heulte, trompetete, pfiff oder stöhnte es: eine wahnwitzige Kakophonie, die Conway durch Mark und Bein ging. Vor seinem geistigen Auge flammte das Bild des Operationssaals auf, den er gerade verlassen hatte: dort operierten Murchison, die Tralthanerin und der kelgianische Arzt zusammen den Verwundeten, und nicht einer der Beteiligten konnte verstehen, was der andere sagte. Instruktionen, lebenswichtige Anweisungen, die Bitten um Instrumente oder Auskünfte über den Zustand des Patienten, das alles würde in einem für das OP-Personal vollkommen unverständlichem Aliengebrabbel geäußert werden. Conway sah sich das gleiche Bild überall im Orbit Hospital wiederholen. Nur Wesen der gleichen Spezies konnten sich noch gegenseitig verständlich machen, und selbst das traf nicht in allen Fällen zu. Es gab zum Beispiel Terrestrier, die kein Universal sprachen, sondern auf ihrem Heimatplaneten gebräuchliche regionale Sprachen. Diese DBDGs waren also selbst bei Gesprächen mit anderen Terrestriern auf den Translator angewiesen. Trotz seiner strapazierten Ohren konnte Conway aus dem babylonischen Aliensprachgewirr einzelne Wörter und eine ihm verständliche Stimme heraushören. Es handelte sich dabei um Meldungen, die sich durch einen hohen Pegel von Hintergrundgeräuschen durchkämpfen mußten. Aber plötzlich schienen seine Ohren sämtliche Störungen herauszufiltern und nur — noch eine Stimme zu hören, die folgendes meldete: „. drei Lufttorpedos, Sir. Direkt hintereinander. Sozusagen im Gänsemarsch. Die haben den Verteidigungsring glatt durchbrochen. Wir können den Translator auch nicht behelfsmäßig zusammenflicken, weil nichts mehr davon übrig ist. Der letzte Torpedo ist nämlich direkt im Computerraum explodiert.“ Draußen vor der Kommunikatornische pfiffen, knurrten und heulten die ET-Schwestern Conway und sich gegenseitig an. Eigentlich hätte er Anweisungen zur Voruntersuchung seiner Patienten geben, die Unterbringung auf der Station vorbereiten und die Bereitschaft des FGLI-Operationssaals überprüfen müssen. Doch nichts davon konnte er jetzt tun, weil das Schwesternpersonal nicht ein einziges Wort seiner Anweisungen verstehen würde. 19. Kapitel Ein ganze Weile konnte Conway sich nicht dazu aufraffen, die Nische zu verlassen, in der sich der Kommunikator befand — obwohl es in Wirklichkeit wahrscheinlich nur ein paar Sekunden gewesen waren. Der Chefpsychologe wäre jedenfalls über die Gedanken, die ihm in diesem Moment durch den Kopf schossen, vom rein fachlichen Standpunkt her sicherlich besorgt gewesen. Doch allmählich bezwang er seine Panik, die in ihm den Drang zur Flucht und zum Verstecken hervorgerufen hatte, indem er sich einfach schonungslos vor Augen hielt, daß es gar keinen Fluchtort mehr gab, und sich dazu zwang, die in der Schleusenvorkammer umhertreibenden FGLIs anzusehen. Die Kammer war mit Tralthanern regelrecht bis zum Rand gefüllt. Conway selbst kannte leider nur die Grundlagen tralthanischer Physiologie, doch war das seine geringste Sorge, denn er konnte sich ja ohne Schwierigkeiten ein FGLI-Band einspielen. Das wichtigste war, die medizinische Hilfe für die Tralthaner jetzt sofort in Gang zu bringen, aber das war leichter gesagt als getan. Die Monitore brüllten wild durcheinander, weil sie wissen wollten, was eigentlich los war, und die Verwundeten, von denen viele bei Bewußtsein waren, stießen klagende und verzweifelte Schreie aus, die durch die sie umschließenden Druckhüllen nur leicht gedämpft wurden. „Sergeant!“ schrie Conway plötzlich zum ranghöchsten Sanitäter hinüber und fuchtelte dabei in Richtung der Verwundeten. „Station vier B, zweihundertsiebzigste Ebene. Wissen Sie, wo das ist?“ Der Unteroffizier nickte, und Conway wandte sich den Schwestern zu. Trotz aller Bemühungen, sich ihnen durch Zeichen-Sprache verständlich zu machen, kam Conway bei der Nidianerin und der QCQL keinen Schritt weiter. Erst als er seine Beine um die Vorderglieder einer der FGLIs schlang und mit roher Gewalt das Glied mit den Sehorganen verdrehte, bis die Augengruppe auf das Transportziel der Verwundeten gerichtet war, erreichte er überhaupt irgend etwas. Schließlich machte er den Tralthanerinnen verständlich — so hoffte er jedenfalls —, die Verwundeten auf die Station zu begleiten und dort alles in ihrer Macht stehende für sie zu tun. Die Station vier B wurde fast vollständig von Verwundeten der Klassifikation FGLI in Anspruch genommen, und auch der Großteil des Personals bestand aus Tralthanern. Trotz des gegenwärtigen Ausfalls des Übersetzungscomputers konnten also einige Patienten von gleichsprachigen Schwestern beruhigt werden. Conway weigerte sich, an die restlichen Verwundeten zu denken, die diesen Vorteil nicht hatten — schließlich waren ihm Thornnastors Stationen zugewiesen worden, und er konnte nicht alles gleichzeitig erledigen. Als er in O’Maras Büro eintraf, war der Major nicht da. Sein Assistent Carrington erklärte ihm, daß der Chefpsychologe zur Zeit vollauf damit beschäftigt sei, Patienten und Personal derselben Spezies so gut wie möglich zusammenzuspannen. Er wolle Conway allerdings sofort sprechen, sobald dieser die Arbeit auf den Tralthaner-Stationen erledigt hätte. Carrington fügte noch hinzu, Conway möge sich doch bitte entweder im Büro zurückmelden oder an seinem momentanen Aufenthaltsort bleiben, denn die Kommunikationssysteme wären ausgefallen oder von dem Kauderwelsch überlastet, das sich die ETs einander zubrüllten. Andernfalls könnte ihn der Major nicht finden. Zehn Minuten später hatte Conway das benötigte Band im Kopf gespeichert und befand sich wieder auf dem Weg zu Station vier B. Da er es schon des öfteren mit FGLI-Bänder zu tun hatte, kannte er deren relativ harmlose Auswirkungen. Er fühlte sich etwas unwohl dabei, mit nur zwei Füßen statt sechs gehen zu müssen, und verspürte den Drang, einem sich bewegenden Gegenstand nicht nur mit den Augen, sondern mit dem ganzen Kopf zu folgen. Wie breit sich sein tralthanischer Gehirnpartner aber schon gemacht hatte, merkte Conway erst auf der Station. Ab sofort waren die Bettreihen mit tralthanischen Patienten sein nächstes und dringendstes Anliegen, während sich nur ein kleiner Teil seines Gehirns für die Probleme der offenbar kurz vor einer Panik stehenden tralthanischen Schwestern interessierte. Aus irgendeinem seltsamen Grund konnte er deren Äußerungen sowieso nicht verstehen, und für die terrestrischen Schwestern — mickerige, unförmige und abstoßende Schachteln — empfand er nichts als Ungeduld. Er begab sich zu einer Gruppe dieser unförmigen und abstoßenden Wesen hinüber — obwohl für den menschlichen Teil seines Gehirns einige davon wirklich ausgesprochen attraktiv und wohlgeformt wirkten — und sagte: „Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Ich hab zwar ein tralthanisches Band im Kopf gespeichert, durch das ich diese FGLIs behandeln kann, aber wegen des Translatorausfalls kann ich mich weder mit den Patienten noch mit den tralthanischen Schwestern verständigen. Deshalb müssen Sie mir bei den Voruntersuchungen und später im Operationssaal helfen.“ Die Schwestern starrten ihn entsetzt an. Ihre Angst legte sich allerdings schnell, weil ihnen endlich wieder eine verantwortliche Person Anweisungen erteilte, obwohl er etwas Unmögliches von ihnen verlangt hatte — schließlich lagen auf dieser Station siebenundvierzig Patienten der Klassifikation FGLI, von denen allein acht Neuankömmlinge waren, die sofort versorgt werden mußten. Die terrestrischen Schwestern waren aber lediglich zu dritt. „Sie können sich jetzt nicht mehr mit den tralthanischen Schwestern unterhalten“, fuhr Conway nach kurzem Zögern fort. „Aber da sie das gleiche System medizinischer Aufzeichnungen wie wir anwenden, kann man sich sicherlich irgendeine Verständigungsmethode ausdenken. Natürlich wird das nur langsam und umständlich funktionieren, aber Sie müssen den Tralthanerinnen irgendwie unser Tun klarmachen und sie zur Mithilfe bringen. Fuchteln Sie mit den Armen, machen Sie Zeichnungen. Und vor allem, benutzen Sie Ihren klugen Kopf.“ Zu so einer Zeit auch noch Schmeicheleien, schämte sich Conway. Aber das war nun einmal alles, was ihm in diesem Moment einfiel. Er war eben kein Psychologe wie O’Mara. Er hatte gerade vier der dringendsten Fälle behandelt, als Mannon mit einem weiteren FGLI eintraf, der auf einer durch Magneten am Boden haftenden Tragbahre lag. Bei dem Patienten handelte es sich um Thornnastor, und es war auf den ersten Blick zu sehen, daß der Diagnostiker noch für lange Zeit außer Gefecht gesetzt sein würde. Mannon erläuterte rasch die Einzelheiten der Verletzungen Thornnastors und welche Erste-Hilfe-Maßnahmen er bereits eingeleitet hatte. Dann fuhr er fort: „Als ich von Ihrem Behandlungsmonopol für Tralthaner erfahren hab, dachte ich, die postoperative Pflege von Thornnastor sollten lieber Sie in die Hand nehmen. Außerdem ist das hier die normalste und ruhigste Station im ganzen Hospital. Verdammt! Was ist bloß Ihr Geheimnis? Knabenhafter Charme, glänzende Ideen? Oder haben Sie etwa Zugang zu irgendeinem eingeschmuggelten Translator?“ Conway erklärte, welchen Versuch er zur Lösung der Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Schwestern der verschiedenen Spezies geplant hatte. „Normalerweise hab ich was gegen Ärzte und Schwestern, die während einer Operation Notizen austauschen“, sagte Mannon. Sein Gesicht war grau vor Erschöpfung und sein Bemühen um Humor kaum mehr als ein bedingter Reflex. „Aber bei Ihnen scheint es ja zu funktionieren. Gut, ich erzähle die Idee weiter.“ Sie manövrierten Thornnastors gewaltigen Körper in eins der gepolsterten Gestelle, die man im schwerelosen Zustand als Betten für die FGLIs verwendete, und dann erzählte Mannon: „Ich hab auch ein FGLI-Band gespeichert. Das hab ich für Thorny hier gebraucht, und jetzt warten zwei QCQLs auf mich. Bis heute hatte ich überhaupt keine Ahnung von der Existenz solcher Lebewesen, aber glücklicherweise hat O’Mara das entsprechende Band. Das ist eine Arbeit, die man nur in einem Anzug erledigen kann, denn das schmierige Zeug, das diese Wesen atmen, bringt ohne Schutzvorkehrungen alles um, was läuft, krabbelt oder fliegt — natürlich außer den QCQLs selbst. Die beiden sind noch bei Bewußtsein, und ich kann nicht mal mit ihnen sprechen. Ich nehme an, ich werde noch eine Menge Spaß mit denen haben.“ Plötzlich sackten Mannons Schultern ab, und die Muskeln, die die Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen hatten, gaben den Kampf auf. „Hoffentlich fällt Ihnen irgendwas ein, Conway“, sagte er dumpf. „In Stationen wie dieser, wo die Patienten und ein paar von den Schwestern zur gleichen Klassifikation gehören, ist es ja gar nicht so schlimm mit der Verständigung. Das heißt natürlich nur relativ. Aber um andere Stationen, auf denen die Verwundeten und das Personal völlig gemischt sind und wo etliche medizinische Mitarbeiter selbst schon zu Opfern des Bombardements geworden sind, ist es wirklich schlimm bestellt.“ Conway hatte das Bombardement wahrgenommen — eine ständige, unregelmäßige Folge von Einschlägen, die durch das Metall des Hospitalgebäudes übertragen wurden, als ob jemand auf einen mißtönenden Gong geschlagen hätte. Er hatte diese entsetzlichen Geräusche gehört und versuchte nun, nicht daran zu denken. Denn er wußte, daß die Mitarbeiter des Hospitals jetzt selbst zu Verwundeten wurden, und einige der Kriegsopfer, um die sich das Personal bereits gekümmert hatte, wurden jetzt zum zweitenmal zu Opfern. „Das kann ich mir vorstellen“, entgegnete Conway mit grimmiger Miene. „Aber ich hab schon reichlich damit zu tun, mich um Thornnastors Stationen zu kümmern.“ „Wir alle haben reichlich zu tun!“ erwiderte Mannon in scharfem Ton. „Aber irgend jemand wird sich schleunigst etwas einfallen lassen müssen!“ Was soll ich denn Ihrer Meinung nach unternehmen? dachte Conway wütend, wobei er die Augen auf den Rücken des hinausgehenden Mannon heftete. Dann wandte er sich dem nächsten Patienten zu. In den letzten paar Stunden war etwas ausgesprochen Merkwürdiges in Conways Kopf vorgegangen. Zunächst hatte er das immer stärkere Gefühl gehabt, beinahe zu wissen, was die tralthanischen Schwestern auf der Station sagten. Das schrieb er jedoch dem in seinem Kopf gespeicherten FGLI-Band zu, das die komplette Aufzeichnung des gesamten Gedächtnisses eines angesehenen Physiologen dieser Spezies darstellte. Es hatte ihm anscheinend neben dem Fachwissen auch eine Menge Kenntnisse über tralthanische Denkweisen und Ausdrücke vermittelt, die sich in Stimme und Gesichtsausdrücken widerspiegelten. Diesen Effekt hatte er zuvor noch niemals wahrgenommen — wahrscheinlich, so vermutete er, weil er es noch nie in einer so kurzen Zeitspanne mit so vielen Tralthanern zu tun gehabt hatte und er ansonsten ja immer einen Translator mit sich führte. Die Beschäftigung mit zum größten Teil tralthanischen Patienten hatte offenbar dazu geführt, daß die in seinem Kopf gespeicherte Persönlichkeit des FGLIs auf Kosten seiner natürlichen Eigenschaften stärker in den Vordergrund trat. Zwischen den beiden Persönlichkeiten gab es keinen Kampf um den Besitz seines Gehirns, und während der Vergrößerung der tralthanischen Hälfte trat auch kein Konflikt zwischen ihnen auf. Es handelte sich vielmehr um einen ganz natürlichen Vorgang, weil Conway zum intensiven Denken auf tralthanische Art gezwungen war. Wenn er die Gelegenheit zur Unterhaltung mit einer terrestrischen Schwester oder einem terrestrischen Patienten hatte, dann mußte er sich schon scharf konzentrieren, um die ersten paar Wörter für ihn nicht wie Kauderwelsch klingen zu lassen. Und jetzt hörte und verstand er allmählich sogar tralthanische Gespräche. Seine Sprachkenntnisse waren natürlich noch lange nicht perfekt. Schließlich gelangten die elefantenartigen Huptöne und Trompetenstöße nicht durch den Filter tralthanischer, sondern terrestrischer Ohren zu dem FGLI in Conways Gehirn und wurden dementsprechend verzerrt und in der Tonhöhe verändert dargestellt. Die Wörter klangen zwar etwas gedämpft und knurrig, aber er verstand trotzdem ein paar davon; demnach besaß er also so etwas wie einen Translator im Gehirn. Der Unterschied bestand natürlich darin, daß die ganze Sache absolut nur in einer Richtung funktionierte. Oder etwa doch nicht? Als er den nächsten Fall für den Operationssaal vorbereitete, entschloß sich Conway zu antworten. Schließlich kannte sein tralthanisches Alter ego den Klang der auszusprechenden Wörter, und er selbst wußte, wie er seine Stimmbänder benutzen mußte — zudem galt die terrestrische Stimme als eins der vielseitigsten Instrumente in der Galaxis. Conway holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Der erste Versuch ging katastrophal daneben. Er endete mit einem unkontrollierbaren Hustenanfall und verbreitete auf der ganzen Station Unruhe und Besorgnis. Doch beim dritten Versuch schaffte es Conway: eine der tralthanischen Schwestern antwortete ihm! Danach war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er schließlich die wichtigsten Anweisungen aus dem Effeff beherrschte. Die folgenden Operationen gingen nun viel schneller, effektiver und mit enorm gestiegenen Erfolgschancen voran. Die terrestrischen Schwestern waren von den seltsamen Geräuschen, die sich aus Conways überstrapazierter Kehle rangen, schwer beeindruckt. Gleichzeitig schienen sie jedoch auch ein humoristisches Element in der Situation zu erkennen. „Na so was!“ sagte hinter Conway plötzlich eine vertraute, leicht gereizte Stimme. „Eine Station voll fröhlicher, strahlender Patienten, und der liebe Onkel Doktor hält durch Tierstimmenimitationen die Moral aufrecht. Was, zum Teufel, machen Sie denn da?“ Conway bekam einen Schreck, als er sah, daß O’Mara wirklich wütend war und seine gewöhnlich schlechte Laune nicht nur gespielt war. Unter diesen Umständen war es wohl besser, die Ironie zu überhören und die Frage ernsthaft zu beantworten. „Ich kümmere mich um Thornnastors Patienten und zusätzlich noch um ein paar Neuankömmlinge“, antwortete Conway also ruhig. „Die Monitore und FGLI-Patienten sind jetzt alle versorgt, und ich wollte Sie gerade um ein DBLF-Band für die ebenfalls eingelieferten Kelgianer bitten.“ O’Mara schnaubte. „Ich schicke Ihnen einen kelgianischen Arzt runter, der das in die Hand nimmt“, entgegnete er wütend. „Und um die anderen Patienten können sich vorläufig Ihre Schwestern kümmern. Sie scheinen sich nicht im klaren darüber zu sein, daß das hier nur eine von dreihundertvierundachtzig Ebenen ist, Doktor Conway. Auf den Stationen liegen Patienten, die dringendst behandelt oder mit Medikamenten versorgt werden müssen, die sie nicht kriegen, weil das zuständige Personal auf ihr Gepiepse oder Getute nur pfeift. Und in den Schleusen türmen sich die Verwundeten, einige liegen sogar auf zum All hin offenen Korridoren. Wissen Sie, diese Drucktragbahren versorgen die Verwundeten nämlich nicht für alle Ewigkeit mit Luft, und die Leute da drin sind bestimmt nicht sehr glücklich.“ „Was soll ich also tun?“ fragte Conway. Aus irgendeinem Grund machte das O’Mara noch wütender, und er entgegnete in beißendem Ton: „Ich hab keine Ahnung, Doktor Conway. Ich bin Psychologe. Ich kann nicht mehr effektiv arbeiten, weil die meisten meiner Patienten nicht mehr meine Sprache sprechen. Und diejenigen, mit denen ich mich verständigen kann, treibe ich dazu an, über eine Möglichkeit nachzudenken, wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen können. Aber leider sind meine Patienten alle viel zu sehr mit der Behandlung der Kranken in ihrer unmittelbaren Umgebung beschäftigt, um noch an das Hospital als Ganzes denken zu können. Das wollen sie lieber den großen Köpfen überlassen.“ „Unter diesen Umständen scheint mir eigentlich ein Diagnostiker der richtige Mann für eine geniale Idee zu sein“, warf Conway ein. Durch O’Maras Ausführungen war Conway der Zorn des Chefpsychologen verständlicher geworden. Es mußte für einen Psychologen ziemlich frustrierend sein, wenn er mit seinen Patienten keine Gespräche mehr führen konnte. Doch schien sich O’Maras Zorn fast gegen Conway persönlich gerichtet zu haben, als hätte er in gewisser Weise bei seiner Arbeit versagt. „Thornnastor kommt nicht in Frage“, entgegnete O’Mara mit leicht gesenkter Stimme. „Und die anderen beiden noch hiergebliebenen Diagnostiker sind heute Vormittag umgekommen. Wahrscheinlich waren Sie zu beschäftigt, um das mitzubekommen. Von den Chefärzten hat es Harkness, Irkultis, Mannon.“ „Mannon! Ist er etwa.?“ „Ich hab gedacht, das wäre Ihnen möglicherweise bekannt, weil es ja nur zwei Ebenen weiter weg passiert ist“, erwiderte O’Mara beinahe sanft. „Mannon war gerade bei der Operation von zwei QCQLs, als der OP plötzlich aufgesprengt wurde. Dabei ist sein Anzug von einem herumfliegenden Metallsplitter aufgerissen worden. Er hat eine Dekompression erlitten und dann auch noch ein bißchen von der giftigen Atmosphäre der QCQLs eingeatmet, bevor sie ganz aus dem Raum entwichen ist. Aber der alte Mannon wird das schon überleben.“ Conway merkte, daß er den Atem angehalten hatte. „Da bin ich aber froh!“ sagte er. „Ich auch“, entgegnete O’Mara barsch. „Aber was ich damit eigentlich sagen wollte: Es sind gar keine Diagnostiker mehr einsatzfähig und außer Ihnen auch keine Chefärzte, und das Hospital befindet sich in einem fürchterlichen Zustand. Was gedenken Sie also als ranghöchster überlebender medizinischer Offizier des Hospitals nun in dieser Angelegenheit zu unternehmen?“ O’Mara stand da, musterte Conway und wartete. 20. Kapitel Conway hatte geglaubt, er könnte sich gar nicht mehr schlechter fühlen, als es ihm vor ein paar Stunden nach der Entdeckung des Zusammenbruchs des Translatorsystems ergangen war. Er wollte diese Verantwortung unter keinen Umständen übernehmen, allein der Gedanke daran erschreckte ihn schon zu Tode. Bis zu diesem Moment hatte er gelegentlich davon geträumt, irgendwann einmal Leiter des Orbit Hospitals zu werden und die absolute Kontrolle über alle medizinischen Angelegenheiten innerhalb dieses riesigen Gebildes zu haben. Aber in diesen Träumen war das Hospital natürlich kein sterbender, vom Krieg erschütterter Koloß gewesen, der durch den Zusammenbruch der Verständigung zwischen seinen einzelnen lebenswichtigen Organen praktisch gelähmt war. Darüber hinaus hatte das Hospital dabei weder von tödlichen Waffen gestrotzt, noch an einem geradezu kriminellen Personalmangel oder an einer furchtbaren Überbelegung gelitten. Wahrscheinlich hatte jemand wie er jedoch nur unter solchen Umständen zum Leiter dieses Hospitals werden können, sagte sich Conway betrübt. Dabei war er nicht einmal der beste zur Verfügung stehende Kandidat, sondern lediglich der einzige noch in Frage kommende. Trotzdem empfand er ein ganz unbeschreibliches Gefühl, eine Mischung aus Angst, Wut und Stolz darüber, daß er für die restlichen Tage oder Wochen seines Lebens diesem einmaligen Krankenhaus vorstehen sollte. Conway sah sich kurz in der Station um und betrachtete die geordneten, wenn auch ungleichmäßigen Reihen tralthanischer und terrestrischer Betten und das in unauffälliger Weise tüchtige Personal. Das alles hatte er selbst zustande gebracht. Andererseits begann Conway aber auch allmählich einzusehen, daß er sich hier unten versteckt hatte und vor seiner Verantwortung davongelaufen war. „Ich hab tatsächlich eine Idee“, sagte er plötzlich zu O’Mara. „Leider ist es keine gute Idee, und ich glaube, wir sollten in ihrem Büro darüber sprechen. Denn wahrscheinlich werden Sie gegen die Idee Einwände haben und diese auch lautstark äußern, und das könnte die Patienten stören.“ O’Mara blickte ihn scharf an. Als er antwortete, war der Zorn allerdings aus seiner Stimme gewichen, weshalb sie lediglich wieder den üblichen Sarkasmus aufwies. „Ich hab gegen sämtliche Ihrer Ideen etwas einzuwenden, Doktor. Ganz einfach deshalb, weil ich meine Gedanken immer beisammen hab.“ Auf dem Weg zu O’Maras Büro kamen sie an einer Gruppe ranghoher Offiziere des Monitorkorps vorbei, und der Major erklärte Conway, daß diese Offiziere zu Dermods Stab gehörten, der die Verlegung des taktischen Kommandos ins Orbit Hospital vorbereitete. Im Moment kommandierte Dermod von der Vespasian aus — selbst die Großkampfschiffe standen mittlerweile unter Beschuß, und fast wäre dem Flottenkommandanten die Domitian praktisch unter den Füßen weggeschossen worden. Als Conway und O’Mara im Büro ankamen, sagte Conway: „Die Idee ist nicht gerade umwerfend, und als ich unterwegs die Monitore gesehen hab, ist mir sowieso noch eine bessere gekommen. Angenommen, wir bitten Dermod um die Benutzung der Schiffstranslatoren…“ O’Mara schüttelte den Kopf. „Das würde nicht funktionieren“, entgegnete er. „Daran hab ich auch schon gedacht. Die einzigen für uns überhaupt brauchbaren Übersetzungscomputer scheinen die auf den großen Schiffen zu sein. Aber diese Computer sind solch ein wesentlicher Bestandteil der Schiffskonstruktion, daß man das Schiff beim Ausbau praktisch zerstören würde. Unabhängig davon würden wir für den absoluten Minimalbedarf allein die Computer von zwanzig Großkampfschiffen benötigen. Wir haben aber keine zwanzig Großkampfschiffe mehr, und die übriggebliebenen kann Dermod, wie er selbst sagt, besser gebrauchen. Und wie lautet Ihre nicht sehr gute Idee?“ Conway erzählte sie ihm. Als er fertig war, musterte O’Mara ihn fast eine Minute lang. Schließlich sagte er: „Betrachten Sie ihre Idee als abgelehnt, und zwar auf entschiedenste Weise. Wenn Sie wollen, können Sie sich ja vorstellen, wie ich vor Wut hoch- und runterspringe und dabei auf den Schreibtisch einhämmere. Genau das würde ich nämlich tun, wenn ich nicht so verdammt müde wäre. Begreifen Sie denn nicht, worauf Sie sich da einlassen?“ Irgendwo unter ihnen ertönte ein furchtbares Krachen mit grotesken gongartigen Obertönen. Conway zuckte unwillkürlich zusammen und antwortete dann: „Ich glaube schon. Ich werde eine relativ starke geistige Verwirrung durchmachen und wohl auch körperliche Beschwerden haben. Ich hoffe aber, einen Großteil davon vermeiden zu können, indem ich das Wesen vom Physiologieband nur solange die Kontrolle über mich ergreifen lasse, bis ich das Gewünschte erreicht hab. Dann unterdrücke ich das Wesen wenigstens zum Teil wieder und nehme die Übersetzung vor. So hat das jedenfalls beim Tralthanerband funktioniert. Und es gibt keinen Grund, warum es nicht auch mit den Kelgianerbändern und allen anderen funktionieren sollte. Die Sprache der DBLFs müßte eigentlich ein Klacks sein, denn das Stöhnen der Kelgianer ist viel einfacher nachzuahmen als das Trompeten der Tralthaner.“ Conway hoffte, sich auf keiner Station sehr lange aufhalten zu müssen, denn eigentlich wollte er nur bis zur Beseitigung der am jeweiligen Ort bestehenden Übersetzungsprobleme bleiben. Einige der ET-Laute würde der terrestrische Sprechapparat sicherlich nur mit Schwierigkeiten nachahmen können, aber er hatte eine Idee, wie man bestimmte Musikinstrumente zur Erzeugung dieser Laute abändern müßte. Außerdem würde er wahrscheinlich nicht der einzige wandelnde Translator bleiben, denn bestimmt gab es noch ETs und andere terrestrische Ärzte, die ihm durch das Speichern von einem oder zwei Bändern helfen könnten. Vielleicht hatten das einige von ihnen bereits getan, bis jetzt jedoch noch nicht daran gedacht, die gespeicherten Kenntnisse auch für Übersetzungen anzuwenden. Während Conway das alles erläuterte, hatte seine Zunge Mühe, mit seinen rasenden Gedanken Schritt zu halten. „Einen Moment mal“, unterbrach ihn O’Mara an einer bestimmten Stelle. „Sie reden dauernd davon, die eine Persönlichkeit in den Vordergrund treten zu lassen, sie dann wieder zurückzudrängen, um dann zwei Persönlichkeiten zusammen zum Vorschein zu bringen und so weiter. Sie werden möglicherweise feststellen müssen, daß Sie gar nicht soviel Kontrolle über Ihr Gehirn und die darin gespeicherten Persönlichkeiten haben. Mehrere Physiologiebänder im Kopf sind eine heikle Sache, und Sie haben bisher noch nie mehr als zwei Bänder gleichzeitig gespeichert gehabt. Ich kenne doch Ihre Akten.“ O’Mara zögerte für einen Moment, dann fuhr er in ernstem Ton fort: „Sie bekommen schließlich die aufgezeichneten Erinnerungen eines ETs, der auf seinem Heimatplaneten als hochqualifiziert galt oder immer noch gilt. Dabei handelt es sich zwar nicht um einen Alien, der bewußt um die Herrschaft über ihr Gehirn kämpft, aber weil seine Erinnerung und Persönlichkeit direkt neben Ihrer eigenen eingeprägt wird, könnten Sie in Panik geraten, weil sie fürchten, daß der Alien die Kontrolle über Sie zu erlangen versucht. Sie müssen nämlich wissen, daß einige der Physiologiebänder von äußerst aggressiven Individuen stammen. Mit den Ärzten, die zum erstenmal langfristig mehrere Bänder im Kopf speichern, gehen seltsame Dinge vor“, fuhr O’Mara fort. „Sie bekommen Schmerzen und Hautkrankheiten, und manchmal entwickeln sich bei ihnen sogar organische Funktionsstörungen. Natürlich hat das alles rein psychosomatische Ursachen, aber der Betroffene hat dieselben Schmerzen, als wenn er die Krankheiten aus rein körperlichen Gründen bekommen hätte. Diese Störungen können jedoch von einer willensstarken Persönlichkeit unter Kontrolle gehalten und sogar überwunden werden. Trotzdem würde der Verstand nur mit Stärke allein mit der Zeit unter dieser Last zerbrechen. Deshalb benötigt man zusätzlich zur Stärke auch geistige Flexibilität und irgend etwas, das sozusagen als mentaler Anker dient, etwas, das jeder selbst finden muß. Angenommen, ich stimme Ihrer Idee zu“, schloß O’Mara abrupt, „wie viele Bänder würden Sie dann brauchen?“ Conway überschlug die Anzahl schnell im Kopf: Tralthaner, Kelgianer, Melfaner, Nidianer, die ebenfalls im Hospital gebliebenen bewegungsfähigen Pflanzen, denen er vor seinem Abflug zum Planeten Etla begegnet war, sowie die Wesen, die Mannon zur Zeit des Raketeneinschlags auf seiner Station behandelt hatte. „FGLI, DBLF, ELNT, nidianischer DBDG, AACP und QCQL“, zählte Conway auf „Also sechs Bänder.“ O’Mara preßte die Lippen zusammen. „Mir würde es nichts ausmachen, wenn sich ein Diagnostiker diese Bänder einspielen lassen würde. Die sind ja daran gewöhnt, ihr Gehirn in sechs und mehr Teile zu spalten“, wandte er ein. „Aber Sie sind doch bloß.“ „Der ranghöchste medizinische Offizier des Hospitals“, beendete Conway den Satz lächelnd. O’Mara machte nur „Hmpf“. In der Stille konnten sie ein seltsames Aliengebrabbel und Stimmen von Terrestriern hören, die draußen auf dem Korridor vorbeikamen. Wer auch immer diese Laute hervorgebracht hatte, mußte sehr laut geschrien haben, denn das Büro des Majors sollte angeblich schalldicht sein. „Na schön“, sagte O’Mara plötzlich, „Sie können es versuchen. Aber ich hab keine Lust, mich in meiner Eigenschaft als Psychologe mit Ihnen zu befassen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist nämlich viel größer, als Sie zu glauben scheinen. Wir haben viel zuwenig Ärzte, um es uns leisten zu können, daß Sie sich durch eine Zwangsjacke selbst außer Gefecht setzen, und deshalb werde ich Ihnen einen Wachhund zuteilen. Wir werden zusätzlich ein GLNO-Band auf Ihre Liste setzen.“ „Prilicla!“ „Ja. Als Empath hatte er es bei den hier vor kurzem überall ausgestrahlten Emotionen ziemlich schwer, und deshalb mußte ich ihn unter Beruhigungsmitteln halten. Aber Prilicla ist bestimmt in der Lage, geistig ein Auge auf Sie zu werfen, und kann Ihnen vielleicht behilflich sein. Und jetzt legen Sie sich bitte auf die Couch.“ Conway begab sich zur Couch hinüber, und O’Mara paßte den Helm an. Dann sprach der Major sanft auf Conway ein; manchmal stellte er ihm Fragen, manchmal erzählte er nur. Er sagte, Conway würde während der Mehrfachübertragung das Bewußtsein verlieren und zum Erzielen der besten Ergebnisse mindestens vier Stunden lang schlafen — und Schlaf brauchte er ja sowieso. Wahrscheinlich, fuhr O’Mara fort, habe er sich diesen ganzen verrückten Plan überhaupt nur deshalb ausgedacht, um einen berechtigten Vorwand zum Schlafen zu haben. Vor ihm läge eine große Aufgabe, erzählte ihm der Psychologe in ruhigem Ton, denn er würde nicht nur aus sieben Wesen bestehen, sondern außerdem gleichzeitig auf sieben Stationen sein müssen. Deshalb würde der Schlaf ihm guttun. „Schlaf wäre jedenfalls nicht allzu schlecht“, antwortete Conway und mühte sich ab, die Augen geöffnet zu halten. „Ich werde auf jeder Station nur so lange bleiben, bis ich ein paar Wörter und Redewendungen gelernt hab, die ich dann den Schwestern beibringen kann. Gerade so viel, daß sie den ET-Chirurg verstehen, wenn er „Skalpell“ oder „Zange“ oder „Schwester, hören Sie damit auf, mir dauernd auf die Pelle zu rücken“ sagt.“ Die letzten Worte, die Conway von O’Mara noch deutlich hörte, waren: „Behalten Sie Ihren Sinn für Humor, mein Junge, den werden Sie noch brauchen.“ Conway wachte in einem Raum auf, der zu groß und zu klein war und ihm auf sieben verschiedene Arten fremd und gleichzeitig vollkommen vertraut vorkam. Er fühlte sich überhaupt nicht ausgeruht. An der Zimmerdecke hielt sich ein kleines, riesiges, zerbrechliches, schönes, ekelhaftes, insektenartiges Lebewesen mit seinen sechs bleistiftdünnen Beinen fest. Dieses Lebewesen erinnerte ihn an seine schlimmsten Alpträume, nämlich an die amphibienartigen Cllels, die er auf dem Grund seines Privatsees zum Frühstück zu jagen pflegte. Bei diesem Anblick mußte Conway aber auch an viele andere Dinge denken, unter anderem an einen vollkommen normalen Cinrussker der Klassifikation GLNO, wie er selbst einer war. Der GLNO an der Decke fing leicht zu zittern an. Das war seine Reaktion auf die Emotionen, die Conway und seine sieben Gefährten ausstrahlten. Sie alle wußten, daß die GLNOs vom Planeten Cinruss Empathen waren. Nachdem er sich an die Oberfläche eines Strudels aus Gedanken, Erinnerungen und Eindrücken von sieben Aliens und einem terrestrischen DBDG gekämpft hatte, kam Conway zu dem Schluß, daß es Zeit wäre, sich an die Arbeit zu machen. Prilicla stand sofort für den ersten Test seiner Idee zur Verfügung. Conway durchsuchte sein Gehirn nach den Erinnerungen und Erfahrungen des GLNOs und rief sie sich dann ins Bewußtsein. Daraufhin durchforschte er eine Flut von Alienwissen nach Kenntnissen, an die man zwar nicht bewußt denkt, die man jedoch ständig abruft: die der cinrusskischen Sprache. Nein, nicht die der cinrusskischen Sprache, berichtigte er sich selbst mit Nachdruck, sondern die Kenntnisse seiner eigenen Sprache; er mußte nämlich genauso wie ein GLNO denken, fühlen und hören. Und allmählich fing er auch damit an. Und das war keineswegs angenehm. Er war jetzt ein Cinrussker, Angehöriger einer zerbrechlichen, insektenartigen Spezies von Empathen, die unter geringer Schwerkraft lebten. Das schöne, fein gezeichnete Ektoskelett und der jugendliche, schillernde Glanz auf Priliclas nicht ganz verkümmerten Flügeln wußte Conway erst jetzt richtig zu schätzen, genauso wie die Art, auf der Priliclas Mundwerkzeuge zitterten, weil der Empath Conways plötzliche Verzweiflung mitempfand, ein Empath zu sein. All die in seinem Leben als GLNO gesammelten Erinnerungen und Erfahrungen waren zwar die eines glücklichen und gesunden Empathen, aber Conway war eben kein wirklicher Empath. Er konnte Prilicla zwar sehen, doch die Fähigkeit, durch die der eine GLNO die Gefühle des anderen teilte, fehlte ihm. Durch die Empathie erhielt jedes Wort, jede Geste und jeder Gesichtsausdruck auf subtile Art Farbe, und deshalb war für Cinrussker der Aufenthalt in Sichtweite eines anderen Cinrusskers ein ungetrübtes Vergnügen. Conway konnte sich zwar an seine empathischen, sein ganzes Leben lang aufrechterhaltenen Kontakte erinnern, doch kam er sich vor wie ein Taubstummer. Sein terrestrisches Gehirn besaß keine empathischen Fähigkeiten, und sie wurden ihm auch nicht durch die vom Physiologieband eingespeisten Erinnerungen zuteil. Prilicla gab eine Folge von schnalzenden und summenden Lauten von sich. Conway hatte sich mit dem GLNO noch nie direkt unterhalten. Ihre Gespräche hatten bisher immer den Übersetzungsprozeß durchlaufen und dabei Satzmelodie und sämtliche Emotionen verloren. Trotzdem hörte Conway jetzt, wie Prilicla mit einer Stimme voller Sorge und Mitleid „Es tut mir leid“ sagte. Als Antwort darauf versuchte Conway den weichen Triller und den Schnalzlaut nachzuahmen, aus denen Priliclas Name bestand; denn der Klang des terrestrischen Worts „Prilicla“ stellte lediglich eine schwerfällige Annäherung dar. Beim fünften Versuch brachte er erfolgreich eine Lautfolge hervor, die dem angestrebten Klang schon recht nahe kam. „Das ist sehr gut, Freund Conway“, lobte ihn Prilicla mit Wärme. „Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß man Ihre Idee realisieren kann. Können Sie mich verstehen?“ Conway suchte nach den benötigten Wortklängen und formte sie behutsam. „Ja“, entgegnete er, „danke schön.“ Dann wagten sich die beiden auch an schwierigere Phrasen heran, nämlich an Fachausdrücke zur Vermittlung grober medizinischer und physiologischer Einzelheiten. Manchmal glückte Conway die Artikulation dieser Lautfolgen und manchmal auch nicht. Die beste Aussprache, die ihm gelang, klang wie cinrusskisches Kauderwelsch, aber er versuchte es unermüdlich weiter. Dann wurde er jedoch plötzlich unterbrochen. „Hier O’Mara“, meldete sich eine Stimme aus dem Kommunikator im Zimmer. „Sie müßten inzwischen eigentlich wach sein, Doktor, deshalb erstatte ich Ihnen jetzt den neuesten Lagebericht. Wir werden immer noch angegriffen, aber die Situation hat sich ein wenig entspannt, da noch mehr freiwillige ETs zur Verstärkung unserer Streitkräfte eingetroffen sind. Dabei handelt es sich um Melfaner, noch ein paar Tralthaner und eine Truppe illensanischer Chloratmer. Sie werden sich demnächst also auch noch um PVSJs kümmern müssen, Doktor. Im Hospital selbst sieht es folgendermaßen aus.“ O’Mara gab nun eine genaue Aufschlüsselung der Verwundeten und des zur Verfügung stehenden Personals nach Spezies, Standort und Anzahl. Darüber hinaus teilte er nähere Daten über die in jedem Abschnitt herrschenden besonderen Probleme mit und nannte auch deren Dringlichkeitsgrad. „.die Entscheidung, womit Sie anfangen wollen, liegt bei Ihnen“, fuhr er fort. „Und je eher Sie sich daran machen, desto besser. Aber für den Fall, daß Sie immer noch ein wenig durcheinander sein sollten, wiederhole ich das.“ „Nicht nötig“, unterbrach ihn Conway. „Ich hab alles mitbekommen.“ „Gut. Wie fühlen Sie sich?“ „Furchtbar. Entsetzlich. Und äußerst eigenartig.“ „Das ist in jeder Hinsicht eine normale Reaktion“, antwortete O’Mara trocken. „Ende.“ Conway löste die Riemen, mit denen er ans Bett gegurtet war, und schwang die Beine heraus. Sofort versteifte er sich, unfähig, die Bettkante loszulassen. Denn viele der Wesen, die jetzt das Gehirn mit ihm teilten, hatten schreckliche Angst vor dem Zustand der Schwerelosigkeit. Die Reaktion war rein instinktiv, deshalb war es sehr schwer, etwas dagegen zu unternehmen. Und als Conway feststellte, daß seine Füße nicht so wie Priliclas an der Decke hängen bleiben würden, geriet er einen Moment lang in zusätzliche Panik. Er lockerte den Griff um die Bettkante und bemerkte, daß er sich mit einer Gliedmaße festgehalten hatte, die bleich und schwammig war und sich furchtbar von den klaren und deutlichen Konturen des Mundwerkzeugs unterschied, das er eigentlich zu sehen erwartet hatte. Doch irgendwie schaffte er es, das Zimmer zu durchqueren, auf den Korridor zu gelangen und dort eine Strecke von fünfzig Metern zurückzulegen. Dann wurde er angehalten. Ein aufgebrachter Pfleger des Monitorkorps wollte von ihm wissen, warum er nicht im Bett liegen und von welcher Station er überhaupt kommen würde. Die Ausdrucksweise des Monitors war äußerst direkt und alles andere als respektvoll. Jetzt erst wurde sich Conway seines abstoßend rosafarbenen Körpers bewußt, der groß, plump, zerbrechlich und zart zugleich wirkte. Ein wirklich schöner Körper, wie ihm ein Teil seines Gehirns beteuerte, wenn auch ein wenig zu schmächtig. Und dieses unförmige und mickerige Etwas war an der Verbindungsstelle mit den unteren Gliedmaßen von einem Stück weißem Stoff umgeben, das keinem offensichtlichen Zweck diente. Der Körper sah einfach fremdartig und lächerlich aus. Verdammter Mist! dachte Conway, wobei er sich durch eine wirre, schier undurchdringliche Masse extraterrestrischer Sinneseindrücke an die Oberfläche zu kämpfen versuchte. Ich hab ja ganz vergessen, mich anzuziehen. 21. Kapitel Als erste Maßnahme teilte Conway von jeder Spezies einen Vertreter für den Kommunikationsraum ein. Im Informationsnetz hatte man wenigstens den Anschein von Ordnung wiederhergestellt, indem man neben allen Kommunikatoren und Intercomgeräten Monitore aufgestellt hatte, um die ETs an deren Benutzung zu hindern — falls das entsprechende Wesen keinen triftigen Grund oder zu hartnäckig und kräftig war. Das bedeutete, das terrestrische Personal konnte sich wieder über das Kommunikationsnetz untereinander verständigen, und da sich in der Zentrale ETs befanden, konnten in dringenden Fällen auch die Anrufe anderer Spezies beantwortet und an die richtige Adresse weitergeleitet werden. Conway verbrachte fast zwei Stunden damit, sich in ein harmonisches Verhältnis mit den ETs in der Kommunikationszentrale zu setzen und eine Liste mit synonymen Wörtern der verschiedenen Sprachen aufzustellen, die ihnen den gegenseitigen Austausch einfacher — sehr viel einfacher — Mitteilungen ermöglichte. Dabei halfen ihm zwei Sprachexperten des Monitorkorps, die ihm auch vorschlugen, diesen siebensprachigen „Stein von Rosette“ auf Band aufzunehmen und darüber hinaus noch weitere Bänder zu erstellen, die auf die jeweiligen Verhältnisse auf den Stationen angepaßt waren. Wo immer Conway auch hinging, stets trotteten zusätzlich neben dem Pflegepersonal, das sich von Zeit zu Zeit auf den jeweiligen Stationen einfand, auch Prilicla, die Sprachexperten und ein Funktechniker des Monitorkorps hinter ihm her. Es war eine eindrucksvolle Prozession, aber Conway war im Moment nicht in der richtigen Stimmung, diese zu genießen. Das terrestrische medizinische Personal stellte jetzt mehr als die Hälfte der gegenwärtigen Gesamtbelegschaft, doch die terrestrischen Verwundeten des Monitorkorps überwogen die ETs in einem Verhältnis von dreißig zu eins. Auf manchen Ebenen mußte sich eine einzige Schwester um eine ganze Station voller Monitore kümmern, wobei ihr ein paar Tralthanerinnen oder Kelgianerinnen zu helfen versuchten. In solchen Fällen bestand Conways Aufgabe lediglich darin, ein Minimum an Verständigung zwischen den terrestrischen und extraterrestrischen Schwestern herzustellen. Aber es gab auch andere Fälle, in denen zum Beispiel das Personal aus ELNTs und FGLIs bestand, die DBLF-, QCQL- und terrestrische Patienten zu versorgen hatten, oder aus Terrestriern, die sich um ELNTs zu kümmern hatten, oder auch aus den pflanzenähnlichen AACPs, die auf ein Sammelsurium aus praktisch allem aufpaßten. Die einfachste Lösung wäre natürlich gewesen, die Patienten der Obhut des Pflegepersonals ihrer eigenen Spezies anzuvertrauen — ausgenommen dann, wenn die Patienten für eine Verlegung zu krank waren, wenn für ihren Transport kein Personal zur Verfügung stand oder keine Schwestern und Pfleger der betreffenden Spezies zur Verfügung standen. In solchen Fällen war Conways Aufgabe unendlich viel komplizierter. Bei allen Spezies herrschte ein chronischer Personalmangel, und hinsichtlich der Anzahl der Ärzte war die Lage schier zum Verzweifeln. Conway setzte sich mit O’Mara in Verbindung. „Wir haben nicht genügend Ärzte“, berichtete er. „Ich denke, man sollte den Schwestern bei der Diagnose und der Behandlung von Verwundeten mehr Ermessensspielraum geben. Sie sollten so handeln können, wie sie es für angemessen halten, ohne auf die Vollmacht eines Arztes warten zu müssen, der für eine lückenlose Überwachung sowieso viel zu beschäftigt ist. Denn es werden immer noch Verwundete eingeliefert, und ich sehe keine andere Möglichkeit, wie man.“ „Machen Sie ’s, Sie sind schließlich der Boß“, unterbrach ihn O’Mara schroff „Richtig“, erwiderte Conway gereizt. „Und noch etwas. Mir haben viele von den Ärzten angeboten, sich zusätzlich zu den für die gegenwärtigen Operationen gespeicherten Bändern noch zwei oder drei Bänder für Übersetzungszwecke einspielen zu lassen. Einige der Schwestern haben sich bereit erklärt, das gleiche zu tun.“ „Nein!“ widersprach O’Mara entschieden. „Ich hab schon einige von Ihren Freiwilligen hier oben gehabt, und keiner war dafür geeignet. Bei den Ärzten, die uns noch geblieben sind, handelt es sich entweder um völlig unerfahrene Medizinalassistenten oder um medizinische Offiziere des Monitorkorps sowie um ETs, die zusammen mit den Truppen von Freiwilligen gekommen sind. Von denen hat kein einziger Erfahrungen damit, mehrere Physiologiebändern gleichzeitig gespeichert zu haben. Die würden schon in der ersten Stunde für immer den Verstand verlieren. Und was die Schwestern angeht“, fuhr O’Mara mit süffisantem Unterton fort, „so werden Sie inzwischen bemerkt haben, daß die weiblichen terrestrischen DBDGs eine höchst eigentümliche Denkweise haben. Eine ihrer geschlechtsspezifischen Eigenschaften ist ihre extrem ausgeprägte Eigenwilligkeit. Ganz egal, was die Schwestern Ihnen auch immer gesagt haben, terrestrische Frauen werden es keinem — ich wiederhole — keinem Alien gestatten, scheinbar von ihren Gehirnen Besitz zu ergreifen. Und falls so etwas tatsächlich einmal geschehen sollte, würde das ernsthafte geistige Schäden zur Folge haben. Also nochmals nein. Ende.“ Conway setzte seinen Rundgang fort. Allmählich war er mit den Nerven am Ende, und obwohl sich seine Technik zusehends verbesserte, war der Übersetzungsprozeß für ihn eine stetig zunehmende Belastung. Während der relativ ruhigen Zeiträume zwischen den Übersetzungen fühlte er sich, als ob in seinem Gehirn gleichzeitig sieben fremde Wesen mit ihm stritten und schrien, wobei seine eigene Stimme nur sehr selten die lauteste war. Denn seine Kehle war durch die Erzeugung von Lauten, für die sie nie geschaffen worden war, bereits ganz rauh, und darüber hinaus hatte Conway auch noch Hunger. Allerdings hatten alle sieben fremden Wesen in ihm verschiedene Vorstellungen davon, wie dieser Hunger zu stillen war, und die sich auf geradezu ekelhafte Weise widersprachen. Da die Versorgung des Hospitals mit Speisen und Getränken genauso stark gelitten hatte wie alles andere, gab es keine reiche Auswahl mehr, aus der sich Conway neutrales Essen hätte herauspicken können, gegen das keiner der sieben Gäste in seinem Gehirn etwas einzuwenden gehabt hätte oder von dem zumindest keinem seiner Gäste völlig übel geworden wäre. So aber blieb ihm nur die Möglichkeit, die Sandwiches mit geschlossenen Augen zu vertilgen, um nicht zu sehen, womit sie belegt waren, und Wasser mit Traubenzucker zu trinken — denn gegen Wasser hatte keiner seiner Partner etwas einzuwenden. Nach einer geraumen Zeit funktionierte die Organisation der Aufnahme und Behandlung der Verwundeten auf allen noch nutzbaren Ebenen wieder — sie ging zwar langsam vonstatten, aber immerhin funktionierte sie. Da die Patienten nunmehr behandelt werden konnten, bestand Conways nächste Aufgabe darin, für den Weitertransport der ständig eintreffenden Verwundeten zu sorgen, die bereits die Zugänge zu den Luftschleusen versperrten. Wie ihm berichtet wurde, hatte man zur vorläufigen Unterbringung der Patienten sogar schon Drucktragbahren an den Außenwänden verankern müssen. Aber Prilicla hatte Einwände vorzubringen. Ein paar Minuten lang versuchte Conway, den Grund dafür herauszufinden. Einer von Priliclas Einwänden lautete, daß Conway zu müde sei, woraufhin Conway konterte, alle im Hospital wären müde, wobei er und Prilicla selbst sicherlich nicht die Ausnahme bildeten. Die restlichen Einwände waren für Conways Sprachkenntnisse jedoch entweder zu scharfsinnig oder zu schwer zu verstehen. Deshalb ließ Conway sie einfach außer acht und begab sich zur nächsten Schleuse. Draußen herrschten ähnliche Probleme wie im Innern des Hospitals. Der größte Nachteil war, daß Conways Anzugfunk die Übersetzung erheblich erschwerte. Aber dafür konnte er sich hier sehr viel schneller bewegen; denn die Traktorstrahlentechniker, die die um das Hospital treibenden Trümmer und Wrackteile beseitigten, beförderten ihn und seine sieben Gehirnpartner in Sekundenschnelle von einem Punkt zum anderen. Allerdings mußte er bald feststellen, daß der melfanische Teil seines Gehirns, der schon von der Schwerelosigkeit im Hospital äußerst beunruhigt war, draußen im All erst recht furchtbare Angst bekam. Denn bei dem melfanischen ELNT, von dem das Physiologieband stammte, handelte es sich um eine amphibienartige, krabbenähnliche Lebensform, die in erster Linie unter Wasser lebte und überhaupt keine Erfahrung mit dem Aufenthalt im freien Raum hatte. Conway mußte aber nicht nur gegen die Panik ankämpfen, die von seinem ganzen achtteiligen Gehirn Besitz zu ergreifen drohte, sondern auch gegen die Angst, die er und seine sieben Partner vor der draußen tobenden Schlacht empfanden. O’Mara hatte ihm zwar erzählt, daß der Angriff schwächer geworden sei, aber Conway konnte sich nichts Grausameres vorstellen als das, was er hier zu sehen bekam. Die gegnerischen Schiffe setzten keine Raketen gegeneinander ein — dazu lagen Angreifer und Verteidiger in einem schier unentwirrbaren Knäuel viel zu dicht beieinander. Ihre Konturen zeichneten sich wie kleine, schnell dahinschießende Spielzeugmodelle so scharf ab, daß Conway glaubte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um sich eins der Schiffe zu schnappen; dabei führten sie einen wilden, chaotischen Tanz auf. Einzeln oder in Gruppen machten sie einen Ausfall, wirbelten herum, führten verzweifelte Ausweichmanöver durch, brachen aus der Formation aus, formierten sich neu und gingen wieder zum Angriff über. Es war ein nicht enden wollendes, erbittertes und beinahe hypnotisierendes Schauspiel, das natürlich ohne die geringsten Geräusche ablief. Alle abgeschossenen Raketen waren auf das Hospital gerichtet, ein Ziel, das zum Verfehlen viel zu groß war, und die Einschläge waren im Raum eher zu spüren als zu hören. Zwischen den Schiffen stießen Traktor- und Pressorstrahlen wie massive, unsichtbare Finger hervor und brachten das als Ziel dienende Schiff zum Stillstand oder lenkten es von seiner Flugbahn ab, um einen Pulsatorstrahl darauf richten zu können. Manchmal flogen drei oder mehr Schiffe auf ein einziges Ziel zu und zerrissen es mit ihren Pulsatorstrahlen innerhalb weniger Sekunden. Hin und wieder zerstörte ein gut gezielter Pulsatorstrahl das künstliche Gravitationssystem Sekundenbruchteile bevor die Steuerung des Schiffsantriebs außer Kraft gesetzt wurde. Dann wurde die Besatzung von der hohen Beschleunigung an die Wände geklatscht, während das Schiff selbst trudelnd und hilflos durch das Kampfgebiet schoß, bis jemand einen zweiten Pulsatorstrahl darauf richtete oder es von einem Traktorstrahlentechniker an der Außenwand des Orbit Hospitals zur Suche nach Überlebenden zur Station gezogen wurde. Denn das Schiffswrack konnte man gebrauchen, ob es nun Überlebende an Bord gab oder nicht. Die ehemals glatte und glänzende Außenwand des Orbit Hospitals war inzwischen nur noch eine Masse aus tiefen, gezackten Kratern und eingedellter Metallverkleidung. Da einige Raketen oder Torpedos zweioder sogar dreimal an derselben Stelle einschlugen — auf diese Weise war schon der Übersetzungscomputer zerstört worden —, wurden die Krater provisorisch mit Wrackteilen verstopft, damit die Raketen nicht tiefer im Innern des Hospitals explodieren konnten. Bei der Auswahl der zu diesem Zweck verwendeten Trümmer waren die Traktorstrahlentechniker nicht wählerisch. Conway stand gerade auf dem Sockel eines Traktorstrahlenprojektors, als eins der Schiffswracks herangezogen wurde. Er beobachtete, wie das Rettungsteam aus dem Schutz der Luftschleuse herausgeschossen kam, das Wrack vorsichtig umkreiste und schließlich an Bord ging. Ungefähr zehn Minuten später kam das Team wieder aus dem Wrack heraus und zog. irgend etwas hinter sich her. „Doktor“, sagte der für diesen Abschnitt verantwortliche Offizier, „ich glaube, ich hab Mist gebaut. Meine Männer sagen, das Wesen, das sie aus dem Wrack gezogen haben, wäre ihnen vollkommen unbekannt. Sie sollten mal einen Blick darauf werfen. Tut mir leid, aber ein Wrack ist wie das andere. Ich glaube nicht, daß es eins von unseren ist.“ In sieben Teilen von Conways Gehirn befanden sich Persönlichkeiten, deren Erinnerungen keinerlei Informationen über Krieg enthielten, und sie glaubten auch nicht, daß das etwas ausmachte. Conway war mit seinem Abscheu gegen diesen Krieg und seiner Meinung in der Minderheit, obwohl er auch nicht glaubte, daß der Mangel an Informationen über Krieg eine Rolle spielte. Allerdings wußte er, daß weder der Sergeant noch er selbst Zeit für eine moralische Debatte hatten. Conway warf einen kurzen Blick auf das Lebewesen und sagte dann: „Bringen Sie den Alien herein. Ebene zweiundvierzig, Station sieben.“ Seit der Speicherung der Bänder war Conway gezwungen gewesen, hilflos mit ansehen zu müssen, wie Patienten von müden und abgespannten Wesen operiert wurden, die zwar die besten Absichten, nicht aber die notwendigen Fähigkeiten besaßen — obwohl der Zustand der Verwundeten wenigstens einen voll qualifizierten Chefarzt für die Operation erfordert hätte. Diese Wesen hatten ihre Arbeit so gut sie konnten erledigt, weil sonst niemand da war. Häufig hatte Conway eingreifen wollen, sich dann aber selbst vor Augen gehalten, daß er schließlich an das große Ganze denken mußte — auch Prilicla und die Gefolgsleute in seinem Kopf hatten ihn unentwegt daran erinnert. Denn zu jenem Zeitpunkt war die Neuorganisierung des Hospitals noch viel wichtiger als irgendein Patient gewesen. Doch jetzt merkte Conway, daß seine Funktion als Organisator an Bedeutung verlor und er wieder als Arzt fungieren konnte. Der aus dem Wrack geborgene Verwundete gehörte einer dem Orbit Hospital unbekannten Spezies an. O’Mara besaß bestimmt kein Band mit Informationen über die Physiologie des Verletzten, und da die Translatoren ausgefallen waren, würde der Patient zu keiner Zusammenarbeit in der Lage sein, selbst wenn er das Bewußtsein wiedererlangte. Conway mußte sich einfach dieses Patienten annehmen, und nichts und niemand würde ihn davon abbringen. Station sieben lag neben der Abteilung, in der ein kelgianischer Militärarzt und Schwester Murchison an einer bunten Mischung aus FGLIs, QCQLs und terrestrischen Patienten wahre Wunder vollbracht hatten. Deshalb bat Conway beide um ihre Mithilfe. Er klassifizierte den Neuankömmling als TRLH, wobei ihm die Tatsache half, daß der Raumanzug des Patienten sowohl transparent als auch elastisch war. Wäre der Anzug nicht so elastisch gewesen, hätte das Wesen zwar weniger schwere Verletzungen davongetragen, doch wäre er bestimmt zerplatzt, wenn er nicht der auf ihn einwirkenden Kraft nachgegeben hätte. Conway bohrte ein kleines Loch in den Anzug, entnahm eine Probe der Innenatmosphäre und versiegelte ihn wieder. Dann steckte er die Probe in den Analysator. „Und ich hab immer gedacht, die Atmosphäre der QCQLs wäre schon schlimm“, sagte Murchison, als ihr Conway das Ergebnis zeigte. „Aber immerhin können wir sie reproduzieren. Ich nehme an, ich soll einen Atmosphäreaustausch vornehmen, richtig?“ „Ja, bitte“, antwortete Conway. Sie stiegen in ihre Operationsanzüge, die aus dem üblichen leichten Stoff bestanden. Nur die Arme und Hände steckten in dünnen, enganliegenden Gummihüllen, die wie eine zweite Haut anlagen. Die Luft auf der Station wurde durch die Atmosphäre des Patienten ersetzt, und Conway schnitt zusammen mit Murchison und dem Kelgianer den Anzug des Verwundeten auf. Der TRLH hatte einen dünnen Panzer, der den Rücken bedeckte und sich erst nach unten und dann zum Schutz des mittleren Bereichs der Körperunterseite nach innen wölbte. An den unbedeckten Abschnitten befanden sich vier dicke Beine mit je einem Gelenk, sowie ein großer, jedoch nur mit einer dünnen Schädeldecke versehener Kopf. An diesem Kopf saßen vier Greiforgane, zwei zur Zeit tiefliegende, sonst aber ausstreckbare Augen und zwei Mundöffnungen. Aus einer dieser Mundöffnungen lief Blut. Das Lebewesen mußte gegen mehrere vorstehende Metallteile geschleudert worden sein, denn sein Panzer war an sechs Stellen gebrochen und an einer davon fast völlig zertrümmert, wobei die Bruchstücke stark eingedrückt waren. An dieser Stelle verlor der Patient viel Blut. Conway erfaßte die inneren Verletzungen mit dem Röntgenscanner und signalisierte ein paar Minuten später, daß er bereit war anzufangen. Eigentlich war er gar nicht bereit, aber andernfalls wäre der Patient verblutet. Die Anordnung der inneren Organe unterschied sich von allem, was Conway bisher kennengelernt hatte, und auch von allem, das seine sieben Gehirnteilhaber aus ihrer Erfahrung kannten. Vom QCQL erhielt Conway jedoch Hinweise, die Rückschlüsse auf den Metabolismus zuließen, da der QCQL selbst ein Wesen war, das solch eine hochkorrosive Atmosphäre atmete. Der Melfaner gab ihm Informationen über die möglichen Untersuchungsmethoden des beschädigten Panzers. Und der FGLI, der DBLF, der GLNO und der AACP steuerten ihre Erfahrungen bei. Diese waren allerdings nicht immer hilfreich — zu Beginn einer jeden neuen Operationsphase schrien sie ihm buchstäblich die Warnung zu, bloß vorsichtig zu sein, und zwar so laut, daß Conway sekundenlang mit zitternden Händen dastand und unfähig war weiterzuarbeiten. Er bohrte jetzt tief in den gespeicherten Erinnerungen seiner sieben Gäste herum, denn bisher hatte er ja nur nach Sprachkenntnissen gesucht, doch nun sprudelte alles auf einmal hervor. Die persönlichen Alpträume und Neurosen der Individuen, die ausgelöst wurden, weil sie mit den im Gehirn benachbarten gleichartigen Alpträumen der anderen Aliens so unentwirrbar vermischt waren. Sie alle steigerten sich und wurden von Minute zu Minute schlimmer. Schließlich besaßen die Wesen, von denen die Bänder stammten, überhaupt keine Erfahrungen mit Hospitalen für ETs und waren an Standpunkte anderer Aliens nicht gewöhnt. Es wäre am einfachsten, sagte sich Conway, sich ständig vor Augen zu halten, daß diese Wesen keine einzelnen Persönlichkeiten, sondern lediglich eine Ansammlung verschiedenster Alienkenntnisse darstellten. Aber er war entsetzlich müde und benommen und verlor langsam die Kontrolle über die sich in seinem Kopf abspielenden Vorgänge, und stetig quollen die Erinnerungen in einem dunklen, angeschwollenen Strom hervor, belanglose, unanständige und intime Erinnerungen, die sich hauptsächlich um Sex drehten — und der war nun bei Aliens wahrhaftig fremdartig, und zwar so fremdartig, daß Conway am liebsten geschrien hätte. Er merkte auf einmal, daß er sich nach vorn gebeugt hatte und schwitzte, als würde er ein großes Gewicht auf dem Rücken tragen. Er spürte, wie Murchison seinen Arm packte. „Was ist los, Doktor?“ fragte sie besorgt. „Kann ich Ihnen helfen?“ Conway schüttelte nur den Kopf, weil er eine Sekunde lang nicht wußte, wie er in seiner eigenen Sprache Wörter bilden sollte. Er blickte Murchison ganze zehn Sekunden lang an, und als er sich wieder dem Patienten zuwandte, hatte er ein Bild von ihr vor Augen, wie er sie sah, und nicht wie sie ein Tralthaner, Melfaner oder Kelgianer wahrnahm. Die Besorgnis in Murchisons Augen hatte nur ihm allein gegolten. Manchmal hatte Conway seine eigenen intimen Gedanken über Murchison gehabt, aber es waren immer für ihn normale, menschliche Gedanken gewesen. Jetzt klammerte er sich fest daran, und eine Zeitlang hatte er sich wieder unter Kontrolle — jedenfalls lange genug, um die Operation des Patienten abzuschließen. Gleich darauf spaltete sich sein Gehirn plötzlich wieder in sieben Teile auf, und Conway fiel in die tiefsten und dunkelsten Abgründe von sieben verschiedenen Höllen. Er spürte nicht, daß sich seine Glieder versteiften, beugten oder verdrehten, als hätte irgend etwas Fremdes von jedem einzelnen seiner Glieder gesondert Besitz ergriffen. Er merkte auch nicht, daß ihn Murchison nach draußen schleppte und festhielt, während der so zerbrechliche Prilicla unter Einsatz seines Lebens ihm eine Spritze injizierte, die ihn bewußtlos werden ließ. 22. Kapitel Durch das Summen des Kommunikators wachte Conway in der angenehmen, vertrauten, räumlich beengten Umgebung seines eigenen Zimmers schlagartig auf, ohne dabei allerdings verwirrt zu sein. Er fühlte sich ausgeruht und wach und hatte Lust auf ein reichhaltiges Frühstück. An der Hand, mit der er die Decke zurückschlug, saßen fünf rosafarbene Finger, und genauso fühlte sie sich auch an. Doch dann bemerkte er eine gewisse Fremdheit, und er hielt einen Moment lang inne. Es war überall so ungewöhnlich ruhig… „Um Ihnen gleich die üblichen Fragen wie „Wo bin ich?“, „Wie spät ist es?“ oder „Was ist passiert?“ zu ersparen“, sagte O’Maras Stimme müde, „Sie sind zwei Tage lang bewußtlos gewesen. Während dieser Zeit, gestern früh, um genau zu sein, sind die Kampfhandlungen eingestellt und bis jetzt auch noch nicht wiederaufgenommen worden. Ich hab in der Zwischenzeit übrigens eine Menge Arbeit in Sie investiert. Zu Ihrem eigenen Besten hab ich Sie einer Hypnosebehandlung unterzogen, damit Sie alles vergessen, deshalb werden Sie mir leider auch nicht für das, was ich für Sie getan hab, auf immer und ewig dankbar sein. Wie fühlen Sie sich jetzt?“ „Ausgezeichnet“, antwortete Conway begeistert. „Ich spüre gar kein, ich meine, ich scheine in meinem Kopf plötzlich wieder eine Menge Platz zu haben.“ O’Mara grunzte. „Die naheliegende Antwort darauf wäre, daß Ihr Kopf ja auch ansonsten leer ist, aber das sage ich natürlich lieber nicht.“ Trotz des Versuchs, seine übliche trockene, süffisante Art beizubehalten, klang der Chefpsychologe furchtbar erschöpft — selbst seine sonst deutliche Artikulation litt unter seiner Müdigkeit. Doch wie Conway wußte, war O’Mara nicht der Typ, der freiwillig müde wurde — wenn er sich lange und hart genug rannahm, unterlag er allenfalls einer gewissen geistigen Erschöpfung. „Der Flottenkommandant will sich mit uns in vier Stunden zu einer Besprechung treffen“, fuhr O’Mara fort. „Also lassen Sie sich bis dahin nicht auf irgendwelche neuen Fälle ein. Es läuft jetzt sowieso alles ziemlich reibungslos ab, deshalb können Sie es sich ruhig leisten, eine Zeitlang zu faulenzen. Ich selbst werde mich jetzt schlafen legen. Ende.“ Doch Conway empfand es als äußerst schwierig, vier Stunden mit Nichtstun zu verbringen. Die Hauptkantine war von Monitoren völlig überfüllt. Dabei handelte es sich in erster Linie um Mitglieder der Projektormannschaften, die zur Verteidigung der Außenwand des Orbit Hospitals eingesetzt wurden, und der Ersatzcrews für die Verteidigungsschiffe, sowie um Wartungstechniker und Angehörige der Sanitätsdivisionen, die das zivile medizinische Personal ergänzten. Die Unterhaltung war laut, nervös und ein wenig zu ausgelassen und drehte sich um die vergangenen und möglichen zukünftigen Aspekte des Angriffs. Anscheinend war die Streitmacht des Monitorkorps praktisch bis an die Außenwand des Hospitals zurückgedrängt worden, als eine ET-Streitmacht von freiwilligen Illensanern direkt hinter den feindlichen Angriffslinien aus dem Hyperraum aufgetaucht war. Die illensanischen Schiffe waren riesig und wirkten aufgrund ihrer unförmigen Konstruktion wie Großkampfschiffe, obwohl sie nur die Bewaffnung eines leichten Kreuzers besaßen. Und der Anblick von zehn dieser aus dem Nichts herausspringenden Schiffe hatte den Feind vollkommen aus dem Konzept gebracht. Die Streitmacht des Angreifers hatte sich zur Neuformierung vorübergehend zurückgezogen, und die Monitore, die nichts mehr besaßen, was sie hätten neu formieren können, konzentrierten sich auf die Verstärkung der Bewaffnung ihrer letzten Verteidigungslinie, dem Hospital selbst. Obwohl Conway die Geschichte im selben Maße wie alle anderen im Raum anging, verspürte er eine Abneigung dagegen, sich an diesen fröhlich-makaberen Gesprächen zu beteiligen. Seit O’Mara sämtliche Physiologiebänder aus seinem Kopf gelöscht und ihn anschließend einer Hypnosebehandlung unterzogen hatte, waren alle Alpträume und sämtliche von Conway erlangten ET-Sprachkenntnisse verschwunden, so daß er sich auch kein freundliches Gespräch mit einem der ETs gönnen konnte, die über den ganzen Raum verstreut saßen. Die terrestrischen Schwestern waren allesamt von Monitoren in Beschlag genommen worden — normalerweise in einem Verhältnis von zehn oder zwölf zu eins, was offensichtlich auf beiden Seiten die Moral hob. Conway aß schnell und verließ die Kantine wieder, weil er das Gefühl hatte, daß seine eigene Moral ebenfalls dringend einer Aufbesserung bedurfte. Aus diesem Grund fragte er sich plötzlich, ob Murchison im Dienst war, frei hatte oder schlief. Sollte sie schlafen, konnte er nichts tun. Sollte sie jedoch Dienst haben, dann könnte er sie sehr schnell davon befreien, und wenn sie sowieso schon frei hatte. Seltsamerweise bereitete ihm dieser schamlose Amtsmißbrauch für eigene egoistische Zwecke nur äußerst geringe Gewissensbisse. In Kriegszeiten lockert sich eben die Bindung der Leute an Berufs- und Moralkodex, sagte er sich. In moralischer Hinsicht schien er jedenfalls immer mehr vor die Hunde zu gehen. Doch er mußte sein verbrecherisches Vorhaben gar nicht in die Tat umsetzen, denn Murchison machte gerade Feierabend, als er auf ihrer Station eintraf. In genau dem gleichen lauten und ausgelassenen Ton, den er in der Kantine noch für künstlich und unangebracht gehalten hatte, fragte er sie, ob sie schon eine andere Verabredung habe, schlug dann ein Treffen vor und murmelte schließlich irgend etwas furchtbar Banales über immer nur Arbeit und nie Vergnügen. „Eine andere Verabredung. Vergnügen.! Aber ich will doch nur schlafen!“ protestierte Murchison. Dann fuhr sie in einem verbindlicheren Ton fort: „Sie können doch nicht. Ich meine, wo sollten wir denn hingehen, und was könnten wir überhaupt machen? Das Hospital ist doch nur noch ein einziger Trümmerhaufen. Müßte ich mich denn umziehen?“ „Der Freizeitbereich existiert noch“, entgegnete Conway. „Und Sie sehen sowieso toll aus.“ Die vorgeschriebene, enganliegende blaue Schwesterntracht bestand aus einer Hemdbluse und einer Hose, die allerdings wirklich sehr eng waren, um das An- und Ablegen des Schutzanzugs zu erleichtern. Zwar schmeichelte diese Uniform Schwester Murchison durchaus, trotzdem sah sie wirklich sehr erschöpft aus. Als sie den breiten, weißen Gürtel und die Instrumententaschen abnahm und Haube und Haarnetz absetzte, entfuhr Conway aus tiefer Kehle ein bewunderndes Knurren, das sofort in einen Hustenanfall überging, weil sein Hals von der Erzeugung der ET-Laute immer noch empfindlich war. Murchison lachte, schüttelte sich das Haar aus und rieb sich etwas Farbe in die Wangen. Dann fragte sie ihn strahlend: „Versprechen Sie mir, daß Sie mich nicht zu lange ausführen.?“ Es war schwierig, auf dem Weg zum Freizeitbereich nicht über die Arbeit zu sprechen. Denn viele Abteilungen des Hospitals hatten Lecks durch den Beschuß und Druck verloren, weshalb die noch belegbaren Ebenen völlig überfüllt waren, und es gab auch kaum noch einen mit Luft gefüllten Korridor, der nicht mit Patienten belegt war. Niemand hatte solche Verhältnisse vorhersehen können, weil man nicht damit gerechnet hatte, daß der Feind lediglich in einen begrenzten Krieg mit dem Hospital treten würde. Wären nämlich Nuklearwaffen zum Einsatz gekommen, hätte es gar keine Überfüllung geben können — und möglicherweise auch kein Orbit Hospital mehr. Conway hörte Murchison die meiste Zeit überhaupt nicht zu, aber sie schien es gar nicht zu bemerken — vielleicht deshalb, weil sie ihm ebenfalls nicht zuhörte. Der Freizeitbereich war ihrer Erinnerung nach in allen Einzelheiten derselbe geblieben, diese Einzelheiten selbst hatten sich jedoch im gesamten Bereich auf dramatische Weise verändert. Da der Schwerpunkt des Hospitals über dem Freizeitbereich lag, war die — wenn auch sehr geringe — Anziehungskraft nach oben gerichtet. Daher hatten sich sämtliche nicht befestigte Materialien, die sich normalerweise auf dem Boden oder in der Bucht befanden, an der Decke gesammelt und bildeten dort ein durchsichtiges, kunterbuntes Gemisch aus mit Sand durchsetztem Wasser, Luftlöchern und herabhängenden riesigen Wassertropfen, durch das die überschwemmte Sonne in einem tiefen, satten Violett schien. „Oh, das ist aber hübsch!“ sagte Murchison. „Und irgendwie auch sehr erholsam.“ Die Beleuchtung verlieh ihrer Haut eine warmen, dunklen Teint, den Conway vollkommen unbeschreiblich, aber hinreißend schön fand. Murchisons Lippen hatten einen weichen, ins Schwarze übergehenden Violetton, waren leicht geöffnet und entblößten so die scheinbar von innen heraus leuchtenden Zähne. Ihre Augen waren groß und geheimnisvoll und strahlten. „Der richtige Ausdruck ist romantisch“, entgegnete Conway. Sie katapultierten sich vorsichtig in den gewaltigen Raum hinein und auf das Restaurant zu. Unter ihnen zogen die Baumkronen vorbei, und sie trieben durch Nebelwölkchen, die aus kühlendem Dampf bestanden, der von der warmen „Unterwassersonne“ erzeugt wurde und der ihre Arme und Gesichter mit Feuchtigkeit benetzte. Conway ergriff Murchisons Hand und hielt sie sanft fest, doch ihre Fluggeschwindigkeiten entsprachen sich nicht ganz genau, und sie begannen sich um ihren gemeinsamen Schwerpunkt zu drehen. Conway winkelte langsam den Arm an und zog Murchison zu sich heran, wodurch sich ihre gemeinsame Drehung beschleunigte. Dann schob er den anderen Arm um ihre Taille und zog sie noch näher zu sich. Anfangs wollte Murchison protestieren, aber dann küßte sie ihn plötzlich — es war herrlich — und schmiegte sich genauso fest an ihn wie er sich an sie, und der leere Strand, die Felsen und der violette, wässerige Himmel wirbelten wild um sie herum. In einem kurzen Moment der Gelassenheit dachte Conway, daß sich sein Kopf so oder so gedreht hätte, selbst wenn es sein Körper nicht getan hätte — schuld war dieser einmalige Kuß. Schließlich flogen sie engumschlungen zur Felsenspitze auf der anderen Seite der Bucht, prallten sanft auf und stoben lachend auseinander. Am künstlichen Grün zogen sie sich auf das ehemalige Restaurant zu. Im Innern war es dämmerig, und während des langsamen Falls in Richtung Decke hatte sich unter dem transparenten Dach und auf den Unterseiten der Tischbaldachine eine Menge Wasser angesammelt. Dort hatten sich Pfützen gebildet, die wie zerbrechliche, fremdartige Früchte aussahen, die sich sanft kräuselten, als Conway und Murchison vorbeikamen, oder in Hunderte von kleinen, silbrigen Tropfen zerplatzten, sobald sie gegen einen Tisch stießen. Bei der niedrigen Decke und dem dämmerigen Licht war es schwierig, nicht irgendwo anzustoßen, und deshalb befanden sich die beiden schon bald in einem Meer von Wassertropfen, die sich scheinbar an sie herandrängten und unzählige winzige, verzerrte Spiegelbilder von ihnen zurückwarfen. Conway empfand all das wie eine fremde Traumwelt — und es war ja auch wie in einem Traum, der einem alle Wünsche erfüllte, daran ließ die dunkle und schöne Gestalt Murchisons an seiner Seite überhaupt keinen Zweifel. Sie setzten sich an einen der Tische, und zwar vorsichtig, um nicht das Wasser aus dem Baldachin über ihren Köpfen herauszuschütteln. Conway legte Murchisons Hand in seine — die beiden anderen Hände benötigten sie, um sich auf den Stühlen festzuhalten — und sagte: „Ich möchte mit dir reden.“ Sie lächelte ihn nur an, wenn auch ein wenig skeptisch. Conway versuchte zu sprechen. Er bemühte sich, Dinge zu sagen, die er zuvor viele Male geprobt hatte, doch alles, was er jetzt hervorbrachte, war nur ein unzusammenhängendes Durcheinander. Sie wäre schön, sagte er, und er wolle nicht nur ihr Freund sein, und es sei ziemlich dumm von ihr gewesen, im Hospital zu bleiben. Er liebe und begehre sie und hätte liebend gerne Monate damit zugebracht — wenn auch vielleicht nicht allzu viele Monate —, sie in die Ecke zu drängen, bis sie nichts anderes mehr als „ja“ hätte sagen können. Jetzt aber habe man keine Zeit, irgend etwas richtig zu machen. Die ganze Zeit über habe er nur an sie gedacht, und sogar die Operation an dem TRLH hätte er nur deshalb bis zum Ende durchgehalten, weil er mit den Gedanken bei ihr gewesen sei. Und während des gesamten Bombardements habe er sich darüber Sorgen gemacht, daß sie. „Ich hab mir über dich auch Sorgen gemacht“, unterbrach ihn Murchison sanft. „Du bist in allen Abteilungen des Hospitals gewesen, und jedesmal ist dort eine Rakete eingeschlagen. Und du hast immer genau gewußt, was zu tun war, und. und ich hatte Angst, du würdest dich noch selbst umbringen.“ Auf Murchisons Gesicht lag ein Schatten, die Uniform klebte feucht an ihrem Körper. Conway spürte, wie sein Mund austrocknete. „An dem Tag mit dem TRLH bist du einfach wunderbar gewesen“, fuhr Murchison mit warmer Stimme fort. „Es war, als ob man mit einem Diagnostiker zusammenarbeiten würde. Sieben Bänder, hat O’Mara gesagt. Ich. ich hatte ihn vorher gebeten, mir eins zu geben, um dir zu helfen. Aber das hatte er abgelehnt, weil er.“ — Sie zögerte und schaute beiseite — „. weil er meinte, Frauen seien sehr wählerisch darin, von sich Besitz ergreifen zu lassen. Ihre Gehirne seien, ich meine.“ „Wie wählerisch denn?“ fragte Conway mit belegter Stimme. „Sind. Freunde von der Wahl ausgeschlossen?“ Während er sprach, beugte er sich unwillkürlich nach vorn und ließ dabei aus Versehen den Stuhl los, an dem er sich mit der freien Hand festgehalten hatte. Schwerfällig trieb er vom Tisch weg nach oben, stieß gegen den Baldachin und berührte mit der Stirn einen der umhertreibenden Riesentropfen. Die Oberflächenspannung riß, der Tropfen zerplatzte und ergoß sich über sein Gesicht. Prustend wischte er sich das Wasser aus dem Gesicht, das dabei zu einer Wolke aus winzigen, schillernden, murmelgroßen Tröpfchen zerstob. Und dann sah er etwas. Es war der einzige disharmonische Ton in dieser Traumwelt; ein Stapel von Raketen ohne Sprengkopf in einer dunklen Ecke des Raums. Die Raketen wurden von Klemmen am Boden gehalten und waren zusätzlich durch ein Netz gesichert, falls die Klemmen durch die Erschütterung einer Explosion aufgerissen worden wären. Unter dem Netz war noch eine Menge Platz. Conway stieß sich in Richtung Netz ab, wobei er sich noch immer an Murchison festhielt, suchte, bis er den Rand des Netzes fand, und hob ihn vom Boden hoch. „Wir können uns nicht richtig unterhalten, wenn wir weiterhin in der Luft herumschweben“, sagte er leise. „Komm mit auf mein Zimmer.“ Vielleicht ähnelte das Netz zu stark einem Spinnengewebe, oder Conways Ton glich zu sehr dem einer räuberischen Spinne, jedenfalls merkte er, daß sie zögerte. Die Hand, die er hielt, zitterte. „Ich. ich weiß, wie du dich fühlst“, sagte Murchison schnell, sah ihn dabei jedoch nicht an. „Ich mag dich ja auch. Vielleicht empfinde ich für dich sogar noch mehr als das. Aber was du vorhast, ist nicht richtig. Mir ist ja klar, daß wir keine Zeit haben, aber sich hier so herunterzuschleichen, wie wir es getan haben, und. das ist selbstsüchtig. Ich muß immer an die ganzen Männer auf den Korridoren denken und an die anderen Verwundeten, die erst noch eingeliefert werden. Ich weiß, das klingt spießig, aber wir müssen eben zuerst an die anderen denken. Und deshalb.“ „Danke!“ unterbrach Conway sie wütend. „Vielen Dank, daß du mich an meine Pflichten erinnerst.“ „Oh, bitte!“ rief Murchison, und auf einmal schmiegte sie sich wieder an ihn und legte den Kopf auf seine Brust. „Ich will dich doch nicht verletzen, und ich will auch nicht, daß du mich haßt. Ich hatte nicht gedacht, daß dieser Krieg so schrecklich sein würde. Ich hab Angst. Ich will nicht, daß du getötet wirst und mich ganz alleine läßt. Bitte halt mich fest und. und sag mir, was ich tun soll.“ Ihre Augen funkelten, aber erst als einer der winzigen glänzenden Punkte herauslief, merkte Conway, daß sie leise weinte. Irgendwie hatte er sich Murchison nie weinend vorgestellt. Er hielt sie lange Zeit fest und schob sie dann sanft von sich. Mit rauher Stimme sagte er: „Natürlich hasse ich dich nicht, aber im Moment will ich auch nicht darüber reden, was ich jetzt genau empfinde. Komm, ich bringe dich nach Hause.“ Dazu kam es aber nicht mehr. Denn wenige Minuten später ertönte die Alarmsirene, und als diese endlich wieder verstummt war, wurde Conway über die Lautsprecheranlage gebeten, sich sofort in die Kommandozentrale zu begeben. 23. Kapitel Früher war es einmal die Anmeldezentrale der Aufnahmestation gewesen, in der sich drei flinkzüngige Nidianer mit den manchmal komplexen Schwierigkeiten befassen mußten, Patienten aus ihren Ambulanzschiffen herauszuholen und in das Hospital hineinzubringen. Jetzt handelte es sich um das Hauptquartier des Oberkommandos, in dem zwanzig Offiziere des Monitorkorps nervös in Kehlkopfmikrofone murmelten, während ihre Augen an den Bildschirmen hafteten, die den Feind in allen Vergrößerungsgraden von null bis fünfhundert zeigten. Auf zweien der drei Hauptschirme waren Teile der feindlichen Flotte abgebildet, und diese Darstellungen wurden teilweise durch geisterhafte Linien und geometrische Figuren überlagert, durch die ein taktischer Offizier vorauszusagen versuchte, welchen Schritt die feindliche Flotte als nächstes unternehmen würde. Der dritte Bildschirm stellte eine Weitwinkelaufnahme der Außenwand des Hospitals dar. Eine Rakete schoß wie eine entfernte Sternschnuppe heran, erzeugte beim Aufprall einen kleinen Blitz und warf eine winzige Trümmerfontäne auf. Das reißende, metallische Krachen, das durch den Raum widerhallte, stand jedoch in keinem Verhältnis zum Bild. Dermod sagte: „Die haben sich aus der Reichweite der schweren Waffen, die wir außen am Hospital angebracht haben, zurückgezogen und feuern jetzt Raketen auf uns ab. Das ist eine Zermürbungstaktik, mit der sie uns verunsichern wollen, bevor sie zum eigentlichen Hauptangriff übergehen. Denn ein Gegenangriff durch unsere restliche mobile Streitmacht hätte nur deren völlige Zerstörung zur Folge. Sie ist dem Feind zahlenmäßig so stark unterlegen, daß sie nur wirkungsvoll operieren kann, wenn sie von den Verteidigungsanlagen am Hospital unterstützt wird. Deshalb haben wir gar keine andere Wahl, als in der gegenwärtigen Kampfphase die Raketen so gut wir können zu schlucken und unsere Kräfte zu sparen, bis wir.“ „Welche Kräfte denn?“ fragte Conway wütend. O’Mara, der neben ihm stand, gab einen mißbilligenden Laut von sich, und von der anderen Seite des Schreibtischs musterte der Flottenkommandant Conway mit eisigem Blick. „Wir können darüber hinaus mit leichten Angriffen durch schnelle, wendige Einheiten rechnen, die uns noch mehr verunsichern sollen“, sagte Dermod zu Conway, beantwortete damit aber nicht die Frage. „Die Verwundeten, die man Ihnen bringen wird, werden sich aus den zur Verteidigung des Hospitals eingesetzten Monitoren zusammensetzen, aus Besatzungsmitgliedern der Verteidigungsschiffe und vielleicht auch aus feindlichen Opfern. Und damit komme ich zu einem Punkt, den ich gerne klären würde. Sie scheinen sich ja um eine ganze Menge Verletzte des Feindes zu kümmern, Doktor, und dabei hatten Sie mir doch gesagt, daß Ihre Möglichkeiten bereits bis an die Grenzen ausgereizt seien.“ „Woher, zum Teufel, wollen Sie das wissen?“ fragte Conway. Dermods Gesichtsausdruck wurde noch eisiger, doch diesmal beantwortete er die Frage. „Weil ich Berichte von Patienten hab, die nebeneinander liegen und feststellen, daß der andere Kauderwelsch redet. Und dabei handelt es sich wohlweislich um Patienten von derselben physiologischen Klassifikation. Welche Schritte gedenken Sie also zu unternehmen, um das.“ „Gar keine!“ unterbrach Conway ihn barsch. Er war plötzlich so zornig, daß er diesem kalten, gefühllosen Leuteschinder am liebsten an die Gurgel gegangen wäre und ein wenig Menschlichkeit in ihn hineingeschüttelt hätte. Am Anfang hatte er Dermod gemocht. Damals hatte er ihn nicht nur für einen rücksichtsvollen und einfühlsamen, sondern auch für einen kompetenten Flottenkommandanten gehalten, doch während der letzten Tage war Dermod zur Verkörperung der blindwütigen, auf eiskalte Weise operierenden Streitkräfte geworden, die Conway und alle anderen im Hospital gefangenhielten. Seit dem Beginn des letzten Angriffs hatte man tägliche Besprechungen zwischen den militärischen und medizinischen Verantwortlichen angeordnet, und auf allen dreien hatte Conway feststellen müssen, daß er in zunehmendem Maße mit dem Flottenkommandanten aneinandergeriet. Doch wenn Conway Dermod anschnauzte, schnauzte der Flottenkommandant keineswegs zurück. Dermod musterte ihn lediglich mit so starren und aus so großer Entfernung blickenden Augen, daß Conway jedesmal das Gefühl hatte, der Kommandant sähe ihn überhaupt nicht an. Es nützte auch gar nichts, als O’Mara Conway jetzt den leisen Rat gab, lieber den Mund zu halten und nicht so verteufelt empfindlich zu sein, weil Dermod schließlich einen Krieg zu führen habe und wirklich sein Bestes gäbe. Außerdem würden die Belastungen, denen er ausgesetzt sei, einen gewissen Mangel an Charme in seiner Persönlichkeit durchaus entschuldigen. „Sicherlich behandeln Sie die feindlichen Verwundeten nicht genauso wie unsere eigenen.?“ fragte Dermod in frostigem Ton, gerade als Conway eingesehen hatte, daß er wirklich mehr Geduld mit diesem kaltblütigen Militaristen haben sollte. „Es ist schwierig, den Unterschied zu erklären“, entgegnete Conway mit so ruhiger Stimme, daß O’Mara plötzlich beunruhigt aussah. „Irgendwelche feinen Abweichungen des Raumanzugdesigns haben für das Schwesternpersonal und mich keinerlei Bedeutung. Und wenn, wie es häufig vorkommt, der Anzug und die Uniform darunter von uns weggeschnitten worden sind, dann ist die Uniform wegen der Blutung möglicherweise nicht mehr zu identifizieren. Schließlich sind die Orallaute, die Verwundete zwischen der Injektion von Betäubungsmitteln und dem Zustand der Bewußtlosigkeit von sich geben, nicht unbedingt leicht zu übersetzen. Und falls es irgendeine Methode geben sollte, den Unterschied zwischen einem Monitor und einem feindlichen Verwundeten durch deren Schmerzensschreie festzustellen, dann will ich darüber jedenfalls nichts wissen.“ Conway hatte zwar ruhig begonnen, doch mit dem letzten Satz war er fast beim Schreien angelangt. „. ich werde zwischen den Verwundeten keine solche Unterscheidung treffen, und das werden meine Mitarbeiter ebenfalls nicht! Das hier ist schließlich ein Krankenhaus, verdammt noch mal! Oder glauben Sie das etwa nicht?“ „Immer mit der Ruhe, mein Junge. Natürlich ist es immer noch ein Krankenhaus“, versuchte ihn O’Mara mit sanfter Stimme zu beruhigen. „Es ist aber auch ein Militärstützpunkt!“ wetterte Dermod los. In einem verzweifelten Versuch, die Wogen zu glätten, warf O’Mara schnell ein: „Was ich überhaupt nicht verstehe, ist, warum uns dieses verdammte Imperium nicht einfach mit atomaren Sprengköpfen erledigt.“ Die metallenen Echos eines erneuten Einschlags, diesmal weiter entfernt, hallten durch den Raum. „Sie geben uns nicht mit einer Atombombe den Rest, weil sie eine Eroberung machen müssen, Major“, antwortete Dermod, dessen Augen immer noch direkt in Conways blickten. „Die beteiligten politischen Kräfte verlangen das. Das Imperium muß diesen Vorposten des verhaßten Feindes einnehmen und besetzen, der General des Imperators muß einen Triumph erringen und keinen Pyrrhussieg. Wenn er den Feind unterwirft und dessen Territorium erobert, dann kann er das für die Bürger des Imperiums wie einen Triumph aussehen lassen, ganz egal, wie klein das eingenommene Gebiet auch immer ist und um wie viele Gefangene es sich dabei handelt. Wir selbst haben schwere Verluste erlitten“, fuhr Dermod kalt fort. „Ein Kampf im All bleibt nun einmal ein Kampf im All — nur zehn Prozent der Verwundeten überleben lange genug, um ins Krankenhaus eingeliefert werden zu können, und dabei haben wir noch das Glück, auf der Stelle über medizinische Behandlungsmöglichkeiten zu verfügen und zusätzlich eine starke Verteidigungsposition einnehmen zu können. Die Anzahl der feindlichen Verwundeten ist deshalb viel höher als bei uns — ich würde das Verhältnis auf zwanzig zu eins schätzen. Wenn die imperialen Streitkräfte uns also erst jetzt mit einer Nuklearrakete erledigen würden, obwohl sie schon ganz zu Anfang genau dasselbe ohne den Verlust eines einzigen Manns hätten tun können, dann würde man im Imperium doch einige sehr peinliche Fragen aufwerfen. Wenn nun der Imperator diese Fragen nicht beantworten kann, wird sich möglicherweise herausstellen, daß sich der Krieg und die ganze schöne, von ihm selbst entfachte Kriegsbegeisterung gegen ihn kehrt.“ „Warum verständigen wir uns nicht mit den imperialen Streitkräften?“ unterbrach ihn Conway in barschem Ton. „Erzählen Sie den Leuten die Wahrheit über uns, und berichten Sie von den Verwundeten hier. Oder rechnen Sie jetzt etwa immer noch damit, diesen Kampf hier zu gewinnen? Warum also ergeben wir uns nicht einfach.?“ „Wir können uns nicht mit denen verständigen“, erwiderte der Kommandant in schneidendem Ton, „weil sie uns nicht zuhören werden. Und falls sie uns doch zuhören sollten, werden sie uns kein Wort glauben. Denn diese Leute wissen — oder glauben zu wissen —, was wir auf Etla getan haben und welche Dinge wir hier angeblich treiben. Da nützt es überhaupt nichts, denen zu erklären, daß wir den Einheimischen auf Etla wirklich geholfen haben und leider dazu gezwungen waren, unser Hospital zu verteidigen. Kurz nachdem wir Etla verlassen hatten, ist der Planet von einer ganzen Reihe von Seuchen heimgesucht worden, und diese Einrichtung hier verhält sich in deren Augen schließlich längst nicht mehr wie ein harmloses Hospital — das heißt, natürlich nur nach außen hin. Was wir denen erzählen, spielt überhaupt keine Rolle. Das einzige, was zählt, sind unsere Taten, und die entsprechen genau den Erwartungen, die ihnen der Imperator eingetrichtert hat. Wenn die Soldaten des Imperiums wirklich mal nachdächten, dann würden sie sich schon über die große Zahl von ETs wundern, die uns helfen“, fuhr Dermod wütend fort. „Ihrer Überzeugung nach gehören unsere ETs unterworfenen und geknechteten Spezies an und stellen für uns nur wenig mehr als Sklaven dar. Die Freiwilligen, die uns zu Hilfe geeilt sind, kämpfen natürlich nicht wie Sklaven, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist so etwas zu subtil, um irgendeinen Eindruck zu machen. Die imperialen Streitkräfte denken nicht logisch, sondern rein gefühlsmäßig.“ „Und ich denke ebenfalls gefühlsmäßig!“ unterbrach Conway ihn scharf. „Ich denke an meine Patienten. Die Stationen sind völlig überfüllt. Die Verwundeten liegen überall in irgendwelchen Winkeln und auf den Korridoren herum und sind nicht einmal ausreichend gegen Druckverlust geschützt.“ „Sie sind überhaupt nicht mehr in der Lage, an irgendwas anderes zu denken als an Ihre Patienten“, schnauzte Dermod zurück. „Es überrascht Sie vielleicht zu hören, daß ich ebenfalls an die Patienten denke, aber ich versuche wenigstens, dabei nicht so gefühlsduselig zu sein. Wenn ich nämlich erst einmal so denken würde wie Sie, dann werde ich bald auch vor Wut schäumen und anfangen, den Feind zu hassen. Und bevor ich es überhaupt merken würde, wäre ich auf pure Rache aus.“ Ein erneuter Einschlag dröhnte wie ein lauter, disharmonischer Gongschlag durch das Hospital. Der Kommandant wurde lauter und immer lauter. „. Sie müssen wissen, das Monitorkorps ist die Polizei für den größten Teil der bewohnten Galaxis und erhält den Frieden im Einflußbereich der Föderation aufrecht, um die ständige Anwendung der psychologischen und sozialen Wissenschaften zu sichern. Kurz gesagt, um sowohl die Meinung des Individuums als auch die der Gesamtbevölkerung eines Planeten zu formen und in eine auf gegenseitigen Respekt und Toleranz basierende Richtung zu lenken. Die Situation, in der wir uns gegenwärtig befinden, könnte ich also gut für meine Rachegelüste ausnutzen — eine tapfere Schar von Monitoren und Ärzten hält den brutalen, nicht enden wollenden Angriffen eines haushoch überlegenen Feindes stand. Doch selbst dann würde die Föderation lange brauchen, um so wütend zu werden, daß sie für den Krieg mobil machen würde — und zwar viel zu lange, als daß es uns persönlich noch irgend etwas bringen würde. Aber stellen Sie sich nur mal vor, wie man uns rächen würde, Doktor.!“ Dermods Stimme zitterte jetzt und sein Gesicht war vor Wut kreidebleich und verkniffen. Er schrie: „In einem interstellaren Krieg kann man keine Planeten einnehmen, Doktor. Man kann sie nur sprengen. Wir würden dieses miese kleine Imperium mit seinen vierzig Planeten unschädlich machen, vernichten, vollkommen ausradieren.!“ O’Mara sagte nichts. Conway konnte weder etwas sagen, noch die Augen von Dermod abwenden, um die Reaktion des Chefpsychologen auf diesen Gefühlsausbruch mitzubekommen. Einen derartigen furchterregenden Wutausbruch des Kommandanten hatte Conway nicht für möglich gehalten, und er erschrak plötzlich. Denn er war nicht nur auf O’Maras, sondern gerade auch auf Dermods gesunden Verstand und Selbstbeherrschung angewiesen, so sehr ihm das gegen den Strich ging. „Aber das Monitorkorps ist ja die Polizei, erinnern Sie sich noch?“ tobte Dermod weiter. „Wir versuchen, das ganze als eine Unruhe, als einen Aufstand von interstellarer Größenordnung zu betrachten, bei dem die Anzahl der verwundeten Aufruhrer die der verwundeten Polizisten wie üblich übersteigt. Ich persönlich glaube, der Zeitpunkt, an dem unser Gegner durch irgendwelche Informationen oder durch irgend etwas anderes noch die Wahrheit erkennt, ist längst vorbei, und ein ausgewachsener Krieg ist nun unvermeidbar. Aber ich will unsere Feinde trotzdem nicht hassen. Und das, Doktor, ist der Unterschied zwischen der Aufrechterhaltung des Friedens und dem Führen eines Krieges. Und ich will auch keine heulenden, engstirnigen Ärzte haben, die sich über nichts anderes Sorgen zu machen brauchen, als über ihre Patienten, und die mich dauernd an die fürchtbaren Todesarten meiner Männer erinnern. Diese Ärzte versuchen mich dahin zu bringen, meinen Blick für das richtige Verhältnis der Dinge zu verlieren und Lebewesen zu hassen, die sich von uns nur dadurch unterscheiden, daß man sie falsch informiert hat. Und es ist mir schnurzegal, ob Sie die Verwundeten des Feinds und des Monitorkorps auf die gleiche Art behandeln, Doktor“, brüllte Dermod weiter, weil es ihm nicht gelang, die Stimme zu senken, „aber Sie werden mir wenigstens zuhören, wenn ich Anweisungen bezüglich der Patienten gebe. Das hier ist schließlich ein militärischer Stützpunkt, und bei den Patienten handelt es sich um Feinde! Man muß Vorkehrungen treffen, daß die bewegungsfähigen Patienten keine Möglichkeit zur Sabotage haben. Haben sie das jetzt verstanden, Doktor?“ „Ja, Sir“, antwortete Conway kleinlaut. Als er ein paar Minuten später zusammen mit O’Mara die Kommandozentrale verließ, hatte er immer noch ein Gefühl, als hätte man ihm die Ohren langgezogen. Ihm war jetzt klar, daß er den Flottenkommandanten völlig falsch beurteilt hatte. Eigentlich hätte er sich für seine ungerechten Vorwürfe bei Dermod entschuldigen müssen, denn unter der eiskalten Schale verbarg sich ein guter Mensch. Plötzlich sagte O’Mara, der neben ihm ging: „Ich sehe es immer recht gerne, wenn diese kalten, beherrschten Typen gelegentlich mal Dampf ablassen. Denn wenn man an die Belastungen denkt, unter denen Dermod zur Zeit steht, ist das psychologisch gesehen durchaus wünschenswert. Ich bin froh darüber, daß Sie ihn zum Schluß wütend gemacht haben.“ „Und was ist mit mir?“ fragte Conway. „Sie haben sich einfach nicht unter Kontrolle, Doktor“, antwortete O’Mara streng. „Trotz Ihrer neuen Machtbefugnisse, wegen der Sie eigentlich ein Beispiel an Toleranz und gutem Benehmen geben sollten, haben Sie sich wie ein kleines Kind aufgeführt. Passen Sie bloß auf, Doktor!“ Eigentlich hatte Conway von O’Mara Mitleid erwartet, weil Dermod ihn so zur Schnecke gemacht hatte, und auch ein wenig Verständnis, da er derzeit so unter Druck stand, auf keinen Fall aber hatte er mit Kritik aus dieser Ecke gerechnet. Als O’Mara kurz darauf in Richtung seines Büros abbog, war Conway noch immer so wütend, daß er darauf nichts zu erwidern wußte. 24. Kapitel Am nächsten Tag fand Conway keine Gelegenheit, sich beim Flottenkommandanten zu entschuldigen — die Aufrührer gingen zum bisher brutalsten Angriff über, und für ein Gespräch war beileibe keine Zeit. Die Schlacht einen Aufruhr oder Krieg zu nennen, sagte sich Conway zynisch, war für die Art der Verletzungen vollkommen egal und erst recht für die vielen Verwundeten, die plötzlich in das Hospital hereinströmten, weil der Kampf für beide Seiten praktisch mit einer Katastrophe beginnen sollte. Die feindliche Streitmacht näherte sich, steigerte das Raketenbombardement zu phantastischer Stärke und kreiste das Orbit Hospital so eng ein, daß die feindlichen Schiffe zeitweise nur noch wenige hundert Meter von der Außenwand entfernt waren. Dermods Schiffe — das heißt die Vespasian, ein tralthanisches Großkampfschiff und die anderen verbliebenen kleineren Schiffe — ließen sich zurückfallen, um mit Traktorstrahlen an der Außenwand des Hospitals vor Anker zu gehen. Dort gab es keinen Platz mehr zum Manövrieren, um die schweren Waffen einzusetzen, und nachdem sie angedockt hatten, verstärkten sie mit ihren leichteren Bordwaffen wo immer möglich den Verteidigungsring. Aber genau das mußte der Schritt gewesen sein, auf den der Kommandant des Feinds gewartet hatte. Mit der Schnelligkeit, in der nur ein gut geplantes Manöver ablaufen kann, lichteten sich die Reihen des kugelförmigen Angreiferrings, schossen auseinander und formierten sich wieder über einem kleinen Bereich der Außenwand. Auf diesen Bereich konzentrierte sich jetzt die gesamte Feuerkraft von drei Vierteln der feindlichen Flotte. Eine wahre Flut von Raketen bohrte sich in die dicke Verkleidung der Außenwand, sprengte die Trümmerteile weg, mit denen frühere Einschlaglöcher verstopft worden waren, und fraß sich in die weniger stabile Innenwand. Traktor- und Pulsatorstrahlen packten die immer noch fest sitzenden Trümmer, rüttelten sie mit Gewalt auseinander und zogen sie beiseite, damit sich die Raketen noch tiefer in die Wand hineinbohren konnten. Die Verteidigungswaffen des Monitorkorps forderten unter den dicht zusammengedrängten Schiffen des Feinds zwar furchtbare Opfer, aber das nur für kurze Zeit. Denn die ungeheure Zusammenballung des feindlichen Feuers zertrümmerte die Verteidigungsstellungen an dieser Stelle völlig, zerschlug sie, riß und zerrte an ihnen, bis alles nur noch eine dahintreibende Masse aus zerfleischten Männern und zerfetztem Metall war. Ein Teil der Außenwand mußte vollkommen unverteidigt aufgegeben werden, und plötzlich wurde klar, daß dies nicht nur ein Angriff, sondern auch eine Invasion war. Unter dem Deckungsfeuer der massierten Angreifer senkten sich drei riesige, unbewaffnete Schiffe schwerfällig auf den unverteidigten Abschnitt herab. Es waren Truppentransporter. Sofort erhielt die Vespasian die Anweisung, die Verteidigungslücke zu schließen. Sie raste auf die Stelle zu, wo der erste Transporter gerade landen wollte, veranstaltete dabei einen Spießrutenlauf sowohl durch das Feuer des Monitorkorps als auch durch das des Feindes, und schoß schließlich, als das feindliche Ziel auf der Wölbung der Außenwand auftauchte, alles ab, was sie hatte. Für das, was dann geschah, wurden später mehrere Entschuldigungen angeführt — eine Fehleinschätzung durch den Piloten der Vespasian; ein Treffer von einem der feindlichen Schiffe oder sogar von den eigenen Leuten; Raketen, die die Vespasian genau im falschen Moment vom Kurs abbrachten. Daß Captain Williamson den feindlichen Transporter absichtlich rammte, unterstellte ihm jedoch nie jemand, denn Williamson war als ein fähiger Offizier mit klarem Kopf bekannt — und ein Tausch bei einem Kurs von eins zu eins war selbst in dieser hoffnungslosen Kampfphase ein taktisch unkluger Schritt, wenn man daran dachte, wie stark der Feind dem Monitorkorps überlegen war. Die Vespasian stieß in der Nähe des Hecks gegen den zwar größeren, aber leichter gebauten Transporter und schien ihn einfach zu durchbohren, bevor sie mit einem leisen Knirschen zum Stillstand kam. Aus dem Innern des beschädigten Transporters erhellte eine kleine Explosion den Nebel aus entweichender Luft, doch die beiden Schiffe blieben trotzdem weiterhin ineinander verkeilt und drehten sich langsam herum. Eine Sekunde lang schien alles zum Stillstand zu kommen, dann aber holten die fest installierten Verteidigungsanlagen des Monitorkorps zum Schlag aus. Die Monitore ließen alle anderen Ziele außer acht, damit sich die Wirkung ihrer Pulsatorprojektoren voll und ganz auf den zweiten herabsinkenden Transporter richten konnte. Innerhalb von Minuten hatten die Pulsatorstrahlen die Verkleidung an drei Stellen des Schiffsrumpfs abgerissen und drangen tief ein. Der Transporter verlor Luft und zog sich schwerfällig zurück. Der dritte Transporter hatte schon vorher mit dem Rückzug begonnen. Nun wich die gesamte feindliche Streitmacht zurück, allerdings nicht sehr weit, und das Bombardement wurde mit nur leicht verminderter Stärke fortgesetzt. Dieser Rückzug war auch beim besten Willen kein Sieg für das Monitorkorps. Der Feind hatte lediglich die Situation falsch eingeschätzt und war ein wenig voreilig vorgegangen. Das Orbit Hospital mußte erst noch mehr zermürbt werden. Traktorstrahlen schossen hervor, stoppten die Drehung der beiden beschädigten Schiffe und zogen sie an die zerstörte Außenwand heran. Aus dem Hospital kamen Monitore geflogen, um nach Verletzten zu suchen, und bald wurden die ersten Patienten ins Hospital gebracht. Das geschah jedoch auf Umwegen, denn unter den beschädigten Schiffen lagen bereits andere Schiffswracks, und es waren noch andere Rettungsteams mit der Befreiung und Bergung von Verletzten beschäftigt, von denen einige schon zum zweiten- oder drittenmal verwundet worden waren. Unter diesen Rettungsteams befand sich auch Dr. Prilicla. Der GLNO gehörte zur zerbrechlichsten Lebensform, die in der Föderation bekannt war, und das wichtigste Überlebensmerkmal dieser Spezies war Feigheit. Doch Prilicla lenkte seine dünnwandige Druckblase geschickt über scharfkantige Verkleidungsteile und durch Trümmer, die in zunehmendem Maße um ihn herumtrieben, und suchte nach Leben. Denn lebende Gehirne strahlten sogar im Zustand der Bewußtlosigkeit Lebenszeichen aus, und daher konnte der kleine GLNO unfehlbar die Lebenden von den Toten unterscheiden. Da es Verwundete gab, die in ihren Anzügen verbluteten oder deren Anzüge Druck verloren, richteten sich Priliclas Bemühungen um das Aufspüren von Leben auf die Bereiche, wo sie den größten Nutzen brachten, und auf diese Weise rettete er viele, viele Leben. Doch für einen für Emotionen empfänglichen Empathen war es in jedem schrecklichen und schmerzhaften Sinn des Wortes eine höllische Arbeit. Major O’Mara war überall gleichzeitig zu finden. Hätte keine Schwerelosigkeit geherrscht, hätte sich der Chefpsychologe bestimmt mit letzter Kraft von Ort zu Ort geschleppt, doch unter den gegebenen Umständen war seine extreme Erschöpfung lediglich daran zu erkennen, daß er sich hin und wieder in den Entfernungen verschätzte und gegen Türen rannte oder mit Lebewesen zusammenprallte. Wenn er jedoch mit terrestrischen Patienten, Schwestern und Monitoren sprach, klang seine Stimme nie müde. Seine bloße Gegenwart wirkte sich auch auf das ET-Personal beruhigend aus. Denn obwohl die ETs ihn nicht verstehen konnten, erinnerten sie sich doch an den Menschen, der er gewesen war, als die Translatoren noch funktioniert hatten und O’Mara ihnen mit ein paar scharfen Worten buchstäblich das Fell über die Ohren ziehen konnte. Das aus den massigen, unbeholfenen tralthanischen FGLIs, den krabbenähnlichen melfanischen ELNTs und all den anderen Aliens bestehende ET-Personal war überall. Auf einigen Ebenen leiteten die ETs die Arbeit des terrestrischen Personals, auf anderen halfen sie den Schwestern und Sanitätern des Monitorkorps. Die ETs waren alle müde und abgekämpft und verstanden leider häufig nicht, was man ihnen sagte, aber zusammen retteten sie sehr viele Leben. Und jedesmal, wenn eine Rakete das Hospital traf, ging wieder etwas Boden verloren. Conway hielt sich jetzt ausschließlich in der Kantine auf. Er stand jedoch mit den meisten der restlichen Ebenen in Funkverbindung, denn die zu ihnen führenden Korridore waren in vielen Fällen luftleer oder durch Trümmerteile verstopft. Außerdem war man allgemein der Meinung, daß sich der letzte dem Hospital verbliebene Chefarzt an einem möglichst sicheren Ort aufhalten sollte. Er mußte sich um eine Menge terrestrischer Patienten kümmern, und man schickte ihm auch die schwierigen ET-Fälle, egal, ob es sich nun um Angehörige der Streitkräfte oder des medizinischen Personals handelte. In gewisser Hinsicht leitete er die größte und gleichzeitig räumlich beengteste Station im Orbit Hospital. Da niemand mehr Zeit zum Essen hatte und sich jeder ganz auf die abgepackte Fertignahrung verließ, die auf die einzelnen Stationen geschickt wurde, war die Hauptkantine umgebaut worden. Betten und OP-Geräte waren am Boden, an den Wänden und der Decke des großen Saals befestigt worden. Und da sich die Patienten aus Angehörigen des Raumpersonals zusammensetzten, beunruhigte sie weder die Schwerelosigkeit noch der Anblick von anderen, ein paar Meter über ihnen hängenden Patienten. Für die Patienten, die sprechen konnten, war das sogar praktisch. Conway hatte inzwischen einen solchen Grad der Erschöpfung erreicht, daß er sich überhaupt nicht mehr müde fühlte. Das metallene Krachen und Getöse einschlagender Raketen war längst zu einem monotonen Hintergrundgeräusch geworden. Er wußte natürlich, daß sich der Raketenhagel stetig durch die Außen- und Innenwände voranfraß, eine tödliche Erosion, die eigentlich bald sämtliche Korridore und Stationen zum All hin öffnen mußte, aber sein Gehirn hatte jegliche Reaktion auf den Lärm längst aufgegeben. Wenn Verwundete eingeliefert wurden, traf er zwar die erforderlichen Maßnahmen, doch waren seine Reaktionen nur noch die bedingten Reflexe eines Arztes. Er hatte viel von seiner Fähigkeit verloren zu denken, zu fühlen oder sich zu erinnern. Und wenn er sich einmal an etwas erinnerte, dann konnte er es zeitlich überhaupt nicht mehr einordnen. Insbesondere der vorletzte ET-Fall, der das Speichern von vier Physiologiebändern erforderlich gemacht hatte, ragte dabei aus der ermüdenden, blutigen, lärmenden Eintönigkeit heraus, genauso die Ankunft der Verwundeten von der Vespasian. Aber Conway hatte keine Ahnung, ob das nun drei Tage oder drei Wochen her war, oder welches der beiden Ereignisse zuerst geschehen war. An den Vorfall mit der Vespasian erinnerte sich Conway oft. Damals mußte er Major Stillman aus seinem lädiertem Anzug herausschneiden und die widerspenstig um das Bett herumschwebenden Fetzen beiseite schieben. Stillman hatte zwei gebrochene Rippen, einen zerschmetterten Oberarmknochen und eine leichte Dekompression, die vorübergehend sein Sehvermögen beeinträchtigte, und er erkundigte sich immer wieder nach dem Captain, bis die Narkose endlich wirkte. Captain Williamson selbst erkundigte sich immer wieder nach seinen Männern. Williamson lag vom Kopf bis zu den Füßen in Gips, hatte jedoch nur sehr geringe Schmerzen und erinnerte sich sofort an Conway. Er hatte eine große Besatzung gehabt und mußte jedes einzelne Besatzungsmitglied mit Namen kennen; Conway waren diese Namen aber nicht bekannt. „Stillman liegt auf Ihrer rechten Seite drei Betten weiter“, hatte er Williamson erzählt. „Und es liegen auch noch andere Besatzungsmitglieder hier, über die ganze Station verteilt.“ Williamsons Augen wanderten über die über ihm hängenden Patienten, denn die Augen waren das einzige, was er bewegen konnte. „Da sind einige dabei, die ich nicht wiedererkenne“, sagte er. Während Conway damals auf die blauen Flecke um Williamsons rechtem Auge, an der Schläfe und Kinnlade blickte, wo das Gesicht gegen die Innenseite des Helms geprallt war, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen und erwiderte: „Einige von denen würden Sie auch nicht wiedererkennen.“ Conway erinnerte sich auch an den Fall mit dem zweiten TRLH. Er war auf einer Druckbahre hereingebracht worden, deren integrierter Atmosphäreaggregat deren Hülle bereits mit dem Gift gefüllt hatte, das der Insasse als Luft bezeichnete. Da sowohl das Druckzelt als auch der Anzug des TRLHs durchsichtig waren, traten die Verletzungen des Patienten deutlich zutage — es handelte sich dabei um eine große, eingedrückte Panzerfraktur, durch die die darunter befindlichen Blutgefäße durchtrennt worden waren. Und weil der Patient offensichtlich verblutete, blieb Conway keine Zeit zum Einspielen der Physiologiebänder, die er für den vorherigen TRLH-Fall noch benutzt hatte. Conway gab durch ein Nicken zu verstehen, die Trage auf der freigeräumten Stelle in der Mitte des Bodens zu befestigen, und wechselte schnell die Anzug- gegen die Tragbahrenhandschuhe. Von den an der Decke angebrachten Betten aus wurde jede einzelne seiner Bewegungen beobachtet. Er lud die Handschuhe statisch auf und drückte die Hände gegen den durchhängenden transparenten Stoff des Druckzelts. Das leichte, aber strapazierfähige Material wurde sofort gummiartig und elastisch, allerdings ohne dabei etwas von seiner Festigkeit zu verlieren. Der Stoff schmiegte sich an die statisch aufgeladenen Handschuhe an, wenn auch vielleicht nicht ganz wie eine zweite Haut, so doch wenigstens wie ein zweites Paar dünner Handschuhe. Mit im Innern der Trage festgeklemmten Instrumenten entfernte Conway den Anzug des Patienten mit äußerster Vorsicht, um den Stoff nicht zu stark zu strapazieren, der die zwei tödlichen Atmosphären voneinander trennte. Bei der Arbeit mit einem elastischen Druckzelt waren durchaus auch komplizierte Operationstechniken möglich — das hatte Conway durch Eingriffe bei mehreren PVSJs und einem QCQL, die nur ein paar Betten weiter lagen, bereits zuvor bewiesen —, aber durch die im Zelt zur Verfügung stehenden Instrumente und Medikamente und die leichte Behinderung durch den Stoff waren seinen Möglichkeiten natürlich klare Grenzen gesetzt. Als er jedenfalls gerade die Panzersplitter aus dem verletzten Bereich entfernen wollte, ließ der Knall eines nahen Raketeneinschlags den Boden erbeben. Ein paar Minuten später läutete die Alarmglocke für Druckabfall, und Murchison und der kelgianische Militärarzt, die zusammen mit Conway das gesamte Personal auf dieser Station darstellten, rannten sofort los, um die Verschlüsse der Druckzelte von denjenigen Patienten zu überprüfen, die dazu selbst nicht in der Lage waren. Zwar handelte es sich nur um einen leichten Druckverlust, wahrscheinlich um ein kleines Leck, das durch zerrissene Außenwandverschalung verursacht worden war, aber für Conways derzeitigen Patienten im Druckzelt konnte das schon tödlich sein. Deshalb arbeitete Conway von da an mit noch größerer Geschwindigkeit als zuvor. Doch während er sich bemühte, die geschädigten Blutgefäße abzuklemmen, hatte sich der dünne, strapazierfähige Stoff des Druckzelts langsam aufgebläht. Dadurch war das Halten der Instrumente immer schwieriger und das exakte Führen praktisch unmöglich geworden, und darüber hinaus wurden Conways Hände auch noch vom Operationsfeld weggedrückt. Der Druckunterschied zwischen dem Innern des Zelts und der Station betrug zwar nur wenige Atmosphären, gerade soviel, daß es in Conways Ohren knackte, doch die Hülle des Druckzelts wölbte sich immer weiter. Er mußte hilflos von der Trage zurücktreten und konnte die Arbeit erst eine halbe Stunde später fortsetzen, nachdem man das Leck abgedichtet hatte und so der normale Druck wiederhergestellt worden war. Doch diese halbe Stunde war einfach zu viel gewesen. Conway erinnerte sich an eine plötzliche Beeinträchtigung des Sehvermögens und an die schlagartige Überraschung, als er sich bewußt wurde, daß er weinte. Natürlich war ihm klar, daß Tränen kein medizinisch bedingter Reflex waren, weil man als Arzt einfach nicht um seine Patienten weinte. Schuld daran war wahrscheinlich eine Kombination aus dem Ärger über den Verlust seines Patienten, den er wirklich nicht hätte verlieren dürfen, und seiner extremen Erschöpfung. Und als er damals in die Gesichter all der Patienten gesehen hatte, von denen er die ganze Zeit beobachtet worden war, hatte er sich seiner Tränen furchtbar geschämt. Jetzt waren die Geschehnisse um ihn herum nur noch als ruckartige, ziellose Bewegungen wahrzunehmen. Conway hatte die Augen geschlossen gehalten, und es verstrichen mehrere Sekunden oder Minuten, bevor er sich dazu aufraffen konnte, sie wieder zu öffnen — obwohl für ihn selbst natürlich überhaupt keine Zeit vergangen war. Die Leichtverwundeten — Patienten mit Verletzungen, die es ihnen ermöglichten, sich innerhalb der Station zu bewegen und im Fall eines Lecks in der Außenwand schnell wieder in ihr Druckzelt zurückzukehren — gingen von Bett zu Bett und verrichteten die kleinen, notwendigen Arbeiten, plauderten mit anderen Patienten, die nicht aufstehen konnten, oder hingen wie unbeholfene Fischschwärme in der Luft, während sie sich miteinander unterhielten. Conway selbst mußte sich ständig um die neu eintreffenden Verwundeten kümmern und war zudem durch die vielen Physiologiebänder im Kopf zu verwirrt, um mit den schon länger anwesenden Patienten ein Gespräch zu führen. Meistens wanderten seine Augen zu den schlafenden Gestalten Murchisons und des Kelgianers hinüber, die nahe des Stationseingangs schwebten. Der Kelgianer stand wie ein großes, pelziges Fragezeichen in der Luft und stieß hin und wieder die tiefen, stöhnenden Laute aus, die einige DBLFs im Schlaf von sich gaben. Murchison war an einer drei Meter langen, sich schlängelnden Sicherheitsleine befestigt und drehte sich langsam. Es war schon seltsam, wie Schlafende in der Schwerelosigkeit die Position eines Fötus einnahmen, dachte Conway zärtlich, während er sein schönes, erwachsenes, weibliches Baby betrachtete, das sich dort am Ende einer unglaublich dünnen Nabelschnur wiegte. Er wollte dringend selbst schlafen, aber er war nun einmal im Dienst, und seine nächste Ablösung würde noch eine Ewigkeit dauern — vielleicht fünf Minuten, vielleicht fünf Stunden — das war in beiden Fällen eine Ewigkeit. Jedenfalls würde er weiterhin irgend etwas tun müssen. Ohne sich dessen bewußt zu sein, hatte er einen Entschluß gefaßt und stellte fest, daß er den Weg zum Lagerraum eingeschlagen hatte, in dem jetzt die Sterbenden und fast hoffnungslosen Fälle untergebracht waren. Dieser Raum war der einzige Ort, an dem er sich die Zeit zu einem Gespräch nahm oder, wenn eine Unterhaltung nicht möglich war, die notwendigen und gleichzeitig unnützen Dinge erledigte, die zur Tröstung eines Sterbenden beitrugen. Bei den ETs konnte er nur unbeteiligt danebenstehen und nur hoffen, daß in den zermalmten, blutigen Körpern der Tralthaner, Melfaner oder von wem auch immer wenigstens ein Bruchteil von Priliclas empathischer Fähigkeit aufblitzte, damit sie ihn als Freund erkannten und sich seiner Gefühle bewußt wurden. Erst nach und nach merkte Conway, daß ihm die Leichtverletzten in den Raum gefolgt waren. Sie zogen andere Patienten hinter sich her, die außerhalb ihrer Druckzelte hier eigentlich gar nichts zu suchen hatten. Sie alle versammelten sich langsam mit grimmigen, entschlossenen und respektvollen Mienen über ihm und um ihn herum. Major Stillman drängte sich ein wenig unbeholfen nach vorne. In einer Hand hielt er eine Pistole. „Das Töten muß aufhören, Doktor“, sagte Stillman leise. „Wir alle haben das genau besprochen, und wir sind alle zu diesem Entschluß gekommen. Das Töten muß auf der Stelle ein Ende finden.“ Plötzlich drehte er die Waffe um und hielt sie Conway hin. „Die werden Sie vielleicht brauchen, um Dermod von irgendwelchen unüberlegten Handlungen abzuhalten, während wir ihm erklären, was passiert ist.“ Dicht hinter Stillman hing die mumifizierte Gestalt von Captain Williamson zusammen mit den Männern in der Luft, die ihn in den Lagerraum gebracht hatten. Sie unterhielten sich mit gedämpften Stimmen und in einer Sprache, die Conway gleichzeitig fremd und vertraut vorkam. Bevor er sie einordnen konnte, setzten sich alle Patienten wieder nach draußen in Bewegung, und jetzt bemerkte Conway erst, wie viele von ihnen bewaffnet waren. Diese Waffen gehörten zu den damals von ihnen getragenen Raumanzügen, und Conway hatte beim Verstauen der Anzüge in den Abstellräumen der Station natürlich nicht an Pistolen gedacht. Dermod würde ihm deshalb sehr böse sein, dachte Conway. Dann folgte er den Patienten aus dem Lagerraum zum Haupteingang der Station und auf den zur Kommandozentrale führenden Korridor hinaus. Stillman redete fast die ganze Zeit und erklärte Conway, wie es zu dieser Situation gekommen war. Als sie die Kommandozentrale schon fast erreicht hatten, fragte er besorgt: „Doktor, Sie halten mich doch nicht für einen. einen Verräter, weil ich das hier tue?“ Conway war von seinen vielen verschiedenen Gefühlen innerlich derart aufgewühlt, daß er nichts anderes als „Nein!“ sagen konnte. 25. Kapitel Conway kam sich lächerlich vor, als er die Pistole auf den Flottenkommandant richtete, aber es schien die einzige Möglichkeit zu sein, diese Sache erfolgreich zu Ende zu bringen. Er hatte die zum Hauptquartier umgewandelte Anmeldezentrale betreten und sich unauffällig durch die rings um die Kontrollpulte stehenden Offiziere hindurchgeschlängelt. Dann hatte er die Pistole auf den Flottenkommandanten gerichtet, während die anderen hinter ihm hereinkamen. Er hatte auch versucht, Dermod die Angelegenheit zu erklären, aber das war ihm nicht besonders gut gelungen. „Sie wollen also, daß ich mich ergebe, Doktor“, sagte Dermod mit matter Stimme. Seine Augen wanderten von Conways Gesicht zu denen der verwundeten Monitore, die immer noch in den Raum hereinströmten. Dermod sah verletzt und enttäuscht aus, als ob einer seiner Freunde etwas äußerst Schändliches getan hätte. Conway versuchte es noch einmal. „Sie sollen sich nicht ergeben, Sir“, sagte er und deutete auf den Mann, der immer noch Williamsons Trage lenkte. „Wir. ich meine, dieser Mann dort drüben braucht einen Kommunikator. Er will einen Waffenstillstand anordnen.“ In seinem Übereifer, die Geschehnisse zu erklären, begann Conway stammelnd bei dem Strom von Verletzten, der nach der Kollision der Vespasian mit dem feindlichen Transporter über das Krankenhaus hereingebrochen war. Das Innere der beiden Schiffe sei das reinste Durcheinander gewesen, und obwohl man gewußt habe, daß sich unter den Verwundeten sowohl Feinde als auch Monitore befunden hatten, hätte man zu ihrer Trennung nie die Zeit oder das Personal gehabt. Später, als die weniger schwer Verwundeten anfingen herumzugehen und mit den anderen Patienten sprachen oder bei deren Pflege halfen, stellte sich heraus, daß fast die Hälfte der Verletzten zur gegnerischen Seite gehörte. Merkwürdigerweise schien das den Patienten nicht viel auszumachen, und das Personal war sowieso viel zu beschäftigt, um das überhaupt zu bemerken. Deshalb fuhren die Patienten mit der Verrichtung der einfacheren, notwendigen und nicht sehr angenehmen Arbeiten füreinander fort — Arbeiten, die auf einer so dramatisch unterbesetzten Station einfach getan werden mußten. Und sie sprachen auch weiterhin miteinander. Denn die verletzten Monitore kamen von der Vespasian, und die Vespasian war schließlich auf Etla gewesen. Das bedeutete, ihre Besatzung besaß unterschiedlich gute Kenntnisse der ethnischen Sprache, und die Etlaner wandten die im gesamten Gebiet des Imperiums gesprochene Sprache an. Es war eine allgemeine Sprache, genauso wie das Universal der Föderation. Die Patienten redeten viel miteinander, und nachdem sich die anfängliche Vorsicht und das Mißtrauen gelegt hatten, fanden die Monitore unter anderem heraus, daß sich auf dem feindlichen Transporter einige sehr hohe Offiziere befunden hatten. Einer der Überlebenden dieser Schiffskollision war der dritte Befehlshaber der rings um das Orbit Hospital aufgezogenen Streitkräfte des Imperiums. „. und in den letzten Tagen sind unter meinen Patienten Friedensgespräche geführt worden“, schloß Conway atemlos. „Es mag sein, daß diese Verhandlungen inoffiziellen Charakter hatten, aber ich glaube, daß Colonel Williamson und der Etlaner Heraltnor doch so ranghohe Offiziere sind, um verbindliche Abmachungen treffen zu können.“ Heraltnor, der feindliche Offizier, sprach kurz und eindringlich auf Etlanisch mit Williamson und richtete dann sanft die in Gips gehüllte Gestalt des Captains auf, bis der Colonel den Flottenkommandanten ansehen konnte. Auch Heraltnor blickte Dermod in banger Erwartung an. „Heraltnor ist kein Dummkopf, Sir“, sagte Williamson unter großen Schmerzen. „Vom Klang des Bombardements und wegen der flüchtigen Blicke, die er auf diese Bildschirme werfen konnte, weiß er, daß unsere Verteidigung am Ende ist. Er sagt, seine Leute könnten jetzt landen, ohne daß wir zu irgendwelchen Gegenmaßnahmen in der Lage wären. Das ist die Wahrheit, Sir, und wir beide wissen das wohl am besten. Heraltnor sagt, es könne sich wahrscheinlich nur noch um Stunden handeln, bis sein Chef den Befehl zur Landung geben würde, aber er will trotzdem nur einen Waffenstillstand, Sir, keine Kapitulation. Heraltnor will nämlich gar nicht den eigenen Sieg“, beendete Williamson seinen Appell mit schwacher Stimme. „Er will lediglich das Ende der Kampfhandlungen. Wie er sagt, hat er hier einige Dinge über uns und diesen Krieg erfahren, die dringend einer Richtigstellung bedürfen.“ „Nun, dann hat er ja eine ganze Menge gesagt“, erwiderte Dermod wütend. Sein Gesichtsausdruck war gequält, so als ob er verzweifelt neue Hoffnung schöpfen wollte, sich aber nicht traute. Er fuhr fort: „Und Ihre Männer haben sicherlich auch sehr viel gesagt, wie? Warum haben Sie mich bloß von alledem nichts wissen lassen.?“ „Es ging ja nicht darum, was wir gesagt haben“, unterbrach ihn Stillman scharf, „sondern darum, was wir getan haben! Die Leute vom Imperium haben uns doch zuerst nicht ein einziges Wort geglaubt. Aber dieses Gebäude hier hatte dann überhaupt nicht der ihnen eingeredeten Erwartung entsprochen, und war in ihren Augen plötzlich viel mehr ein Krankenhaus als eine Folterkammer, doch der Schein hätte ja trügen können. Sie waren eben äußerst mißtrauisch. Aber dann haben sie gesehen, wie sich die terrestrischen und extraterrestrischen Ärzte und Schwestern für die Patienten beinahe totgeschuftet haben, und vor allem haben sie ihn dort gesehen. Das Reden hat überhaupt nichts gebracht, zumindest nicht am Anfang, sondern erst später. Bewirkt haben nur unsere Taten etwas — seine Taten.!“ Conway spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß, und er protestierte: „Aber das gleiche ist doch auf jeder Station im Hospital passiert!“ „Halten Sie den Mund, Doktor“, befahl ihm Stillman mit Respekt, und fuhr dann fort: „Er schien überhaupt keinen Schlaf zu brauchen. Wenn wir erst einmal außer Lebensgefahr waren, hat er zwar kaum noch mit uns gesprochen, aber die Patienten in der Nebenstation hat er nie vergessen, obwohl das die vermeintlich hoffnungslosen Fälle waren. Durch seine Bemühungen stellte sich heraus, daß zwei dieser Patienten keineswegs zu den hoffnungslosen Fällen gehörten, und die hat er dann zu uns auf die Hauptstation gebracht. Außerdem war es ihm vollkommen gleichgültig, zu welcher Seite irgendein Patient gehörte, er hat für den einen genauso hart wie für den anderen geschuftet.“ „Stillman!“ unterbrach ihn Conway in scharfem Ton. „Jetzt dramatisieren Sie die Dinge aber.!“ „. doch selbst jetzt waren sich die Leute vom Imperium noch ein wenig unschlüssig“, fuhr Stillman fort, ohne Conways Protest zu beachten. „Der TRLH-Fall besiegelte schließlich die Angelegenheit. Denn die TRLHs sind ETs, die sich freiwillig zu den feindlichen Truppen gemeldet haben. Die Leute vom Imperium halten im allgemeinen nicht viel von ETs und hatten von uns das gleiche erwartet, erst recht, weil dieser ET auch noch der gegnerischen Seite angehörte. Aber Conway hat sich für den TRLH genauso selbstlos eingesetzt wie für alle anderen Patienten, und als er dann durch diesen Druckabfall nicht weiteroperieren konnte und der ET gestorben ist, da haben alle seine Reaktion darauf gesehen.“ „Stillman!“ schrie Conway wütend dazwischen. Aber Stillman ging nicht ins Detail. Er schwieg und hielt den Blick ängstlich auf Dermod gerichtet. Alle im Raum blickten jetzt gespannt auf den Flottenkommandanten, bis auf Conway, der zu Heraltnor hinüberschaute. Der Offizier des Imperiums wirkte im Moment nicht besonders beeindruckend, dachte Conway. Er sah wie ein ganz gewöhnlicher Mann in mittleren Jahren aus, mit leicht ergrautem Haar, einem ausgeprägten Kinn und Sorgenfalten um die Augen herum. Verglichen mit Dermods adretter grüner Uniform, an der eine recht beeindruckende Menge Rangabzeichen hing, geriet Heraltnor in seinem an DBDG-Patienten ausgegebenen unförmigen weißen Gewand leicht ins Hintertreffen. Während sich das Schweigen hinzog, fragte sich Conway, ob die beiden wohl voreinander salutieren oder lediglich nicken würden. Doch die beiden machten etwas Besseres — sie gaben sich die Hand. Natürlich herrschten anfangs noch eine Zeitlang Argwohn und Mißtrauen. Der Oberbefehlshaber des Imperiums war zunächst davon überzeugt, daß man Heraltnor hypnotisiert hatte, doch als der sich aus Offizieren des Imperiums zusammensetzende Untersuchungstrupp nach dem Waffenstillstand im Orbit Hospital landete, schwand das Mißtrauen schnell. Das einzige, was bei Conway schwand, waren seine Sorgen, daß Stationen zum All hin durch Raketeneinschläge geöffnet werden könnten. Denn ansonsten gab es für ihn und sein Personal immer noch viel zuviel zu tun, und das, obwohl Ingenieure und medizinische Offiziere des Imperiums für den Wiederaufbau des Orbit Hospitals alles taten, was in ihren Kräften stand. Doch während dieser Arbeiten kehrten nach und nach die evakuierten Mitglieder des medizinischen und des Versorgungspersonals zurück, und selbst der Übersetzungscomputer konnte bald den Betrieb wiederaufnehmen. Fünf Wochen und sechs Tage nach Beginn des Waffenstillstands zog sich schließlich die Flotte des Imperiums aus der Umgebung des Orbit Hospitals zurück. Sie ließ ihre Verwundeten zurück, und das aus zwei Gründen — zum einen wurde ihnen im Hospital die bestmögliche Behandlung zuteil, zum anderen standen der Flotte möglicherweise noch weitere Kämpfe bevor. Auf einer der täglichen Lagebesprechungen der Verantwortlichen des Hospitals — die Verantwortlichen bestanden immer noch lediglich aus O’Mara und Conway, da auch mit den letzten Transporten noch kein ihnen übergeordneter Mitarbeiter eingetroffen war — versuchte Dermod, eine höchst verwickelte Situation in äußerst einfachen Worten darzulegen. „. jetzt, wo die Bürger des Imperiums unter anderem auch die Wahrheit über Etla kennen“, erklärte er ernst, „haben der Imperator und seine Regierung praktisch ausgespielt. Doch in einigen Sektoren ist die Situation trotzdem noch sehr verworren, und eine Machtdemonstration des Monitorkorps könnte hier zur Stabilisierung der Lage beitragen. Ich möchte aber, daß es sich dabei lediglich um eine Demonstration von Macht handelt. Aus diesem Grund hab ich auch den Kommandanten des Imperiums dazu überredet, einige von unseren Kontaktspezialisten und Soziologen mitzunehmen. Wir wollen den Imperator zwar absetzen, aber nicht um den Preis eines Bürgerkriegs. Eigentlich wollte Heraltnor gerne auch Sie mitnehmen, Doktor, aber ich hab ihm gesagt, daß wir Sie hier dringend.“ O’Mara, der neben Dermod saß, stöhnte auf. „Nachdem unser junger Wunderdoktor also Hunderte von Leben gerettet und einen galaxisweiten Krieg verhindert hat“, stichelte der Chefpsychologe, „soll er nun also auch noch einen Tyrannen zur Strecke zu bringen und.“ „O’Mara, hören Sie auf, Conway zu piesacken!“ unterbrach ihn Dermod in scharfem Ton. „Das, was Sie da gesagt haben, ist nämlich buchstäblich wahr, wenigstens beinahe. Wenn Conway nicht.“ „Das war nur die Macht der Gewohnheit, Sir“, entgegnete O’Mara versöhnlich. „Als Seelenmasseur halte ich es für meine Pflicht und Schuldigkeit, dafür zu sorgen, daß Conway so was nicht zu Kopf steigt.“ In diesem Augenblick erschien auf dem Hauptbildschirm hinter Dermods Schreibtisch, an dem jetzt wieder ein in der Anmeldezentrale arbeitender Nidianer statt eines Monitors saß, das Bild eines pelzigen Kelgianerkopfs. Anscheinend traf gerade ein großer DBLF-Transporter ein, der außer den Kelgianern auch noch Hospitalmitarbeiter der Klassifikation FGLI und ELNT an Bord hatte, von denen achtzehn Chefärzte waren. Da der kelgianische Pilot an den zerstörten Zustand des Hospitals dachte und nicht vergaß, daß lediglich drei Schleusen funktionsbereit waren, wollte er noch vor der Landung mit dem leitenden Diagnostiker über die Unterbringung und die anstehenden Aufgaben sprechen. „Thornnastor ist noch immer arbeitsunfähig, und es gibt keinen anderen.“, fing Conway an, als O’Mara plötzlich die Arme ausstreckte und seine Hände umfaßte. „Denken Sie daran, sieben Bänder“, sagte er mürrisch. „Jetzt lassen Sie uns bloß nicht streiten, Doktor.“ Conway musterte O’Mara mit einem langen, festen Blick. Es war ein Blick, der tiefer als nur bis zu den groben und mißmutigen Gesichtszügen O’Maras drang und der den sarkastischen und herrischen Tonfall des Chefpsychologen mißachtete. Conway war kein Diagnostiker — was er vor zwei Monaten getan hatte, war ihm durch die Umstände aufgezwungen worden und hatte ihn fast umgebracht. Aber O’Mara hatte ihm eben zu verstehen gegeben, daß sein Aufstieg zum Diagnostiker nur noch eine Frage der Zeit war, und das nicht durch seine mißmutige Miene oder den Klang seiner Stimme, sondern durch das Umfassen der Hände und den Ausdruck in seinen Augen. Vor Freude lief Conway rot an — was Dermod wahrscheinlich für eine Verlegenheitsreaktion auf O’Maras Neckerei hielt —, und er kümmerte sich rasch um die Unterbringung und die künftigen Aufgaben des Personals auf dem kelgianischen Transporter. Dann entschuldigte er sich. Er wollte sich in zehn Minuten mit Murchison im Freizeitbereich treffen, aber dieses Mal hatte sie ihn gebeten. Als Conway die Anmeldezentrale verließ, hörte er O’Mara noch mürrisch sagen: „. und außer der Befriedigung, unzählige Milliarden von Lebewesen vor den Schrecken des Kriegs bewahrt zu haben, möchte ich wetten, daß er obendrein auch noch diese Frau kriegt.“